Hamburg. Corona macht das Leben auf der Straße noch härter. Hilfsorganisationen und großzügige Spender können Betroffene nur teilweise auffangen.
Aus den Boxen der Imbissbude im Schatten des Altonaer Bahnhofs dröhnt der 70er-Jahre-Hit „Sieben Tage lang“ der niederländischen Folkrock-Band Bots: „Wir halten zusammen, keiner kämpft allein. Wir gehen zusammen, nicht allein.“ Der passende Refrain für den Abendblatt-Termin mit Carsten (48) und Tomasz (37). Zusammenhalt, darum geht es bei Obdachlosigkeit, gerade in diesen Zeiten.
Wer kein Dach über dem Kopf hat, gehörte schon immer zu den Verlierern. Hilfsorganisationen schätzen, dass 5000 Menschen in der Hansestadt auf der Straße leben. Ein Netzwerk aus professionellen und ehrenamtlichen Helfern versucht, die Not zu lindern – mit Essen, mit Kleidung, mit Duschen, mit medizinischer Versorgung, mit Sozialarbeit. Das Netz hat große Maschen, aber es kann den totalen Absturz verhindern. Doch eine Pandemie zerreißt es.
Tomasz erinnert sich genau an den Tag des Shutdowns im März: „Plötzlich waren fast alle unsere Einrichtungen geschlossen. Selbst der Mitternachtsbus kam nicht mehr.“ Während in den Supermärkten die Schlacht um Klopapier und Hefe anlief, begann auf der Straße der Kampf ums Überleben.
Obdachlose können sich besonders leicht mit Corona infizieren
Nun wäre es absurd, ausgerechnet denen, die sich seit Jahren um die Menschen am Rande der Gesellschaft kümmern, irgendeinen Vorwurf zu machen. Obdachlose können sich durch ihre katastrophalen hygienischen Lebensbedingungen besonders leicht infizieren, zudem müssen sie durch Vorerkrankungen und häufig exzessiven Nikotin- und Alkoholkonsum mit schweren Verläufen rechnen. Das macht jede Hilfe vor Ort zu einem Risiko – auch für die Helfer selbst.
Carsten und Tomasz brach zudem binnen weniger Tage die Haupterwerbsquelle der Szene weg: Das Sammeln von Pfandflaschen. „Auf den Straßen war kaum noch etwas los“, sagt Carsten. Und die wenigen Passanten, die noch unterwegs waren, eilten in der Regel achtlos an den auf der Straße campierenden Menschen vorbei.
Zudem hatten Carsten und Tomasz wie alle Wohnungslosen kaum noch eine Chance zu duschen. „Ich konnte mich zwei Wochen nicht richtig waschen, ich habe so gestunken“, sagt Carsten. Doch dann hatten die beiden Glück – dank des Engagements der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH. Das Traditionsunternehmen spendete 300.000 Euro, um 250 Obdachlose zumindest vier Wochen in Hotels einquartieren zu können (das Abendblatt berichtete).
Die Zeit im Paradies ist endlich
Carsten und Tomasz wohnen nun im Motel 21 in Hamm. Einzelzimmer mit Dusche und Klo – ein absoluter Luxus. „Ich habe lange gebraucht, um mich an ein richtiges Bett zu gewöhnen“, sagt Tomasz. Am Anfang habe er nur sehr unruhig geschlafen: „Als Obdachloser wachst du bei jedem Geräusch auf, du kannst dich nie sicher fühlen.“ Carsten nickt: „Mir wurden nachts unter der Kennedybrücke Handy und Geldbörse geklaut, zum Glück hatte ich meine Schuhe im Schlafsack.“
Doch die Zeit im Paradies ist endlich. Zwar verlängerten beteiligte Hotels den Aufenthalt bis zum 20. Mai. Doch wenn die Coronabeschränkungen gelockert werden, werden alle Hotels wieder um zahlungskräftige Gäste kämpfen.
Dass Carsten und Tomasz trotz ihrer höchst unsicheren Zukunft nicht verzweifelt wirken, liegt an ihren Begleitern, die mit vorgeschriebenem Sicherheitsabstand an dem Termin teilnehmen: Jule Wennmacher und Sascha Hagenah. Das Duo kümmert sich seit Jahren um Obdachlose, inzwischen für den gemeinnützigen Verein „Schau nicht weg“. „Jule und Sascha sind unsere Engel“, sagt Carsten gerührt.
Die Helfer versorgen jede Woche rund 300 Obdachlose
Mit Helfern versorgen Wennmacher und Hagenah jede Woche rund 300 Obdachlose am Hauptbahnhof. Vergangenen Sonnabend gab es gleich drei Gerichte zur Auswahl: Frikadellen mit Kartoffelpüree, Pellkartoffeln mit Kräuterquark und Gemüseeintopf. Zudem schenkte der Verein wieder 22 Liter Kaffee aus und verteilte Lunch-Pakete mit Brötchen, Joghurt und Kaltgetränken. Stets unter den Klienten: Carsten und Tomasz.
Zu Beginn der Coronakrise wurde der Kontakt enger. „Sie zählen inzwischen zu unserem Helferteam“, sagt Jule Wennmacher, einst Geschäftsführerin der Deutschland-Zentrale eines internationalen Unternehmens für Außenwerbung. Carsten und Tomasz packen etwa bei der Essensverteilung mit an. „Dadurch hat ihr Leben wieder Struktur“, sagt Jule Wennmacher.
Sie ist erschüttert über die Lage der Obdachlosen in Coronazeiten: „Durch fehlende Pfandeinnahmen und Geldspenden wird die Anspannung auf der Straße immer größer. Die Aggressionen nehmen spürbar zu.“ Die inzwischen eingerichtete Duschmöglichkeit für Obdachlose im Hallenbad St. Pauli reiche nicht aus. Einer ihrer Klienten habe neulich stundenlang gewartet: „Als er endlich an der Reihe gewesen war, machte das Bad zu.“ Die Maskenpflicht sorgt nun seit einigen Tagen für ein weiteres Problem: Ohne Maske kein Supermarktbesuch, ohne Supermarktbesuch keine Chance auf das Einlösen des wenigen Pfandguts.
Obdachlose scharen sich um einen Bus für eine Mahlzeit
Die Härte im Kampf auf der Straße zeigt sich auch an diesem Mittag, als am Bahnhof Altona eine andere Initiative mit einem Transporter vorfährt, um Essen auszugeben. Sofort scharen sich die Obdachlosen um den Bus in der Hoffnung auf eine warme Mahlzeit. Polizisten kommen dazu, bitten die Menschen in der Schlange, die Mindestabstände einzuhalten. Ein schwieriges Unterfangen – wer so weit unten ist, fürchtet Hunger und Durst mehr als das Virus.
„Ich würde jede Arbeit annehmen“, sagt Carsten. Ein schwerer Unfall, sagt er, habe ihn aus der Bahn geworfen. Sein Sehvermögen habe durch die Kopfverletzungen so sehr gelitten, dass er nicht mehr als Lokomotivführer habe arbeiten dürfen. Seine Ehe zerbrach, durch seine Probleme im Umgang mit Alkohol rutschte er immer weiter ab.
Sein Freund Tomasz studierte in Polen, der Versuch, sich in Deutschland mit einer Gebäudereiniger-Firma zu etablieren, endete mit einer Pleite. Auch seine Beziehung scheiterte, vergangenes Jahr verlor er seine Wohnung.
15 weitere Zimmer
- Für weitere Obdachlose gibt es nun Hoffnung auf eine vorübergehende Unterbringung in einem Hotel. Das CaFée mit Herz auf St. Pauli, das trotz der Pandemie weiter Frühstück, warmes Mittagessen, Sozialberatung, Postausgabe und ärztliche Versorgung anbietet, hat dank Spenden für zunächst vier Wochen 15 Zimmer angemietet. „Um die höchstansteckende Verbreitung der Pandemie eindämmen zu können, brauchen obdachlose Menschen einen geschützten Raum, Nahrung und einen Zugang zu Sanitäranlagen“, sagt Geschäftsführer Jan Marquardt.
Das Coronaelend hat beide darin bestärkt, ihrem Leben noch einmal eine Wendung zu geben. Diesmal in die richtige Richtung. Ihr Ziel: eine Wohnung in einem Wohnprojekt für Obdachlose, das der Verein „Schau nicht weg“ derzeit mit einem Vermieter im schleswig-holsteinischen Hitzacker entwickelt.
Dann hoffen sie auch wieder auf einen Kontakt mit ihren Kindern, der seit Langem abgerissen ist. „Das ist unser allergrößter Wunsch“, sagt Carsten zum Abschied.