Hamburg. Was bringt Lüften? Sollten Kinder im Unterricht Masken tragen? Stefan Renz beantwortet wichtige Fragen zum Start nach den Ferien.

Was kommt auf Schüler, Eltern und Lehrer nach den Herbstferien zu? Dr. Stefan Renz, der Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Hamburg, gibt im Abendblatt eine Einschätzung. Er sorgt sich vor allem um eine Gruppe.

Was sagen Sie zu den steigenden Infektionszahlen?

Dr. Stefan Renz: Ich beobachte die Entwicklung mit großer Besorgnis. Wir sind bei einem exponentiellen Wachstum angelangt. Was wir jetzt sehen, ist vermutlich nur die Spitze des Eisberges. Deshalb warne ich vor einem gelassenen Umgang mit der Pandemie. Lässig zu sein finde ich bei einer Pandemie wirklich gefährlich. Wir sollten alle im Moment höchst wachsam sein, wie ein Jäger auf dem Hochsitz.

Wie hat sich die Zahl der Corona-Patienten bei Hamburgs Kinderärzten in den vergangenen Wochen entwickelt?

In den Kinderarztpraxen der Stadt ist es verhältnismäßig ruhig. Wir machen alle PCR-Tests bei unseren Patienten, wenn es indiziert ist, einzelne Praxen haben auch hier und da einen Fall. Aber das sind bisher zum Glück Einzelfälle.

Visiere haben keinen Effekt auf die Verbreitung der Aerosole

Kann man sagen, welche Rolle Kinder für den Verlauf der Pandemie spielen?

Kinder sind bei dieser Krankheit nach wie vor die Chamäleons. Wir wissen zu wenig darüber, welche Rolle sie spielen. Man kann bisher nur mit Sicherheit sagen, dass Kinder Corona bekommen und auch weiter geben können, in der Regel aber nicht schwer erkranken. Nach aktuellem Stand der Forschung sind sie allerdings nicht die Treiber der Pandemie, das sind die Erwachsenen.

In den Schulen soll jetzt alle 20 Minuten gelüftet werden. Was halten Sie davon?

Das ist eine sinnvolle Maßnahme, die zumindest das Risiko einer Ansteckung vermindern kann. Man muss in diesem Herbst alles dafür tun, um Ansteckungen zu verhindern. Dazu gehört für mich auch das Tragen von vernünftigen Masken bei Lehrern, was Pflicht sein sollte. Visiere sind Quatsch, sie haben leider keinen Effekt auf die Verbreitung der Aerosole. Außerdem würde ich noch Plexiglasscheiben vor den Lehrerpulten empfehlen, wie es sie schon an Supermarktkassen gibt. Damit wäre der Lehrer etwas besser geschützt und er könnte weniger Kinder anstecken, sollte er erkrankt sein. Klar ist: Die Lehrer sind gefährdeter als die Kinder. Deshalb müsste es auch dringend gute Hygienekonzepte für die Lehrerzimmer geben, das sind die gefährlichsten Orte einer Schule.

Tragen von Masken im Unterricht ab der 5. Klasse

Eltern befürchten, dass sich ihre Kinder durch das ständige Lüften erst recht erkälten. Was ist Ihre Meinung dazu?

Es ist ja bekannt, dass Kälte nichts mit Erkältung zu tun hat. Um sich zu erkälten, braucht es einen Infekt, das kommt nicht allein vom offenen Fenster. Wir sehen schon seit Jahren, dass beispielsweise Kinder aus Waldkindergärten, die oft den ganzen Winter draußen sind, signifikant weniger Atemwegsinfekte haben als Kinder in normalen Kindergärten.

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  • Was halten Sie von einer Maskenpflicht im Unterricht?

    Ab der 5. Klasse erachte ich das Tragen von Masken im Unterricht als sinnvoll. Das ist für die größeren Kinder wirklich machbar und zumutbar. Bevor Schulschließungen wieder im Raum stehen, ist das Tragen von Masken einfach ein nahe liegender und sinnvoller Schritt. Bei den Grundschulkindern geht es allerdings nicht, weil man von denen die richtige Handhabung nicht erwarten kann. Eine Maske macht nur Sinn, wenn man sie richtig auf- und absetzt.

    Von Jugendlichen geht eine größere Gefahr aus als von Kleinkindern

    Wie zufrieden sind Sie mit den bisher an Hamburgs Schulen üblichen Quarantäneregeln, wenn es zu einer Infektion kommt?

    Nach den Sommerferien gab es einen langen Vorgabenkatalog der Schulbehörde, den jede Schule auf ihre Weise umgesetzt hat. Der kam erstens viel zu spät, war zu kompliziert und hat leider zu einer Menge Chaos und Missverständnissen geführt. Mittlerweile kümmert sich die Gesundheitsbehörde um diese Vorgaben und es läuft nach meinem Empfinden besser. So langsam hat sich ein einigermaßen einheitliches Vorgehen herauskristallisiert.

    Wer ist in Sachen Ansteckung für wen gefährlicher, die Lehrer für die Schüler oder die Schüler für die Lehrer?

    Im Allgemeinen ist das Risiko größer, dass ein Erwachsener das Virus in die Schule einschleppt. Mit zunehmendem Alter steigt aber auch hier das Risiko bei den Kindern. Von Jugendlichen geht also eine größere Gefahr aus als von Kleinkindern. Zumal die Jugendlichen jetzt nach einem guten halben Jahr wissen, dass für sie das Virus nicht so gefährlich ist und entsprechend locker die Lage sehen. Das ist gefährlich für den gesamten Verlauf.

    Wer einen Infekt hat, sollte erst einmal zu Hause bleiben

    Es wird in den kommenden Wochen für viele Eltern nicht leicht sein zwischen einem Schnupfen, einem grippalen Infekt, einer Grippe oder eben Corona zu unterscheiden. Bei welchen Symptomen sollten Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen?

    Im Grunde genommen kann im Moment jeder Schnupfen, jede Atemwegserkrankung eine Infektion mit Corona sein. Dennoch plädiere ich bei dem klassischen Schnupfen dafür, dass die Kinder weiter in die Schule gehen sollten. Auch in den höheren Klassen. Deshalb ärgert mich die Regelung, dass in den weiterführenden Schulen Kinder mit einem Schnupfen zu Hause bleiben müssen. Es geht in den meisten Fällen ja darum, in welchem Zusammenhang dieser Schnupfen steht. Wenn der Junge oder das Mädchen mit Schnupfen zu Hause zwei Eltern mit einer Corona-Infektion liegen hat, dann ist natürlich klar, was los ist.

    Wenn das Kind aber keinerlei Kontakte zu irgendwelchen potenziellen Überträgern hatte, sollte es weiter in die Schule gehen dürfen. Diese Zusammenhänge werden der Schlüssel zum Erfolg sein. Klar ist bisher nur, dass der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinnes ein untrügliches Zeichen für eine Infektion mit dem Virus ist. Ansonsten gelten die Regeln, die es auch vor Corona gab. Mit Fieber gehört kein Kind in die Schule. Auch nicht mit einem heftigen Husten oder einem akuten Magen-Darm-Infekt.

    Muss jedes Mal auch auf Corona getestet werden?

    Wir halten einen Test bei jedem Infekt für überflüssig. Wer einen Infekt hat, sollte erst einmal zu Hause bleiben, das reicht. Getestet werden sollte gezielt, wenn Kontakt zu einem Infizierten bestand, oder wenn Risikopatienten im Haushalt leben. Andernfalls werden wertvolle Kapazitäten beansprucht. Die Entscheidung, ob ein Test Sinn macht oder nicht, sollte bei den Kinderärzten liegen. Dass Eltern wissen wollen, ob es Corona sein kann, ist kein Grund für einen Abstrich. Das Robert-Koch-Institut hat errechnet, dass wir in der Woche 900.000 bis 1,5 Millionen Tests bräuchten, um bei all diesen Kindern zwischen null und zehn Jahren einen Abstrich zu machen.

    Kinderärzte empfehlen eine Grippeimpfung auch bei Kindern

    Wie sind Hamburgs Kinderärzte auf die kommenden Wochen vorbereitet?

    Die Kinderärzte hatten ein halbes Jahr Zeit, sich auf den Herbst vorzubereiten – und sie haben diese Zeit genutzt. So bieten die meisten Praxen mittlerweile sogenannte Infektsprechstunden an, zu denen die Kinder einbestellt werden, die einen akuten Infekt haben. Dadurch können die Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen problemlos weiter laufen, das ist sehr wichtig. Jetzt muss geschaut werden, wie lang diese Balance beibehalten werden kann. Sollten irgendwann diese Infektsprechstunden überlaufen, sollten die Ärzte an ihre Grenzen stoßen, muss die nächste Stufe gezündet werden. Dazu gibt es im Hintergrund derzeit bereits verschiedene Ideen. Die Kassenärztliche Vereinigung hat uns ihre Unterstützung zugesagt. Das könnten dann reine Infektpraxen sein. Oder eine große Ambulanz in einer hallenähnlichen Umgebung. Insgesamt fahren wir gerade auf Sicht, anders geht das nicht. Aber wir haben die berechtigte Hoffnung, dass das Virus bei den Kindern nicht so stark durchschlägt wie bei Erwachsenen. Außerdem sieht es so aus, dass durch die allgemein gültigen Hygieneregeln andere Infekte in diesem Herbst und Winter weniger auftreten. Das könnte uns dann auch entlasten.

    Sollten Kinder in diesem Jahr auch gegen Grippe geimpft werden?

    Wir Kinderärzte empfehlen eine Grippeimpfung auch bei Kindern. Wir impfen zuerst die chronisch kranken Kinder durch und geben danach die restlichen Impfdosen an die Kinder ab, die Interesse angemeldet haben.

    Es fehlt vielfach der regelmäßige Sport

    Wie sehen die neusten Erkenntnisse zum Kontakt der Kinder zu Großeltern aus? Und was bedeutet das für Weihnachten?

    Zu diesem Thema kann man nur schwer allgemein etwas sagen. Es hängt viel davon ab, wo die Kinder leben. In Berlin-Mitte würde ich derzeit Eltern davon abraten, die Großeltern zu besuchen. Wenn man auf dem Land lebt, wo es wenige Fälle gibt, sieht das anders aus. Dazu kommt die gesundheitliche Verfassung von Oma und Opa. Und zu Weihnachten kann man zu diesem Zeitpunkt einfach noch nichts sagen, weil wir überhaupt nicht wissen, wie sich die Pandemie bis dahin entwickelt.

    Welche Kollateralschäden der Corona-Pandemie sehen Kinderärzte in ihren Praxen?

    Zum einen hat das Homeschooling die Bildungsschere noch weiter aufgemacht. Aber das ist ja schon häufig diskutiert worden. In einer Familie, in der das einzige internetfähige Gerät das Handy des Vaters ist, kann das Kind schwer am hybriden Unterricht teilnehmen. Entsprechend große Lerndefizite erleben wir in der Praxis bei bildungsfernen Schichten. Wir haben aber durch einen akuten Bewegungsmangel in genau diesen Schichten, vermehrt Kinder mit einem Gewichtsproblem in den Praxen. Allein in den vergangenen Wochen hatte ich mehrere Kinder mit einem Body-Mass-Index von 30 bis 35, beispielsweise einen sechsjährigen Jungen, der 51 Kilo wog. Es fehlt vielfach der regelmäßige Sport. Auch der Medienkonsum ist dramatisch gestiegen. Kinder können einfach nicht selbstständig damit richtig umgehen. Wir hören auch von der Zunahme von Anorexie bei Mädchen. Und Zwangsstörungen gibt es mehr. Also Kinder, die ganz bestimmte Dinge einfach nicht mehr machen wollen. Nicht aus dem Haus gehen, wenn sie eine bestimmte Hose nicht anziehen können. Auch Gewalt in den Familien ist sicher ein schwieriges Thema. Das sieht man im Allgemeinen allerdings erst später, bzw. diese Fälle landen oft gar nicht erst bei uns. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass eine zweite Schulschließung um jeden Preis verhindert wird.