Hamburg. Zum Tag der Wohnungslosen erzählt Chris, wie er auf der Straße gelandet ist und den Sprung in die eigene Wohnung geschafft hat.

Zwei Dutzend Augenpaare sind auf Chris (48) gerichtet. Die Gruppe wartet darauf, dass der Stadtführer von „Hinz&Kunzt“ sie zu den Treffpunkten der Hamburger Wohnungslosen führt, ihnen vom Leben auf der Straße und den Folgen der Corona-Misere erzählt. Doch Chris hat es nicht eilig.

Gemächlich legt er einige Ausgaben des Straßenmagazins auf die halbhohe Backsteinmauer hinter ihm. Einen Aschenbecher stellt er daneben. Dann kramt er eine Tüte mit Tabak aus seiner Jackentasche und dreht sich eine Zigarette. Als er den ersten Zug inhaliert hat, sagt er: „Ihr könnt mich jetzt alles fragen – außer über mein Sexleben.“ Er lacht. Und mit ihm die Gruppe. Zum heutigen Tag der Wohnungslosen möchte Chris nicht nur den Teilnehmern der Stadttour, sondern auch Abendblatt-Lesern vom Leben auf der Straße erzählen. Seinen Nachnamen behält er für sich.

Von Lügen und Scham: Wie Chris sein Obdach verloren hat

Sein Leben ist nie wirklich gerade verlaufen. Er nimmt sich Pausen beim Sprechen, vieles in seiner Erinnerung ist neblig. Chris sagt, als er eineinhalb Jahre alt war, nahm das Jugendamt seinen Eltern das Sorgerecht weg. Er kam in ein Heim. Wie er es erzählt, schlug man ihn dort regelmäßig. Sperrte ihn manchmal wochenlang in ein schwarz angestrichenes Zimmer ohne Fenster. Mit 15 Jahren startete er eine Ausbildung zum Dachdecker, um vom Heim loszukommen. Doch die theoretische Prüfung trat er nie an. Die Angst vor den Aufgaben und dem Versagen in der Klausur sei zu groß gewesen.

Mit 18 Jahren zog er von seinem Ersparten in eine Pension, lebte dann aber bald bei seinen Freunden. Vorläufig war ihm ein Obdach sicher, doch gemeldet war er dort nicht – und deshalb wohnungslos. „Meinen Freunden habe ich gesagt, ich hätte eine Wohnung in Aussicht. Das war eine Lüge. Das Lügengerüst stürzte nach einer Weile über mir ein, und ich bin aus Scham weggegangen“, sagt Chris.

Ruhrpott, Stuttgart, St. Pauli: Eine Reise mit Filmriss

Sieben Jahre lang habe er dann im Ruhrpott auf der Straße gelebt. Anfangs hielt er sich mit tageweiser Arbeit als Dachdecker, Gerüstbauer und Malerhelfer über Wasser. „Dann habe ich am Tag drei Flaschen Wodka gesoffen, war Vollalkoholiker und konnte nicht mehr arbeiten. Ich habe mir das Leben auf der Straße schöngesoffen.“ Weil ihm der Weg zum Amt zu anstrengend war, ging er betteln und fuhr dabei mit der Regionalbahn täglich je eine Station weiter – bis er für kurze Zeit in Stuttgart war.

Eines Tages sah er ein Auto mit Hamburger Kennzeichen. Dann noch eins. Und noch eins. Er erblickte ein Schild mit der Aufschrift „St. Pauli“. Chris dachte, er würde träumen. „Ich habe befürchtet, dass ich im Suff Spiritus getrunken habe.“ Nur langsam dämmerte ihm, wo er war. „Mir fehlt die Erinnerung an vier Tage meines Lebens. Ich weiß nicht, wie ich nach Hamburg gekommen bin.“

Er weiß nur, dass es ein Glücksfall war. An der U-Bahn-Station St. Pauli lernte er einen „Hinz&Kunzt“-Verkäufer kennen. Nach zwei, drei Wochen war er nüchtern genug, um mehr über das Straßenmagazin zu erfahren – und das Hilfssystem dahinter zu verstehen. Sein Entschluss stand fest: Er wollte Magazine verkaufen und registrierte sich im Büro. Dieser Tag ist Chris' in Erinnerung geblieben: Mittwoch, der 4. Oktober 1995.

Nüchtern durch den Verkauf des Straßenmagazins

Seitdem verkauft Chris die Magazine zum Festpreis von 2,20 Euro, die er selbst im Büro des Magazins für je 1,10 Euro kaufen kann. Mit diesem Geld finanziert sich „Hinz&Kunzt“ zu rund einem Drittel. Zwei Drittel stammen aus Spenden; öffentliche Zuschüsse gibt es nicht. Das Geld nutzt die gemeinnützige Organisation für Sozialarbeiter, Waschgelegenheiten, Krankenhausbesuche und den Druck der Magazine.

Der Verkauf strukturierte Chris’ Alltag und half ihm, nüchtern zu werden. „Je mehr ich verkauft habe, desto weniger griff ich zur Flasche, und eines Tages habe ich keinen Wodka mehr angerührt“, sagt Chris. Doch der Suchtdruck nach hartem Alkohol holte ihn wieder ein, weshalb er nach Itzehoe flüchtete. Dort suchte er sich für den Magazinverkauf einen neuen Stammplatz: direkt vor einer Bäckerei, wo sich sein Leben einmal mehr änderte.

„Morgens habe ich mir in der Bäckerei immer einen Kaffee gekauft und dachte dann, ich hätte Bauchschmerzen. Dabei hatte ich Schmetterlinge im Bauch und war in die Verkäuferin verliebt“, sagt Chris heute. Ihre Anwesenheit beflügelte ihn zur Wohnungssuche – und im Jahr 1996 schaffte er den Sprung von der Straße in die eigenen vier Wände. Die Verkäuferin Ute sah auf Chris’ Wunsch mehrmals in der Woche nach dem Rechten. Eines Abends öffnete sie die Tür und erblickte je 99 Gasluftballons, Kerzen und Rosen. „Meine Wohnung sah aus wie ein Puff“, sagt Chris rückblickend. Er und Ute waren noch am gleichen Abend ein Paar.

Nur war auch dieses Glück nicht von Dauer. Zehn Jahre später starb Ute in Chris’ Armen an Krebs. Er bekam Depressionen, „Hinz&Kunzt“ bot ihm eine Unterkunft für Wohnungslose im Hamburger Stadtteil Wartenau an.

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Wenige Jahre später bezog Chris eine eigene Wohnung: Seit 2011 lebt er in Wandsbek-Gartenstadt. Das Straßenmagazin bürgt für ihn, denn Chris hat sich bewiesen. Im Oktober feiert der 48-Jährige neben seinem Geburtstag gleich zwei Jubiläen bei „Hinz&Kunzt“: 25 Jahre Magazinverkauf und fünf Jahre Stadttouren. „Die Arbeit macht tierischen Spaß. Ich will nichts anderes mehr machen.“

Wegen Corona: Hamburgs Obdachlose verlieren Halt

Birgit Müller ist Chefredakteurin des Straßenmagazins.
Birgit Müller ist Chefredakteurin des Straßenmagazins. © Hernandez

Vor Corona gab er 400 Touren im Jahr. Doch das Virus hat sein Leben umgekrempelt. „Ich bin seit Mai in Kurzarbeit. Die Stadttouren sind mir zwei Monate lang komplett weggebrochen, und auch jetzt kommen nur allmählich mehr Termine zustande“, sagt Chris. Der Magazinverkauf sei anfangs auch ausgesetzt worden – für die Verkäufer ein Desaster. Umso dringender richtet Chris eine Bitte an alle Hamburger: „Ich bitte jeden, der es sich leisten kann, monatlich ein ,Hinz&Kunzt‘-Magazin zu kaufen.“

Der Organisation zufolge ist „Hinz& Kunzt“ „Deutschlands größtes Straßenmagazin“. Mehr als 500 Verkäufer bieten es in Hamburg sowie teils in Niedersachsen und Schleswig-Holstein an. Auch die Teilnehmer seiner Stadttour greifen zu. Dann taucht er mit ihnen ein in die Welt der Menschen, die auch ohne feste Wohnung ein Teil der Stadt sind.

„Hinz&Kunzt“ Stadtrundgang, 10 Euro p. P., 5 Euro ermäßigt, Anmeldung unter www.hinzundkunzt.de/stadtrundgang