Berlin. Vor bald 20 Jahren wurde der sechsjährige Volkan von zwei Hunden grausam totgebissen. Was hat sich seitdem in Deutschland verändert?
Ein sonniger Tag im Stadtpark. Ein Baby krabbelt über die Wiese, zwei Fünfjährige rangeln um einen Fußball. Plötzlich ist da ein Hund, schnappt sich den Ball, schüttelt ihn knurrend. Und dann ist da ein Halter, der das nicht schlimm findet, weil sein „Bruno“ ja noch nie jemandem was getan hat und doch nur spielen will. Wohl etliche Besitzer der vielen Tausend Hunde in Deutschland, die jedes Jahr zubeißen, hätten das vor der Attacke behauptet.
„Der Satz ,Der will doch nur spielen’ ist oft eine Angstantwort, wenn ich in dem Moment nicht ausreichend auf meinen Hund geachtet habe“, sagt der Hamburger Psychologe Laszlo Andreas Pota. „Eine Ausrede dafür, dass man die nötige Verantwortung nicht übernommen hat.“
Seit einigen Jahren sei immer häufiger zu sehen, dass Halter mit dem Smartphone herumliefen, während ihr Hund frei oder an der langen Leine herumlaufe. Generell sei mehr Achtsamkeit von Hundebesitzern wünschenswert. „Schon ein Kind, dass einmal plötzlich angebellt wird, kann eine lebenslange Angst vor Tieren eingeprägt bekommen.“
Hunde: Verhalten von Kindern kann ins Beuteschema passen
Mehr als 600 erfasste Angriffe von Hunden auf Menschen gab es im vergangenen Jahr nach Daten der Senatsverwaltung allein in Berlin. „Man steckt nicht drin“, warnt der Rechtsmediziner Michael Tsokos. Bis dahin friedfertige Hunde schnappten plötzlich zu.
Gerade das Verhalten von Kindern könne Mechanismen auslösen, die ins Beuteschema passten. Oft sind dann nicht die Hände oder Beine das Ziel. „Bei über 70 Prozent der betroffenen Kinder dominieren Kopf-, Nacken- und Halsverletzungen.“ Viele Opfer sind lebenslang gezeichnet.
Rund 20.000 bis 40.000 Hundebisse jährlich gibt es Hochrechnungen zufolge bundesweit – eine zentrale Erfassung existiert nicht. Rund 70 Menschen starben nach Daten des Statistischen Bundesamtes in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch Hundeattacken. Getötet würden vor allem Menschen, die sich schlecht verteidigen können, so Tsokos: Senioren und Kinder.
Sechsjähriger Volkan: „Unfassbar qualvolles Sterben“
So wie Volkan, sechs Jahre alt, Vorschulkind. Am 26. Juni 2000, in Deutschland wird schon seit vielen Jahren ergebnislos über eine Kampfhundeverordnung, Hundeführerscheine und Leinenzwang diskutiert, spielt er mit Schulkameraden Fußball. Die Wiese liegt neben seiner Grundschule in Hamburg-Wilhelmsburg.
Als „Zeus“ und „Gipsy“ vom Nachbargrundstück über eine Mauer auf den Platz stürmen, hat Volkan noch 20 Minuten zu leben. „Und ein unfassbar qualvolles Sterben vor sich“, so Tsokos, damals Facharzt am Institut für Rechtsmedizin der Universität Hamburg.
„Wie eine Beute zerfleischt“, sagte der Richter später
Die zwei Pitbull-Mischlinge verbeißen sich. Lehrer trauen sich nicht einzugreifen, Polizisten wagen es zunächst nicht, zu schießen, um nicht den Jungen zu treffen. Als beide Hunde mit etlichen Kugeln im Körper tot daliegen, versucht ein Notarzt, Volkan zu helfen. Doch der Junge liegt im Sterben.
„Wie eine Beute zerfleischt“, habe der Richter später in der Urteilsbegründung gesagt. Welche potenzielle Gefahr von den Tieren ausging, sei den Ordnungshütern des Stadtteils vor der furchtbaren Attacke längst bekannt gewesen – passiert aber sei nichts.
Aufmerksamkeit richtete sich nach Volkans Tod auf Kampfhunde
„Es ist eine Geschichte von verantwortungslosen und überforderten Kampfhund-Besitzern und von sträflichem Staatsversagen“, so Tsokos, inzwischen Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité. Denn klar ist auch: Mit besseren Besitzern wären aus den Pitbull-Mischlingswelpen „Zeus“ und „Gipsy“ wahrscheinlich friedliche Gefährten geworden. Die Tiere aber wurden geschlagen, zum Kämpfen trainiert.
Nichtsdestotrotz richtet sich die öffentliche und politische Aufmerksamkeit in der Folge von Volkans Tod auf sogenannte Kampfhunde. Rasselisten für Haltungs- und Zuchtverbote werden erlassen, die Innenministerien aller Bundesländer erarbeiten strenge Verordnungen für Hundebesitzer.
So sehen Hunde von unten aus
Rasselisten zur Gefahrenprävention
„Die Geschichte des Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde, das am 21. April 2001 in Deutschland in Kraft trat, ist untrennbar mit dem grausamen Tod des sechsjährigen Volkan verbunden“, so Tsokos.
Zu den Rassen auf den Listen gehören fast immer Pitbull, Staffordshire und Bullterrier. „Ob sich aus der Hunderasse als solcher auf die Gefährlichkeit eines konkreten Hundes schließen lässt, ist jedoch höchst umstritten und wird von vielen Tierexperten strikt verneint.“
„Nach wie vor gibt es weder statistische Erhebungen noch Studien, die die pauschale Sonderbehandlung dieser Hunde begründen“, sagt Katrin Umlauf vom Deutschen Tierschutzbund. Dennoch existierten in allen Bundesländern außer Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen weiter Rasselisten zur Gefahrenprävention. Zum Positiven habe sich verändert, dass Auffälligkeiten eher zur Anzeige gebracht und Behörden schneller aktiv würden.
Vorfälle mit Kampfhunden stoßen häufig auf große Beachtung. Im baden-württembergischen Leimen rissen sich zwei Kampfhunde im Juni von der Leine los und verletzten einen 15-Jährigen schwer.
Eine große Diskussion löste Kampfhund „Chico“ aus, der 2018 zwei Menschen totbiss. Nachdem der Staffordshire-Terrier eingeschläfert wurde, gab es große Proteste und sogar eine Mahnwache für den Toten Hund. Ein Experte erklärte unserer Redaktion, warum so viele Deutsche mit dem Kampfhund fühlten.
Oft beißen Hunde zu, die nicht als Kampfhunde gelten
Beißattacken gingen oft von Hunden aus, deren Rasse auf keiner Kampfhund-Liste genannt werde – Deutschen Schäferhunden und Labradoren zum Beispiel, sagt Tsokos. „Das Problem ist in den meisten Fällen nicht der Hund, sondern der Halter.“
So biss in Hamburg an Ostern ein als nicht aggressiv geltender Rhodesian Ridgeback einem Achtjährigen fast sein Ohr ab.
Tsokos hält darum viel von einem bundesweit verpflichtenden Hundeführerschein oder Maßnahmen, die hinterfragen, ob jemand als Hundehalter geeignet ist. Der Tierschutzbund setzt sich für einen Sachkundenachweis ein, bei dem die theoretischen Kenntnisse vor der Anschaffung eines Hundes abgefragt werden. Das bringe potenzielle Käufer dazu, sich im Vorfeld über die Bedürfnisse der Tiere zu informieren.
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Alleinsein kann bei Hunden Stress auslösen
Dazu gehört auch die Haltungsform. Denn selbst wenn der Hund vermeintlich ruhig daliege und weder die Wohnung zerstöre noch die ganze Zeit belle, könne es für ihn starken Stress bedeuten, für viele Stunden allein gelassen zu werden, erklärt Kurt Kotrschal vom Wolf Science Center der Veterinärmedizinischen Universität Wien.
Als Rudeltier seien Hunde meist nur sehr ungern alleine. „Hunde kommunizieren ihre Bedürfnisse viel weniger als Wölfe, darum bleiben diese oft unbemerkt.“
Hunde leiden unter städtischen Betonwüsten
Scharf werde ein Hund vor allem dann, wenn er von seinem Halter ordentlich unter Druck gesetzt werde, so Kotrschal. Viele Halter sähen ihren Hund zum Glück inzwischen nicht mehr als Untergebenen. Mit Laissez faire sei das allerdings nicht zu verwechseln, Regeln und Verlässlichkeit seien extrem wichtig.
Als einen weiteren Faktor sieht Kotrschal die Verdichtung von Städten. Eine grüne Umgebung mache nicht nur Menschen nachweislich widerstandsfähiger gegenüber psychischen Problemen, Hunde litten in Betonwüsten auf ganz ähnliche Weise.
„Naturferne Urbanisierung tut Mensch und Hund gleichermaßen Schlimmes an.“ Und wo sich Kinder und Hunde auf immer seltener und kleiner werdenden Grünflächen arrangieren müssen, steigt das Risiko für Konflikte.