Hamburg. Patrick Rüther über die Verheerungen, die Corona in Kneipen und Restaurants hinterlässt, und heillose Hilfsprogramme.
Die Corona-Krise ändert alles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, unsere Mobilität, unsere Kultur. In der neuen Interviewreihe sprechen wir über den Wandel, über Risiken, aber auch Chancen. Patrick Rüther betreibt in Hamburg das Überquell und die Bullerei. Zugleich ist er Chef des Leadersclubs, eines Netzwerks „gastronomiebegeisterter Menschen und Unternehmen“.
Wird unser Leben je wieder so, wie es vor Corona war?
Patrick Rüther: Ich glaube nicht – und das muss nichts Schlechtes sein. Die Entschleunigung im erzwungenen Lockdown hat uns geholfen, über unser Leben nachzudenken. Das Höher, Schneller, Weiter muss sich ändern. Und wenn wir weniger Flugreisen unternehmen oder als Familien enger zusammenrücken, sehe ich das positiv.
Es klingt, als ob jetzt das große Aber kommt ...
Rüther: Leider ja. Corona hat auch viele negative Seiten in der Gesellschaft freigelegt. Manche fühlten sich plötzlich zum Hilfssheriff berufen, Freiheitsrechte wurden ausgesetzt, und gerade Kinder aus bildungsfernen Familien haben durch Schulschließungen und Spielplatzsperrungen besonders gelitten.
Für Ihre Unternehmen bedeutete Corona eine erzwungene Vollbremsung ...
Rüther: Ja, es waren Tage, an denen sich die Ereignisse überschlugen – und unser Geschäftsmodell über Nacht infrage gestellt wurde. Da kamen Sorgen auf: Was mache ich jetzt eigentlich? Was mache ich mit meinen Mitarbeitern? Was passiert mit Mieten und Leasingverträgen? Diese Ohnmacht und Hilflosigkeit hat mich an den G-20-Gipfel erinnert. Ich konnte nichts ändern. Und anders als bei G 20 ging Corona nicht vorbei. Schnell war klar, dass diese Krise nicht nach zwei Wochen ausgestanden ist. Die Gerüchteküche brodelte damals, manche Häuser überlegten, bis Oktober zu schließen.
Viele Gastronomen verfügen über keine dicke Kapitaldecke, um solche Schließungen lange durchzustehen ...
Rüther: Gastronomie ist vielschichtig, man kann einen Stadion-Caterer, eine Dönerbude und einen Landgasthof nicht über einen Kamm scheren. In den letzten Jahren hat sich die Situation für Gastronomen verschlechtert – es gab zum einen immer mehr Anbieter von Speisen und Getränken, auch weil Supermärkte, Bäcker und Kioske in das Geschäft eingestiegen sind. Zum anderen sind die Regulierungen immer strenger geworden, von der Allergenkennzeichnung über die Datenschutzgrundverordnung bis zu Sicherheitsregeln und Mindestlöhnen. Ich möchte nicht missverstanden werden – die einzelnen Maßnahmen haben ihre Berechtigung. Im Zusammenspiel aber wird es arg viel. Zudem war die Marge gerade bei individuellen Gastrofirmen schon vor Corona teilweise extrem schmal. Während die Preise kaum gestiegen sind, haben sich Mieten, Vorprodukte und Löhne verteuert. Aus aus diesem Grund forderte die Branche seit Langem den niedrigeren Mehrwertsteuersatz. Den haben wir nun wegen Corona bekommen – aber leider nur auf Speisen.
Das hilft doch etwas.
Rüther: Ja, es ist besser als nichts und eine Hilfe, über die wir uns freuen. Aber ich benötige keinen Rechenschieber, um darzustellen, dass das nicht die alleinige Rettung sein kann. Der Effekt verpufft, wenn wir über knapp zwei Monate gar keine Umsätze haben und danach nur die Hälfte von früher.
Werden viele Betriebe Corona nicht überleben?
Rüther: Davon müssen wir ausgehen. Es wird eine Marktbereinigung geben.
Nach einer aktuellen Dehoga-Umfrage fürchten 60 Prozent der Gastronomen um ihre Existenz ...
Rüther: Das ist das Bild, das ich in unserem Netzwerk Leadersclub auch so mitbekomme. Die Branche steckt im Überlebenskampf. Derzeit freuen sich alle, die eine Terrasse haben, weil sie sich in die Arbeit stürzen können. Aber was ist, wenn der Herbst kommt? Die ganzen Bazookas, die unser alter Bürgermeister abfeuert, kommen bei vielen Gastronomen überhaupt nicht oder nur in kleinem Umfang an. Nur ein Beispiel für das Kleingedruckte: Das Hilfspaket zwei verlangt einen Umsatzrückgang von 60 Prozent für zwei Monate. Im Überquell kamen wir – weil wir uns mit digitalen Tastings und Außer-Haus-Verkauf wahnsinnig angestrengt haben – auf ein Minus von 54 Prozent. Also bekommen wir nichts.
Wer zu gut ist, hat Pech gehabt?
Rüther: Genau. Als ob man mit einem Minus von 54 Prozent leben könnte! Solche Hilfen helfen nicht weiter. Es gibt noch mehr Beispiele. In Hamburg mussten Unternehmen ab zehn Beschäftigten für den Erhalt der Soforthilfen erst an ihre Ersparnisse gehen! Hätten wir das Geld vorher ausgegeben, hätten wir Hilfe beantragen können. Aber wir haben für unser Restaurant „Hausmann’s“ in Frankfurt Geld für den Umbau zurückgelegt. Diese Pakete sind in Teilen einfach zu kurz gedacht. Und sie sind so kompliziert, dass es mich als Volljurist fast überfordert. Deshalb fürchten 60 Prozent um ihre Existenz.
Manche werden sagen, das ist unternehmerisches Risiko.
Rüther: Das bekomme ich auch zu hören. Aber die Krise hat ja nichts mit unternehmerischen Fehlern zu tun, sondern allein mit dem Lockdown. Wir mussten unsere Läden wegen Covid-19 schließen. Manche können diesen Unterschied nicht verstehen. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung besteht aus Beamten und Rentnern – viele haben keinerlei finanzielle Einbußen durch Corona zu befürchten und dementsprechend wenig Verständnis für die Sorgen von Unternehmern. In der Politik ist es ähnlich. Ich mache mir da wirklich Sorgen. Wir steuern auf einen großen Generationenkonflikt zu: Was wir heute ausgeben, werden die jungen Menschen einmal bezahlen müssen. Und gerade sie sind die Opfer der Schulschließungen. Ich halte es im Übrigen auch für schwierig, den jungen Menschen zu sagen, sie sollten „dann halt mal ein, zwei Jahre auf Feiern und Partys verzichten“.
Manche sehen ein gastronomisches Überangebot ...
Rüther: Verglichen mit anderen Staaten haben wir weder besonders viele Restaurantplätze noch einen besonders hohen Gastro-Umsatz pro Einwohner. Aber diese Krise ist brutal: Es wäre traurig, wenn auf der einen Seite die Schwarzgeldgastronomen überleben, die genug Geld im Keller haben, und auf der anderen Seite die großen Ketten, die finanziell anders aufgestellt sind. Und die kreativen Individualisten dazwischen scheitern. Dazu würde ich uns auch zählen: Wir verzichten bewusst auf einige Optimierungseffekte, weil wir Bock auf unsere individuelle Gastronomie haben – auf Konzerte, auf Hilfsaktionen für Nachbarn, Geflüchtete oder Wohnungslose, auf Kooperationen mit Künstlern und Kreativen und den Einkauf besonderer Lebensmittel bei speziellen Lieferanten. Das will ich nicht alles streichen. Ich will nicht nüchtern kalkulieren, dann kann ich auch Systemgastronom werden.
Liegt hier der Unterschied?
Rüther: Ja. Individualgastronomie ist eine emotionale Sache, da steckt viel Herzblut und Spaß drin. Sie ist systemrelevant, weil hier Menschen zusammenkommen, die sich anderswo nicht treffen, weil sie ganze Stadtteile entwickelt, eine Plattform für Kunst und Kultur bietet und Menschen eine Chance gibt, die nicht die beste Karten auf dem Arbeitsmarkt haben. So sind dann auch direkt nach dem Lockdown Aktionen wie „Kochen für Helden“ möglich, bei der wir mit vielen Helfern und befreundeten Gastronomen über 33.000 Mahlzeiten ehrenamtlich zubereiten und verteilen konnten. Wenn es uns nicht mehr gibt, wird gesellschaftlich was fehlen.
Ist nun das Schlimmste überstanden?
Rüther: Ja, weil wir wieder öffnen dürfen. Viele Nachbarschaftslagen werden wieder gut besucht. Wenn die Wirtschaft anspringt, werden auch die Innenstadtanbieter profitieren. Wir kommen von null. Der Sommer hilft uns. Uns allen aber graut es vor dem Herbst und dem Winter.
Warum?
Rüther: Wir können nicht so öffnen wie früher. Manche dürfen nur die Hälfte der Tische besetzen, weil in Deutschland ein Mindestabstand von 1,5 Metern gilt – in Österreich reicht ein Meter. Dieses Maß könnte hierzulande wahrscheinlich ein Drittel der kleinen Betriebe retten. Was mich stört: Für die Gastronomie gibt es knallharte Auflagen. Aber warum gibt es keine Auflagen für die Vermieter, weniger zu kassieren, oder für die Banken, die Kreditzinsen zu senken? Oder für die staatliche geförderte Bahn und den Luftverkehr, nur die Hälfte der Plätze zu besetzen? Unsere ganzen Kalkulationen funktionieren nicht mehr.
Das Staat kann ja schlecht in die Vertragsfreiheit eingreifen.
Rüther: Das ist mir schon klar. Aber er greift extremst in mein Recht an dem eingerichteten Gewerbebetrieb ein. Wir fühlen uns ziemlich alleingelassen – gerade wenn ich sehe, wie Unternehmen wie die Lufthansa gerade gerettet werden.
Hat die Gastronomie keine Lobby?
Rüther: Nein, wir haben keine Lobby. Wir haben sicher auch Schuld an dem schlechten Ruf, weil lange niedrige Löhne gezahlt wurden, Schwarzgeldgastronomie dabei war und keine Zugangsbeschränkungen oder -qualifizierungen für den Beruf des Gastronomen gelten. Aber vieles ist längst anders: Wer heute nicht anständig bezahlt, bekommt gar kein Personal mehr.
Hat man da noch Lust auf Gastro?
Rüther: Schon vor einem Jahr hätte ich Neueinsteigern eher davon abgeraten. Heute, unter den Anforderungen von Hygiene- und Abstandsregeln, ist es noch schwieriger geworden. Bei Freunden von mir sind kürzlich zehn Polizisten mit dem Zollstock in die Kneipe hereingestürmt – dabei gab es nichts zu beanstanden. Der Schreck und negative Eindruck bei den Gästen aber bleibt.
Macht es Ihnen noch Spaß?
Rüther (zögert): Das ist eine gute Frage. Als ich mich gegen die Juristerei und für die Gastronomie entschieden habe, wollte ich etwas bewegen, wollte Dinge machen, die mir Spaß bereiten. Ich kann einen faszinierenden Ort schaffen, Menschen eine gute Zeit ermöglichen. Und Gastronomentreffen sind spannender als eine Steuerberaterfachtagung. Jetzt wächst die Branche zusammen, das macht Spaß. Wenn die Gastronomie aber weiter so behandelt wird, wird es mir keinen Spaß mehr machen. Und das gilt für alle. Wer wird sich heute noch einen Kredit von einer Million Euro an die Backe nageln, um ein Restaurant aufzumachen?
Wäre also der größte Wunsch eine Entbürokratisierung nach dem Motto: Lasst uns mit neuen Forderungen zwei, drei Jahre mal in Ruhe?
Rüther: Ja. Natürlich wollen wir nicht, dass Gäste vom Dach erschlagen werden oder eine Lebensmittelvergiftung bekommen – aber in anderen Ländern mit weniger Bürokratie sterben die Gäste auch nicht. Ein gutes Beispiel ist Dänemark: Vor 30 Jahren war dort gastronomisch kaum etwas los – inzwischen ist eine unglaubliche Szene gewachsen. Und warum? Weil der Staat die Gastronomen unterstützt. Da geht es nicht um Geld, sondern um Erleichterungen bei Genehmigungen oder Zwischennutzungen, es geht darum, uns einfach das Leben leichter machen. Wie kann es denn sein, dass Altona kaum Genehmigungen für mehr Außenbewirtschaftungen verteilt und andere Stadtteile wesentlich schneller und großzügiger sind? Warum werden Gastronomen immer als Ruhestörer wahrgenommen, aber nicht als Belebung des Stadtteils?
Wahrscheinlich wegen der Nachbarn?
Rüther: Leider ja. Ich kann gut verstehen, dass man die Polizei ruft, wenn um Mitternacht noch Remmidemmi ist – aber um kurz nach 22 Uhr? Ich kenne Gastronomen, die mussten ihren Laden wegen eines einzigen Anwohners schließen. Es gibt Leute, die nach Ottensen ziehen, weil es so lebendig ist – und dann als Erste die Polizei rufen.
Was wünschen Sie sich noch?
Rüther: Uns geht es um Wertschätzung – wir sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor mit unzähligen Mitarbeitern, Lieferanten und Produzenten. Ohne Gastro werden noch mehr Menschen ohne Einhaltung von vorgeschriebenen Hygienestandards cornern oder im privaten Rahmen feiern.
Was können die Hamburger tun?
Rüther: Sie sollten wohlwollend mit der Gastronomie umgehen und sie besuchen. Die meisten haben ein überzeugendes Hygienekonzept, leider nicht alle. Gutscheine verschenken ist auch schön, aber der Gutschein besetzt dann den Platz, wenn die Krise vielleicht vorbei ist. Noch besser wäre, jetzt direkt vorbeizukommen oder das Essen zum Mitnehmen abzuholen.
Wie sieht die Gastroszene nach Corona aus?
Rüther: Meine Hoffnung ist, dass ein Impfstoff gefunden wird, der das Risiko senkt und wir mit Covid-19 umgehen wie mit der Grippe. Durch die Unterstützung der Gäste und der Politik hoffe ich, dass viele kreative Gastronomen überleben. Überleben. Darum geht es. Von Gewinn redet ohnehin niemand mehr.