Hamburg. Senat hält am Präsenzunterricht fest. Kritik daran wird lauter – denn Schüler und Lehrer infizierten sich zuletzt häufiger als andere.
Nein, es ist schon in normalen Zeiten nicht unbedingt eine Traumvorstellung, in der Haut führender Politiker zu stecken – in der Corona-Krise wäre es womöglich ein Albtraum. Denn im Kampf gegen die Pandemie greift die Politik nicht nur tiefer denn je in das tägliche Leben ein – sie muss auch unentwegt Entscheidungen fällen, die sich auf die wirtschaftliche Existenz und im Extremfall sogar auf Leben und Tod von Menschen auswirken. Entsprechend hart wird öffentlich gestritten über das, was Regierungen entscheiden.
Dieser Tage dreht sich die zunehmend aufgeregt geführte Debatte auch in Hamburg immer stärker um die Schulen, die auch im Teil-Lockdown offen bleiben. Sie stehen aus zwei Gründen im Mittelpunkt: Zum einen haben Kinder und Jugendliche auch in schwierigen Zeiten ein Recht auf Bildung und (berufstätige) Eltern ein Recht auf verlässliche Betreuung des Nachwuchses. Gerade für Kinder aus schwierigeren Verhältnissen ist digitale Fernbeschulung keine gleichwertige Alternative, weil sie zu Hause oft weder die technischen Voraussetzungen dafür vorfinden noch eine umfassende Unterstützung.
Coronavirus: Alle Menschen ähnlich anfällig für Infektionen
Zum anderen aber scheint immer deutlicher, dass zumindest Jugendliche kaum weniger anfällig für Corona-Infektionen sind als Erwachsene – und die tückischen Viren auch genauso weitergeben. Virologe Christian Drosten hat gerade wieder unterstrichen: „Wir sehen, was wir auch erwarten, dass alle Menschen gleich sind für dieses Virus, dass das Virus sich überall gleich verbreitet.“ Es gebe nach seiner Auffassung „keine vernünftigen Gründe zu denken, dass Kinder weniger infektiös sind und dass das Infektionsgeschehen in Schulen und Kitas weniger ist als anderswo“, so der bekannteste deutsche Corona-Experte bei einer Talkrunde in Niedersachsen.
Der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts, Lars Schaade, sagte am Dienstag in der Bundespressekonferenz mit Blick auf die Schulen: „Die Schüler, besonders die älteren, sind genauso betroffen wie alle anderen auch. Da wird es zu Infektionen kommen, es gibt auch Ausbrüche. Und man muss entsprechend Maßnahmen treffen, wenn man diese Ausbrüche verhindern will.“ Gleichwohl bleiben die meisten Experten dabei, dass Schulen wohl keine Treiber der Corona-Pandemie seien. Schulsenator Ties Rabe (SPD) geht sogar so weit, Schulen zu sicheren Orten zu erklären – denn da würden zwar viele Menschen zusammenkommen, aber unter besseren Hygienebedingungen als im Privaten.
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Die Infektionszahlen dieser Woche allerdings sprachen eine andere Sprache – was man auch im Senat genau beobachtete. So lag der Anteil der positiv getesteten Schüler und Lehrer an den Neuinfektionen durchweg über ihrem Anteil an der Hamburger Bevölkerung, meist deutlich. Mithin: Schüler und Lehrer waren die ganze Woche über stärker von Infektionen betroffen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Das spricht nicht dafür, dass in Schulen weniger Viren unterwegs sind als andernorts – im Gegenteil. Am Montag entfielen sogar fast 26 Prozent aller Neuinfektionen auf Schüler und Lehrer – obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung lediglich gut 15 Prozent beträgt.
Schule bleibt tägliche Massenveranstaltung
Dabei bleibt Schule mit laut Behörde derzeit 256.000 Schülerinnen und Schülern und 34.400 Schulbeschäftigten eine tägliche Massenveranstaltung – und zwar nicht nur in den Schulen selbst. Denn die mehr als 290.000 Menschen müssen sich ja auch jeden Tag durch die Stadt bewegen, oft in (bisweilen recht vollen) Bussen oder Bahnen.
Bisher hat die Schulbehörde stets behauptet, es gebe kaum Ansteckungen an den Schulen selbst – nur in rund zehn Prozent der Fälle gehe man davon aus, der Rest der Infektionen werde von außen eingeschleppt. Dem halten kritische Eltern entgegen, dass man das gar nicht genau wissen könne – da laut Gesundheitsämtern zuletzt nur noch 20 Prozent der Infektionsquellen identifiziert werden konnten.
Sorge von Eltern um ihre Kinder wächst
Auch würden oftmals nicht alle Mitschüler eines Infizierten getestet, und Jugendliche seien oft asymptomatisch. So wachsen bei den im Laufe der Woche auf immer neue Höhen steigenden Zahlen auch die Sorgen von Eltern um ihre Kinder und die Angst, das Virus könnte aus den Schulen in die Familien getragen werden. Daher wird auch die Kritik am Senat schärfer.
„Der Schulsenator hat als Krisenmanager versagt“, befand etwa Heiko Habbe von der „Elterninitiative Sichere Bildung für Hamburg“. Rabe habe immer nur sein Mantra wiederholt, Schulen seien „sichere Orte“ – anstatt einen „funktionierenden Hybridunterricht“ vorzubereiten, so Habbe. Beim Hybridunterricht wird die Hälfte der Schüler zu Hause über das Internet beschult und die andere Hälfte in den Schulen. So werden Gruppen verkleinert und weniger Schüler müssen durch die Stadt fahren, was Kontakte reduziert.
Allerdings erzeugt eine Doppelbeschulung viel Aufwand. Rabes Behauptung, Schulen seien sichere Orte, habe sich jedenfalls als falsch erwiesen, so Habbe. Das Virus habe sich unter dem Lehrpersonal „weit stärker ausgebreitet als in der übrigen Bevölkerung, und auch Schülerinnen und Schüler sind mindestens gleich betroffen“.
GEW fordert Verkleinerung der Klassen
Auch die Lehrergewerkschaft GEW forderte in dieser Woche erneut eine Verkleinerung der Klassen. Rabe lasse für Schüler und Lehrer die Regel außer Acht, „sich möglichst wenig physisch zu treffen und einen Mindestabstand von 1,50 Meter einzuhalten“ und ignoriere damit die RKI-Empfehlung, monierte GEW-Chefin Anja Bensinger-Stolze. Auch Elternkammer-Chef Marc Keynejad plädierte dafür, „dass die Situation vor Ort in den Schulen entzerrt wird“.
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CDU, Linke und FDP attackierten Rabe in dieser Woche hart. Sie warfen ihm ein „Spiel mit dem Feuer“ und mangelnde Vorbereitung der Schulpolitik auf die erwartbaren Probleme vor – und kritisierten, dass er seinen Stufenplan aus dem August nicht umsetze. Darin hatte Rabe die Teilung der Klassen ab einer Inzidenz von 50 angekündigt. Davon will er aber nun selbst bei mehr als 150 nichts mehr wissen – und beruft sich auf die Beschlüsse der Kultusminister und die der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin, die Schulen offen zu halten.
Nicht jeder Lehrer mutiert über Nacht zum YouTuber
Dabei sieht sich Rabe auch als Sachwalter derjenigen, die in der öffentlichen Debatte kaum eine Stimme hätten – der ganz normalen Familien. Deren Kinder bräuchten den Präsenzunterricht für ihre soziale und schulische Entwicklung. Und die Eltern könnten ohne die Betreuung ihren Berufen nicht nachgehen. So nachvollziehbar man das finden kann: In der Praxis funktioniert es schon jetzt nur noch bedingt – weil das Virus dazwischenfunkt. An manchen Schulen sind Dutzende Lehrer in Quarantäne, immer mehr Unterricht fällt aus, oft müssen ganze Schüler-Jahrgänge zu Hause bleiben – wo sie dann oft nur teilweise oder gar nicht richtig beschult werden. „Wäre ein geregelter Hybridunterricht da nicht besser als überall wachsendes Chaos?“, fragen denn auch die Rabe-Kritiker.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum, und halten Sie mindestens 1,50 Meter Abstand zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an Ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden
Den Vorwurf, man habe die Zeit seit Februar nicht genutzt, um Konzepte für eine halbwegs pandemiesichere Schule zu erarbeiten, müssen sich dieser Tage wohl alle Bildungsminister anhören. So richtig diese Kritik ist, man muss auch bedenken, dass Schule ein riesiges System ist – und entsprechend schwerfällig. Es dürfte kaum möglich sein, alle Lehrer per Ordre de Rabe von heute auf morgen in begeisterte YouTuber zu verwandeln – mal unabhängig davon, dass es auch um Aspekte des Datenschutzes geht und der Schulsenator selbst wohl nicht der größte Digitalguru der Stadt ist. Zudem wäre es unrealistisch, vom Megasystem Schule zu verlangen, was selbst kleinere Einheiten nur schleppend hinbekommen: eine schnelle und effiziente Digitalisierung.
Corona-Daten werden zum Teil per Fax übermittelt
Denn die Corona-Krise hat gezeigt, dass Deutschland bei diesem Thema insgesamt nur höchst mittelmäßig aufgestellt war. So werden Corona-Daten zwischen Laboren, Ämtern und RKI zum Teil bis heute per Fax übermittelt – man möchte lieber nicht wissen, ob da auch noch reitende Boten eingesetzt werden. Zwar wird die Digitalisierung durch das Virus wohl auch in Schulen einen Schub erleben – in diesem schwierigen Winter aber wird sie die Probleme von Schulen und Schulpolitik noch nicht lösen können.
Verantwortliche Politiker wie Rabe werden also weiterhin weitreichende Entscheidungen fällen und abwägen müssen zwischen Bildungsanspruch, Generationengerechtigkeit und Wirtschaft auf der einen – und Gesundheit und Leben vieler Menschen auf der anderen Seite. Ja, Offenheit für gute Beratung und kluge Entscheidungen möchte man ihnen wünschen. Und nein: Tauschen möchte man mit ihnen lieber nicht.