Hamburg(/Stralsund. Erster Steuermann Kim Rauterberg aus Barmbek machte seinen Abschluss während der Corona-Pandemie per Skype.
Immer mal wieder macht er auch an der Elbe fest, um seine Ladung zu löschen: der 83 Meter lange ehemalige Hamburger Küstenfrachter „Fredo“, seit 2010 mit Heimathafen Stralsund. Die Silos schlucken dann jedes Mal 1600 Tonnen Rapsschrot, „Abfallprodukt“ aus der Ölherstellung, aber ein überaus begehrtes Futtermittel. Das wird meistens in Ostseehäfen wie Swinemünde, Stettin oder Rostock geladen.
Kaum hatte „Fredo“ am Liegeplatz festgemacht, öffnen sich wie von Geisterhand die Luken, und der Silo-Kran schlägt seine Zähne in das braune Gold. Erster Steuermann Kim Rauterberg hatte erst mal seinen Job erledigt, runter mit dem Overall und unter die Dusche. Aber von wegen Freiwache bis zum Abendbrot. Nun hieß es noch mal büffeln, denn ihm stand eine Prüfung bevor – ein Examensereignis der ganz anderen Art, wie es so wohl noch nicht oft vorgekommen ist.
Der 25 Jahre alte Hamburger startete nach dem Schulabschluss 2011 seine seemännische Laufbahn an der Staatlichen Seefahrtsschule Cuxhaven, die er mit dem „Nautischen Befähigungszeugnis für alle Schiffsgrößen“ verließ. Zwischendurch sammelte er als Werkstudent Erfahrungen in der Schiffsklarierung als Terminal-Manager-Assistent und fuhr als Steuermann bei verschiedenen Hamburger Reedereien. Bis er sich auch für eine akademische Karriere zu interessieren begann, „um beruflich weiterzukommen und bessere Perspektiven für die Zukunft zu haben“, begründet der junge Mann diesen mutigen Schritt. Mutig deshalb, weil er neben dem Studium zur See fahren musste, um seinen Unterhalt zu verdienen.
Corona hat den Planungen einen Strich durch die Rechnung gemacht
Nach drei Jahren „nebenher“ an der Hochschule Bremen im Fach „International Studies Ship Management“ – ein Fach, das ihm liegt, „weil das mein Job als Vorgesetzter an Bord ist“, wie er sagt, der schon als Schüler „Streitschlichter“ war – hat er seine Bachelor-Arbeit geschrieben mit dem hochaktuellen Thema: „Die Auswirkungen auf die psychologischen Grundbedürfnisse von Seeleuten in Bezug auf die besonderen Umstände an Bord von Schiffen, die im internationalen Handel tätig sind und mit multikultureller Besatzung besetzt sind“. Klingt wie eine Doktorarbeit und verlangte auch ein umfangreiches Literaturstudium neben der Auswertung von Statistiken und Fragebögen. Rauterberg hat das ohne viele Hörsaalstunden problemlos gemeistert. Nun musste er die Arbeit „nur noch“ verteidigen, um das Bachelor-Zeugnis zu bekommen.
Zwei Prüfer wurden ausfindig gemacht: Kapitän und Bremer Hochschul-Dozent Willi Wittig aus dem Bergischen Land sowie der Autor als Dozent von der Hochschule Stralsund. „Fredos“ Heimathafen hat hier eine Rolle gespielt. Ein Termin zwischen zwei Reisen wird gefunden und als Prüfungsort die Bremer Hochschule festgelegt. Corona hat aller Planerei jedoch einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Was nun? Bis Computerfreak Kim Rauterberg die Idee hatte: per Skype. „Das spart Kosten, Zeit und CO2“, meinte er, aber so was hat es noch nicht gegeben. „Geht nicht gibt’s nicht!“ ist sein Motto, und nach vielem Nachfragen kam endlich grünes Licht aus Bremen: genehmigt. Eine Premiere stand an.
Besondere Arbeitssituation
Pünktilch zur vereinbarten Zeit klingelte das Smartphone. Rauterbergs Team-Schaltung funktionierte. Er saß allein – das ist eine geforderte Voraussetzung, die eidesstattlich quittiert werden muss – auf der „Fredo“-Brücke und war völlig entspannt. Prüfling und Prüfer sahen sich, das Prüfungsprozedere wurde festgelegt. 30 Minuten dauerte das Frage-und-Antwort-„Spiel“. Wobei auch die psychologische Situation der 20.000 Seeleute erörtert wurde, die wegen Corona nicht nach Hause in den Urlaub fliegen könnten und oft weiterhin an Bord bleiben müssen. „Dabei spielen auch interkulturelle Verhaltensmuster eine Rolle. Die sind bei Europäern anders als bei den Philippinos“, weiß „Streitschlichter“ Rauterberg aus eigener Erfahrung. Mit dieser speziellen Psychologie müsse man aber als Vorgesetzter vertraut sein und damit umgehen können, um Konflikte beizulegen. Ein aufschlussreiches Mosaiksteinchen seiner 59-Seiten-Arbeit.
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Schließlich waren die Prüfer davon überzeugt, dass der Kandidat entlassen werden kann. Nach der Beratung konnten sie ihm zu einem „Exzellent“ mit der Gesamtnote 1,0 gratulieren. Der frischgebackene Bachelor strahlte aber übers ganze Gesicht. Kapitän Willi Wittig betonte in seiner Begründung die besondere Arbeitssituation, in der Kim Rauterberg sich an Bord befunden habe bei nicht reduzierten Wach- und Arbeitszeiten: „Dazu die spezielle Prüfungssituation sowie die Qualität der Leistung schriftlich wie mündlich, die weit über frühere Kandidaten hinausgeht“. Die Empfehlung, auch noch ein Masterstudium dranzuhängen, nahm der Erste Steuermann lächelnd entgegen: „Gute Idee, aber erst mal will ich auf der ,Fredo‘ meine Fahrtzeit absolvieren, um Kapitän zu werden.“ An Bord gab es, von Kapitän Bernd Blanck zur Feier des Tages spendiert, an dem Abend ausnahmsweise Freibier für alle. Denn dass sein Schiff „mal Universität sein würde“, hätte er sich „nie träumen lassen“.
Die MS „Fredo“ bietet auch Mitfahrten zwischen großen, kleinen und kleinsten Nord-Ostsee-Häfen. Info unter fredo@gmx.info; Kapitäne Bernd + Willem Blanck: 0171/211 18 39.