Hamburg. Die neue Justizsenatorin über Hass und Hetze im Netz, Stärkung des Verbraucherschutzes und ihren Verzicht auf die Grünen-Spitze.
Dass die Grünen-Landeschefin Anna Gallina in den neuen rot-grünen Senat eintrat, war keine Überraschung, das Ressort schon: Die 37-jährige Politologin ist unter den 24 Justizsenatorinnen und -senatoren seit 1945 erst die zweite, die keine Juristin ist. In ihrem ersten Interview als Senatorin benennt die Mutter dreier Kinder die Schwerpunkte ihrer Arbeit und kündigt an, den Parteivorsitz niederzulegen, um sich auf das Senatorinnenamt zu konzentrieren.
Frau Gallina, Sie sind seit fast zwei Monaten im Amt. Was ist Ihr Eindruck vom Zustand der Justiz?
Anna Gallina: Ich habe eine sehr gut geführte Behörde übernommen. Es gibt sehr viele hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das ist auch mein Eindruck bei meinen Besuchen der Gerichte, der Staatsanwaltschaft oder des Vollzugs. Alle sind sehr begeistert von dem, was sie tun.
Sie wollten ja nicht unbedingt Justizsenatorin werden. Wie überrascht waren Sie, als Sie merkten, dass die Sache auf Sie zulief?
In der Tat gehörte das nicht zu den Dingen, für die ich mit einem langen Plan angetreten bin. Aber ich habe eine hohe Begeisterungsfähigkeit für die verschiedenen Themen der Justiz. Alles, was die Gesellschaft beschäftigt, schlägt irgendwann auch in der Justiz auf, zum Beispiel weil es geregelt werden muss. Für mich als Generalistin ist das sehr spannend.
Ist es ein Nachteil, dass Sie nicht Juristin sind, wie die allermeisten Ihrer Vorgänger?
Darin sehe ich keinen Nachteil. Ich arbeite mich gründlich in alle Vorgänge ein, so komplex sie auch im Einzelnen sein mögen. Um mich herum hier in der Behörde habe ich viele engagierte Menschen, die absolute Expertinnen und Experten in ihrem jeweiligen Bereich sind. Ohne sie würde es nicht funktionieren, das gilt für jede Behörde.
Haben Sie schon Defizite in Ihrem neuen Arbeitsgebiet entdeckt?
Nehmen wir das Beispiel Justizvollzug: Da sehe ich bei meinen Besuchen die Unterschiede zwischen den Anstalten. Die einen Bereiche sind recht neu, bei anderen ist noch richtig was zu tun in den nächsten Jahren. Bei den Gerichten ist es genau so, wenn wir darüber sprechen, welche räumliche und technische Ausstattung wir in den nächsten Jahren brauchen. Stichwort Ausstattung der Gerichtssäle mit Videotechnik, nicht nur in Zeiten der Pandemie.
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Die Gerichtsgebäude am Sievekingplatz mit ihren langen Fluren und riesigen Treppenhäusern atmen noch die Atmosphäre des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Ist das vereinbar mit moderner Rechtsprechung?
Ich glaube schon, dass es vereinbar ist. Es ist eben Teil unserer Geschichte, und es ist immer spannend, eine bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen langen Linien als Gesellschaft zu haben. Das bilden die Gebäude auch ab. Auf der anderen Seite haben die Gerichtsgebäude auch etwas sehr Wertiges, und das steht dem Rechtsstaat gut an.
Die Demonstration von Kritikern der Corona-Beschränkungen, die das Abstandsgebot nicht eingehalten haben, hat eine Diskussion über eine Verschärfung des Demonstrationsrechts ausgelöst. Was halten Sie davon?
Ich halte nichts davon, an das Demonstrationsrecht zu gehen. Gerade in der Pandemie, wo wir viele Einschränkungen hinnehmen mussten und müssen, sollten wir sensibel mit diesem wichtigen Grundrecht umgehen. Der entscheidende Punkt ist doch, dass die Auflagen, die es für eine solche Demonstration gibt, auch eingehalten werden. Für mich ist die Frage besonders wichtig, wie wir weiterkommen mit den Menschen, die das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben. Menschen, die zum Beispiel Verschwörungstheorien anheim gefallen sind oder an Fake News glauben, machen einen entscheidenden Teil bestimmter Veranstaltungen aus.
Wie können diese Menschen zurückgewonnen werden?
Jedenfalls nicht durch Grundrechtseinschränkungen. Kritik und Protest sind immer legitim. Entscheidend ist der sensible Punkt, an dem es kippt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob man Menschen, bei denen das der Fall ist, zurückgewinnen kann. Für mich ist sehr wichtig, dass gerade junge Menschen immun dagegen werden, diese Gesellschaft nicht mehr zu akzeptieren und sich zurückzuziehen. Extremste Ausprägung davon sind rechtsextreme Gruppen, die sich komplett eigene Lebensstrukturen aufbauen.
Wie kann die Politik dem nun vorbeugen?
Es fängt damit an, dass Politik die Daseinsvorsorge und den Rechtsstaat so ausgestaltet, dass alle Menschen zu ihrem Recht kommen – in einem angemessenen Zeitraum. Es darf nicht sein, dass Menschen darauf verzichten, ihr Recht oder ihre Ansprüche hier oder dort durchzusetzen, weil sie sagen, dass das zu schwierig sei und ohnehin bestimmt fünf oder zehn Jahre dauere. Das ist schon die erste Entfremdung vom Rechtsstaat. Deswegen ist es so wichtig, dass wir an der Stelle gut sind und auch noch besser werden. Hoffentlich können wir mit einem Abebben der Pandemie solche Projekte wie Schule mit Recht oder den Tag des offenen Gerichts wieder aufnehmen.
Ist es denn so in Hamburg, dass Menschen darauf verzichten, ihr Recht durchzusetzen, weil es aus ihrer Sicht zu lange dauert?
Bei zivilrechtlichen Ansprüchen ist das immer mal wieder so. Ich glaube, das kennt jeder aus seinem Bekanntenkreis, dass jemand sagt, darauf verzichte ich jetzt, weil es zu lange dauert. Wenn etwa jemandem ein kleinerer Schaden in einem von ihm genutzten Mietwagen zur Last gelegt wird, den er nicht verursacht hat, möglicherweise noch im Ausland.
Das klingt nach vielen neuen Stellen, um die Verfahrensdauern abzubauen.
Es wird auch in den nächsten Jahren so sein, dass wir bestimmte Wellen haben, manchmal ist das ja auch bundesgesetzlich ausgelöst. Wir werden immer darauf achten, dass wir möglichst gut nachsteuern und die Verfahrensdauern im Blick behalten. Ein Stück weit wird uns dabei auch der Einsatz von Videotechnik helfen.
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Der rot-grüne Senat hat sich im Bereich Justizpolitik einen verstärkten Kampf gegen Hass- und Hetzpropaganda im Netz vorgenommen. Können Sie uns da schon etwas Konkretes sagen?
Wir wollen eine Spezialabteilung bei der Staatsanwaltschaft zu diesem Thema auf den Weg bringen. Das wird in den anstehenden Haushaltsgesprächen ein Thema sein. Zur Ausstattung kann ich daher noch nichts Konkretes sagen, aber wir sind im Austausch mit der Staatsanwaltschaft, was es braucht. Daneben arbeitet eine Koordinierungsstelle hier im Haus daran, dass mehr Fälle von Hass im Netz überhaupt angezeigt werden.
Wie bedrohlich sind diese bisweilen kriminellen Aktivitäten aus Ihrer Sicht?
Es bringt viel Sprengstoff für die Gesellschaft mit. Der Hass, der über Menschen zum Teil ausgekippt wird, hat eine gewisse zersetzende Wirkung. Es treibt die Eskalation voran, baut Hemmschwellen ab und kann dazu führen, dass sich Menschen zu Taten aufgefordert fühlen. Das wollen wir vermeiden, und deswegen müssen wir auch ein Stück weit in Rückabwicklung kommen als Gesellschaft.
Was meinen Sie mit Rückabwicklung?
Stellen Sie sich eine Eskalationstreppe mit den einzelnen Stufen vor. Es wäre gut, wenn wir ein paar Stufen heruntergehen und in den sozialen Medien zum Beispiel zu einem anderen Niveau der Auseinandersetzung kommen würden. Manchmal muss man sich klarmachen, dass man das, was man gerade in die Tasten haut, nie jemandem sagen würde, der einem gegenüber sitzt.
Stichwort Verbraucherschutz: Was haben Sie sich in diesem Bereich vorgenommen?
Wir wollen die Verbraucherzentrale stärken, mit der wir gut zusammenarbeiten. Die Beratungsangebote der Hamburger Verbraucherzentrale werden sehr stark angenommen. Wir wollen die digitalen Angebote verstärken, aber auch die Beratungsschwerpunkte in bestimmten Stadtteilen. Es geht aber auch um Themen der Digitalisierung selbst: Wie ist das eigentlich mit den Algorithmen und der Transparenz? Was wird da wie entschieden? Das ist vielen Verbrauchern und Verbraucherinnen nicht klar.
Was bedeutet es, die Verbraucherzentrale zu stärken? Mehr Personal?
Wir wollen die Verbraucherzentrale in der Tat auch mit Geld stärken. Das wird auch ein Thema in den Haushaltsberatungen des Senats sein. Wir werden den Verbraucherschutz-Pegel weiterentwickeln und wollen herausbekommen, was die Ärgernisse der Hamburgerinnen und Hamburger sind.
Gibt es weitere Themen?
Ein weiteres Thema ist der Tierschutz, für den wir auch zuständig sind. Müssen wir immer noch die männlichen Küken massenhaft töten? Ich meine, dass wir das nicht müssen. Fast jede Verbraucherin und jeder Verbraucher sagt doch: Küken töten – das kann es doch nicht mehr sein im Jahr 2020. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner hat gesagt, dass jetzt in der Angelegenheit doch etwas auf Bundesebene passieren soll. Das werden wir sehr genau beobachten und gegebenenfalls von Hamburg aus Druck ausüben. Es gibt inzwischen wirtschaftliche Verfahren, die erlauben, mit dem Kükentöten aufzuhören. Insofern sollten wir das jetzt auch machen.
Ihr Vorgänger Till Steffen hat das Projekt „Quartier Santa Fu“ gestartet. Haben Sie sich schon ein Bild davon gemacht?
Ich finde das Projekt hochspannend. Das kann eine Win-Win-Situation werden: Im Bezirk Nord können dort Wohnungen gebaut werden, und für uns besteht die Möglichkeit, einen effektiveren Strafvollzug zu bekommen, weil wir auf Flächen verzichten können. Jetzt sind die Wege dort sehr lang. Wenn man einen Anstaltsbesuch gemacht hat, hat man die vielfach geforderten 10.000 Schritte am Tag locker geschafft (lacht). Das denkmalgeschützte Ensemble von Haus I und III wird dann öffentlich zugänglich sein.
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Bislang gibt es nur eine kleine Ausstellung im Torhaus, die an das ehemalige KZ Fuhlsbüttel erinnert. Was stellen Sie sich als eine angemessene Würdigung vor?
Wir müssen das in das gesamte Gestaltungsthema mit einbeziehen. Das betrifft ja nicht nur die Justizbehörde, sondern vor allem zum Beispiel die Gedenkstätte Neuengamme und den Bezirk. Es ist eine Aufgabe, die allen sehr bewusst ist. Ich möchte da nicht vorgreifen.
Bleibt es bei den Planungen für den Neubau der Jugendstrafanstalt Billwerder, der wegen der hohen Kosten kritisiert worden war?
Ja. Es hat einen langen Austausch dazu gegeben. Der große Wert liegt darin, dass am Ende fast alle Fraktionen in der Bürgerschaft gesagt haben, dass man es so machen kann. Es gibt keinen Grund, diesen Konsens aufzukündigen. Im Gegenteil: Alle können sich darauf freuen, dass es auch zügig losgeht. Wir rechnen mit einem Baubeginn im Sommer 2021. Die Anstalt soll 2026/27 fertiggestellt sein.
Werden Sie vom Amt der Grünen-Landesvorsitzenden zurücktreten?
Ich bin sehr gern grüne Landesvorsitzende und blicke auf eine erfolgreiche Zeit zurück. Aber jetzt habe ich eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe im Senat angetreten, auf die ich mich fokussieren möchte. Wenn es coronabedingt wieder möglich ist, eine Landesmitgliederversammlung abzuhalten, werde ich den Posten zur Verfügung stellen, und es wird eine Nachwahl geben. Meine reguläre Amtszeit würde noch bis Mai nächsten Jahres laufen.