Hamburg. Die Clubkultur braucht Solidarität und Respekt – auch untereinander. Ein Essay zur Abendblatt-Aktion „Seid nett zueinander“.
Mit Hochspannung blickt die Menge auf dem Rathausmarkt nach oben, als der Erste Bürgermeister, die Zweite Bürgermeisterin und der Kultursenator auf den Rathausbalkon treten: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen … Ihnen mitzuteilen … dass heute Ihre Lieblingsclubs …“, der Rest geht im Jubel unter. Bei der anschließenden Pressekonferenz fragt jemand noch mal konkret nach: Ab wann dürfen Hamburgs Musikclubs wieder öffnen? „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Auf der Reeperbahn und in der Schanze, in Wilhelmsburg und am Grindel ist nur wenig später die Hölle los. Alles drängt zu den Eingängen der Liveclubs und Diskotheken, um Devisen gegen Tickets zu tauschen. Wie Wasser durch einen geborstenen Staudamm strömen die Menschen durch die Türen vor die Bühnen und DJ-Pulte. In der Großen Freiheit gibt David Hasselhoff ein Spontankonzert.
Zeit, um aus diesem Traum aufzuwachen und der Wahrheit in das Antlitz zu schauen: „Außerdem legt die Rechtsverordnung fest, dass Diskotheken und Musikclubs weiterhin noch nicht für den Publikumsverkehr geöffnet werden dürfen,“ heißt es in den seit 1. Juli geltenden neuen Verordnungen des Hamburger Senats für wieder erlaubte Veranstaltungen mit bis zu 1000 Gästen. Open-Air-Veranstalter, Theater und die Elbphilharmonie können wieder arbeiten, unter Auflagen und in vielen Fällen wohl ohne Aussicht auf Gewinn, aber sie dürfen sich wieder was trauen. Kultur kann wieder erlebt werden, unter möglichst stark eingeschränkten gesundheitlichen, aber finanziell ausgeprägten Risiken. Die Livemusikclubs und Diskotheken aber bleiben seit Mitte März weiterhin geschlossen. Das ist vernünftig, das überrascht niemanden, damit ist auch weiterhin zu rechnen, solange es keinen Impfstoff und keine Medikamente gegen Covid-19 gibt. Aber Vernunft lindert keine Sehnsucht, keine Sorgen, keinen Schmerz.
„Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“
Wenn Clubs und Bars mit Kampagnen und Demonstrationen, in Interviews und Postings in den Sozialen Netzwerken auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen, heißt es nicht selten: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“ Und das ist noch eine der netteren Antworten. Aus nicht so netten sollen hier nur Stichworte zitiert werden: „Saus und Braus“, „Braucht kein Mensch“, „Systemrelevanz“. Dass ein mittelgroßer Club in Hamburg monatliche Mieten und weitere reservenunfreundliche Fix- und Personalkosten von einigen Zehntausend Euro aufbringen muss und direkt oder indirekt 100 und mehr Menschen von der Tresenaushilfe über Techniker bis zum Stamm-DJ versorgt, dringt da selten durch. Auch nicht, dass Hamburgs Clubkultur ein Mikrokosmos ist, auf den viele weitere Musikschaffende, Labels, Agenturen und Branchenfirmen angewiesen sind. Kultur, Subkultur ist Wirtschaftsfaktor, Tourismusmagnet, Anziehungspunkt einer Metropolregion. Und menschliche Begegnung, Erfüllung, Anregung, Erregung, Entdeckung, Trost.
Anders als in früheren Jahrzehnten wird die Clubszene in Hamburg aber nicht allein gelassen, was alle Beteiligten zwischen Kiez und Rathaus betonen und loben. Über die Jahre haben sich die Clubs und Musikschaffenden einzeln und in Interessenverbänden wie dem Clubkombinat, RockCity, VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmen) und der IHM (Interessengemeinschaft Hamburger Musikwirtschaft) mühsam aber hartnäckig Gehör im Senat verschafft, erfolgreich für Zuwendungen und Erleichterungen geworben und jetzt Rettungsmaßnahmen erhalten, um das Schlimmste vorerst abzuwenden.
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Wer nett zueinander ist und konstruktiv zusammenarbeitet, kann offensichtlich viel erreichen. Die zusätzlichen Fördergelder für das laut Senat garantiert stattfindende Reeperbahn Festival, auch um erwartbare Verluste für die beteiligten, besucherreduzierten Bühnen auszugleichen, sind beachtlich. Wobei die Clubs in anderen Stadtteilen und die ebenfalls bedrohte, ja in Stich gelassene Bar-Gastronomie wenig davon haben.
Eigenverantwortung ist nachts um halb eins illusorisch
Weitere Fragen kommen aktuell bei einigen Kiezianern auf: Warum müssen wir geschlossen oder nur unrentabel geöffnet bleiben, während auf dem Alma-Wartenberg-Platz, am Neuen Pferdemarkt und auf dem Schulterblatt das große, abstandslose Corner-Saufisaufi ausgebrochen ist? Warum dürfen Menschen wieder in Flugzeuge gepfercht werden oder in Freizeitparks stundenlang Schlange stehen, aber nicht tanzen gehen? Klar kennen alle die Gründe, Clubs sind eng, schlecht belüftet, und wer da Eigenverantwortung und Hygiene erwartet, war noch nie auf St. Pauli bei Nacht. Nachgehakt wird trotzdem.
Corona: Hamburg erlaubt wieder größere Veranstaltungen
Junge Menschen wollen seit jeher abends mehr erleben, als zu Hause an Fliesentischen Zigaretten zu stopfen und im Internet Bilder mit Sprüchen zu teilen. Es drängt sie hinaus, zu Freunden und neuen Bekanntschaften, zur Musik. Und sie waren schon immer sehr gewitzt und auch dämlich, um Regeln und Verbote zu umgehen oder zu ignorieren. Jeder kennt das Bild von gelangweilten Gruppen an der Dorf-Bushaltestelle, die kaum erfüllende Freizeitangebote haben. Dann kommen die blöden Ideen. Hamburg ist gerade ein riesiges Dorf, Berlin genauso. Dort weichen die Abendschönsten in Brandenburgs dunkelste Ecken aus, um heimlich zu raven, zu „ballern“. Der Rettungswagen braucht übrigens sehr lange dahin, wenn eine Flasche, ein Gramm zu viel im Spiel ist.
In der lockeren Schweiz tobt jetzt die große Clubdebatte
So gibt es in Hamburgs Szene durchaus auch Stimmen, die dem Autoren bekannt sind, die lieber heute als morgen Clubs wieder öffnen würden, ohne Masken, ohne Abstand, wie vor Corona. Die Kurve ist abgeflacht, die Intensivbetten kaum belegt, die Risikogruppen eher selten in Clubs anzutreffen. Die Clubs und Musikschaffenden hätten wieder Einnahmen, die Generation Cornern bessere Angebote, und gelockert wird ja überall. Es wird auf die Schweiz und die dort geöffneten Diskotheken und Clubs mit bis zu 300 Gästen verwiesen. Allerdings ist dort um Mitternacht Feierabend, und jetzt tobt dort nach einem Ausbruch im Zürcher Club Flamingo mit mehreren Infizierten und Hunderten Menschen in Quarantäne die große Clubdebatte. Wer würde das Hamburger Ischgl oder Flamingo werden wollen und durch Medien und Netzwerke gejagt?
Coronavirus – die Fotos zur Krise
Das Gleichgewicht zwischen pandemischer, wirtschaftlicher und sozialer Vernunft lotet jeder für sich selber aus, da wird es dann emotional. Schon eine unglücklich kommunizierte Wandzeitung eines Hamburger Clubs mit mehr oder weniger (in)diskutablen „alternativen“ Corona-Ansichten ließ kürzlich viel Wut hochkochen mit berechtigter Kritik, absurden Vorwürfen, üblen Beleidigungen und verbalen wie personellen Notbremsen. Offensichtlich wurde viel über- aber wenig miteinander geredet. Kon-struktiv für die Clubkultur war das nicht.
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Mit Zusammenhalt lässt sich viel mehr erreichen. Jeder Clubmensch, mit dem wir sprachen, weiß von ungeahnter, berührender Solidarität zu berichten. Ein Großteil der Gäste verzichtete auf die Erstattung ausgefallener Konzerte, Spendenaktionen wie „Keiner kommt“, „#musicsupportHH“ oder „S.O.S. – Save Our Sounds“ sammelten bislang über 700.000 Euro, dazu kommen viele weitere Spenden über Livestreams, Geisterkonzerte und den Verkauf von T-Shirts und Fanartikeln. Das sind Menschen, die Konzertabende und DJ-Nächte in ihren Freiräumen ersehnen, aber auch Angst um ihre Gesundheit und ihre Mitmenschen haben, die ebenfalls um Existenzen kämpfen.
Niemand weiß, wie es weitergehen wird, und hinterfragen muss erlaubt bleiben. Clubbetreibende, Clubgäste, und Club-Desinteressierte sollten dabei die gegenseitige Empathie aufbringen und bei Forderungen, Wünschen und Vorwürfen erst eine halbe Minute innehalten, auch wenn es in den Fingern juckt, auf der Zunge liegt. „Half A Minute“ von Matt Bianco zu hören, kann da sehr hilfreich sein. Seid nett zueinander, nehmt Rücksicht. Ihr kennt doch die Regeln auf dem Kiez. Sonst: Hausverbot.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden