Hamburg. Durch die Digitalisierung trainieren wir effektiver. In Zeiten von Corona können wir dank neuer Technik auch zu Hause viel erreichen.
Wollen wir nicht alle so beneidenswert schön wie Schneewittchen sein? Gut, den Teil mit dem vergifteten Apfel aufgrund übertriebener Beautyfixierung (#schoenheitswahn, #stiefmutter) lassen wir jetzt mal beiseite, aber Schneewittchens Figur entstand sicher nicht durch langes Liegen im Sarg. Ich tippe auf Poweryoga gemeinsam mit den sieben Zwergen. Wir werden es nie erfahren, weil die einzigen Zeugen, die Brüder Grimm, verstorben sind.
Das Märchen von der zeitlosen Schönheit wird allerdings jetzt fortgeschrieben – durch einen neuen Spiegel namens „Vaha“. Der verwandelt sich durch einen Klick vom schnöden Reflektor in ein komplettes Fitnessstudio plus Personal Coach, der einen durch die integrierte Kamera beim Work-out im Auge behält, korrigiert („Den Rumpf stabil halten!“) und motiviert: („Das soll es jetzt gewesen sein? Come on!“ Dazu leichtes Gelächter.) Ohne Scherz ermöglicht das interaktive Display das, was sich viele Freizeitsportler wünschen: trotz mangelnder Zeit effektiv trainieren, ohne dafür die Wohnung verlassen zu müssen – was gerade in Zeiten von Corona gut ankommt.
Beliebt in Corona-Zeiten: Virtuelles Fitness-Training
„Vaha“ ist aus der Sprache Punjabi entlehnt, bedeutet auf Englisch „Flow“ und lässt sich auf Deutsch mit „alles im Fluss“ übersetzen. Um diesen mentalen Zustand zu erreichen, muss die sportliche Herausforderung sehr groß sein. „Aber gerade noch so, dass du sie bewältigen kannst“, erklärt Valerie Bönström, die den interaktiven Spiegel in Deutschland auf den Markt bringt. Die Berlinerin gründete bereits die Frauenfitnesskette Mrs. Sporty, doch weil Bönström auch studierte Informatikerin ist, dachte sie sich irgendwann: „Funktionelles Training müsste mithilfe der Technik doch noch viel besser funktionieren.“
Vaha setzt auf eine Art Hybrid-Training
Um genau die passende Herausforderung für den Kunden zu finden, wird bei Vaha auf eine Art Hybrid-Training gesetzt. Durch den Spiegel trifft man seinen Personal Coach, mit dem man seine aktuelle Leistung und seine Ziele bespricht. Dieser stellt einen individuellen Trainingsplan zusammen mit mehr als 200 Work-outs sowie Meditations- und Achtsamkeitsübungen, die auf dem Spiegel abgerufen werden können (auch ohne Internetverbindung).
Wer will, kann all seine „Gadgets“ (Apple- oder Garmin-Uhr, ein Herzfrequenz-Messgerät wird mitgeliefert) verbinden und seine Vitaldaten sammeln. Das Training wird quasi überwacht, und durch ständige Rückmeldung der Kunden („zu leicht, passend, zu schwer“) immer neu geplant. „Technologie ist ein toller Unterstützer für die Individualisierung des Trainings“, sagt Bönström. Als Mutter von drei Kindern ging es ihr aber auch um eine Zeitersparnis. Wie viel Zeit man verliert, wenn man erst mal zum Studio fahren muss – und dann fällt der Lieblingskurs auch noch aus, oder neben einem riecht ein Teilnehmer ganz unangenehm ...
Möglichkeit der Personalisierung unterscheidet Vaha von normalen Fitness-Apps
Kollektives Schwitzen ist nicht jedermanns Sache. Einfach mal losjoggen vielleicht? Kostet nichts, und man atmet frische Luft. Das würde jedoch regenfreies Wetter (#norddeutschland) und eine gewisse Form von Beweglichkeit voraussetzen. „Es gibt immer noch viele Menschen, die gar nicht alleine trainieren können und sich aus Scham über ihre Figur nie in ein Studio trauen würden“, sagt Karsten Schellenberg. Der Trainer, Autor und Dozent wurde als einer der Personal Coaches bei Vaha verpflichtet: „Wir machen die Leute in sechs Wochen über den Spiegel fit for Training.“
Und dann geht’s so richtig ab. Gewicht verlieren? Kraft aufbauen? Flexibilität steigern? Jedes Ziel kann angeblich erreicht werden, egal welche körperlichen Einschränkungen man mitbringt. Hat jemand Knie- oder Hüftprobleme, werden die empfohlenen Übungen darauf abgestimmt. Die Möglichkeit der Personalisierung unterscheidet Vaha deutlich von normalen Fitness-Apps. „Einmal habe ich um 1000 Euro gewettet, dass ich einem Bekannten von mir mit unserem auf ihn zugeschnittenen Training die Bandscheiben-Operation erspare“, sagt Bönström. Sie hat die Wette gewonnen.
Was kostet der Spaß? Nicht wenig. Das Gerät allein 2268 Euro, eine Finanzierung ab 63 Euro in 36 Monatsraten ist möglich. Hinzu kommen monatlich 39 Euro für die Mitgliedschaft. Wer neben der monatlichen Live Trainer Session zusätzliche Stunden mit einem Personal Coach möchte, kann sich beispielsweise ein 4er-Paket für 130 Euro hinzubuchen.
Globale Radtour: Peloton
Zur Begrüßung gibt es gleich das Gefühl vermittelt, einer Art Superfitnessclub anzugehören: „We are global, we are everywhere, welcome to the family.“ Puh, eine Nummer kleiner hätte es auch getan, aber wenn es nun einmal stimmt? Die Peloton-Family ist weltweit und verbindet sich über einen Bildschirm am Peloton-Bike. Während ich zur HighNoon-Zeit in Hamburg im Showroom von Peloton an der Bleichenbrücke zum „30 Minute Hip Hop Ride“ antrete, steigt meine Trainerin um 6 Uhr morgens in New York auf ihr Rad und ruft uns globaler Community Nettigkeiten zu. Auf dem „Leaderboard“ sieht man, wer mitfährt. Vor mir strampelt Kimmikimk aus Toronto, hinter mir hat sich Katy aus Texas eingeloggt, wir geben uns elektronisch „High Five“, das macht schon mal Spaß. Noch nicht bewegt und schon abgeklatscht, so schön kann Sport sein. Social Fitness. Wer seinen 300. oder 400. Ride fährt, wird persönlich von unserer Kursleiterin beglückwünscht, und weil wir gerade so unter uns sind, verrät sie uns beim ersten Song sogar ihre Hochzeitspläne: „Was für ein toller Musiker. Mein Ehemann! Er weiß es nur noch nicht.“
Im Vergleich zu Konkurrenten wie Soulcycle oder Hicycle, wo man tatsächlich noch mit anderen in einem echten Raum zu lauter Mucke fährt und so ein Massen-Disco-Work-out hinlegt (viele Endorphine, viele!), stellt sich bei diesem virtuellen Kurs die Frage, ob das auf Dauer funktioniert: die Übertragung des Gruppenerlebnisses ins eigene Zuhause? „Ich bin fest davon überzeugt“, sagt Martin Richter.
Der Deutschland-Chef nennt zwei Zahlen, die seiner Ansicht nach verdeutlichen, wie motivierend das Training ist: Nach einem Jahr sind 94 Prozent der Kunden im Durchschnitt noch dabei; 2019 wurden insgesamt 65 Millionen High Fives verteilt, die Gemeinschaft ist also extrem aktiv, was man auch an der Facebook-Gruppe erkennt, wo sich „Member“ fleißig zu gemeinsamen „Rides“ verabreden oder sich gegenseitig folgen, um ihre Leistung zu messen. „Das Kompetitive soll aber gar nicht so im Vordergrund stehen. In Deutschland ist das den Kunden vielleicht etwas wichtiger als in den USA“, sagt Richter.
Und was die Deutschen wollen, das wird beachtet, denn Deutschland ist der größte und somit wichtigste Sport- und Fitnessmarkt Europas. In sechs deutschen Städten kann man die Bikes derzeit testen.
Gegründet wurde Peloton 2012 in den USA von John Foley. Zunächst handelte sich der Amerikaner bei Investoren eine Abfuhr nach der anderen ein für sein Fitnessrad mit Liveübertragungen von Gruppenkursen. Heute ist das Unternehmen nach dem Börsengang im September 2019 im NASDAQ gelistet und erreichte laut verschiedenen Börsenzeitschriften einen Börsenwert von knapp 8 Milliarden US-Dollar. Weltweit gibt es zwei Millionen Mitglieder, manche Trainier sind bereits zu Instagram-Stars geworden.
Die von John Foley geschaffene Marke gilt als Kult in den USA und wurde in den Medien als „Apple der Fitnesswelt“ bezeichnet. Tatsächlich sieht das tiefschwarze Rad sehr gut aus; hätte man irgendwann diese windschnittige Figur erreicht, dürfte man sein Training als erfolgreich abgeschlossen bezeichnen. Manche Fans stellen sich das Gerät direkt an ihr Bett. Nach dem Motto: Selbst in der kleinsten Bude hat mein Peloton Platz. Die alternative Botschaft: Du kannst bei mir übernachten, aber mein Fahrrad wird auch dabei sein. Apropos Sex: Peloton fing sich wegen einer Werbung den Vorwurf des Sexismus ein. Eine junge Dame zeigt sich darin extrem dankbar darüber, dass ihr Freund ihr ein Peloton schenkte. Fanden andere Frauen nicht so gut. Nun denn. Ich hätte mich gefreut (#winkmitdemzaunpfahl@ehemann).
Was kostet der Spaß? 2232 Euro für das Hightech-Ding, zusätzlich werden 39 Euro für das monatliche Abo fällig.
CO2-neutrales Fliegen: Icaros
Abheben, ohne die Luft zu verpesten. Klingt nach einer Idee von Greta Thunberg, ist in Wirklichkeit aber möglich durch die Zusammenarbeit von Sportwissenschaftlern, Designern, Ingenieuren und Softwareentwicklern. „Icaros“ heißt das von ihnen kreierte Gerät. Über den übermütigen Namen mag man streiten, er passt jedoch zu dem wenig bescheidenen Versprechen der Firma: „We make you fly.“ Es handelt sich zwar um ein deutsches Unternehmen, auf Englisch klingt Unglaubliches aber gleich viel realistischer.
Das weiße Teil sieht aus, als hätte Iron Man sich eine Sonntagsflugausrüstung gebastelt. Echt hübsch, aber so nett bleibt es nicht. Man begibt sich auf dem Gerät in die Horizontale und merkt sofort, wie viele Muskeln gleichzeitig gefordert werden, während man versucht, sein Gleichgewicht zu halten. Hallo? Sind da noch irgendwo Muskeln im Rumpfbereich? Jetzt wäre eure Gelegenheit zu glänzen. Selten kam einem liegen so anstrengend vor. „Das liegt daran, dass du seitlich, frontal und in der Rotation trainierst, also dreidimensional“, erklärt Bernhard Schlegel, Sportwissenschaftler am Lans Medicum. Besonders die Stützmuskulatur rund um die Wirbelsäule wird angesprochen, das sind relativ kleine Muskeln, an die man sonst schlecht rankommt. Zusätzlich sollen das Balancegefühl und die koordinativen Fähigkeiten geschult werden.
Wie effektiv das Training ist, sollen mehrere von Sportuniversitäten durchgeführte Studien beweisen. Demnach wird die Muskelaktivierung auf dem Icaros bei einer Plankübung im Vergleich zu einer knienden Planke am Boden verdoppelt. Gleichzeitig liegt der Kalorienverbrauch um 30 Prozent höher als bei der statischen Ausführung.
Schlegel schätzt das als Flugshow getarnte Muskeltraining auch, weil es für jeden Menschen geeignet sei. Die Schwierigkeitsstufen sind dabei variabel. „Vom Spitzensportler bis zum Rentner profitiert jeder, auch Personen mit Verletzungen. Icaros macht dich vom Patienten zum Piloten.“
Dafür setzt man eine VR-Brille auf und wird, Simsalabim, zum Vogel. Dieser muss versuchen, in einer Bergwelt durch verschiedene Ringe zu fliegen; je kleiner diese sind, desto mehr Punkte gibt es. Gefühlt schwerelos düst man durch fiktive Täler und Wälder. Durch das Verlassen der realen Welt würde man die körperliche Belastung weniger spüren und dadurch länger trainieren, sagt Schlegel: „Wenn es um Stabilität, Gleichgewicht und Koordination geht, halte ich es für das Training der Zukunft. Nur Menschen mit Flug- oder Höhenangst würde ich es nicht empfehlen.“
Sie bekämen zu viel Stress in der sehr echt anmutenden Bergwelt. Außerdem kann man sich auch verfliegen oder plötzlich gegen eine Felswand knallen. Der große Vorteil gegenüber der griechischen Mythologie: Ein virtueller Ikaros verfügt über eine unbegrenzte Anzahl Leben. Der große Nachteil: Während des Flugs wird kein Tomatensaft gereicht.
Was kostet der Spaß? Für 30 Minuten Training im Lans Medicum zahlt man 50 Euro; eine Zehnerkarte kostet 450 Euro. Man kann sich das Gerät auch für zu Hause kaufen.
Digitaler Völkerball: Hado
Wer früher beim Turnunterricht als Letzter gewählt wurde und seitdem einen Minderwertigkeitskomplex plus eine ausgewachsene Turnhallen-Phobie mit sich herumschleppt, der kann sich nun rächen. „Hado“ heißt der Trendsport, den in Asien schon Zehntausende spielen. Im Dezember fanden in Tokio die ersten Weltmeisterschaften statt. Im Grunde handelt es sich um Völkerball 2.0. Das Beste daran: Man bekommt keine blauen Flecken wie früher und muss nicht mehr richtig werfen können. Die elektronischen Bälle schleudern sich selbst von denjenigen, die keine Sportskanonen sind. Allerdings sollte man fit im Kopf sein, seine Gegner beobachten – und, ja, auch ein wenig Bewegung ist erforderlich.
Das Jump House in Stellingen hat den AR-Teamsport vor Corona in einer dreimonatigen Testphase angeboten. Als Spieler wird man zunächst ausgestattet mit Augmented-Reality-Brillen und -Armbändern. Auf iOS-Technologie-Basis treten Dreierteams gegeneinander auf dem Spielfeld an, genannt „Cage“. Die Brillen sitzen nicht so richtig bequem, und zum Aufwärmen stirbt man gleich mehrfach, weil man noch nicht verstanden hat, wie man seinen Schutzschild richtig aufbaut, und die visuellen Effekte einen zunächst verwirren.
Aber dann! Mit dem Wurfarm schleudert der frisch geborene Super Mario Energiebälle auf seine Gegner, mit dem Fadenkreuz in der Brille zielt er. 80 Sekunden dauert ein Spiel; auf einem Bildschirm neben dem Spielfeld können Zuschauer das Spektakel verfolgen.
Wer nur die hüpfenden Spieler in ihren Brillen sieht, die ihre Arme seltsam durch die Luft werfen, mag das Ganze für einen Techno-Waldorfschulen-Tanz halten. Doch in Wirklichkeit erleben wir hier die Übertragung einer elektronischen in die reale Welt. „Gerade die jungen Leute sehnen sich danach, die Erlebnisse ihrer Computerspiele in ihren Alltag zu übertragen. Wir haben diese neue digitale Dimension für uns entdeckt“, sagt Linda Best vom Jump House. Mehr Bewegung als beim Daddeln vor der Konsole ermöglicht der „Physical eSport“ allemal.
„Der Sportfaktor ist hoch, weil man schnell in den Kampfmodus umschaltet und ständig ausweichen muss“, sagt Best. Für diejenigen, die ungern eine AR-Brille tragen, gibt es vor Ort auch Video-Jumps. Dabei wird der Spieler (ebenfalls mit AR-Technologie) vom Trampolin ins Videospiel projiziert und so zum springenden Helden in seinem Game. Man sieht sich selbst auf dem Bildschirm beim Hüpfen gegen Enten, Kämpfen gegen Kraken oder durch Zaubertrank zum Riesen wachsen. Die Kinder standen Schlange vor den zwei Video-Jumps. Sie brauchen keine Erklärung, sie erfassen geschult durch Smartphones und iPads intuitiv, was sie tun müssen. Der Sprung in die Zukunft.
Was kostet der Spaß? Bislang mussten die Jump-House-Kunden für Hado und die Video-Jumps nichts extra bezahlen. 60 Minuten Sprungzeit in allen Bereichen kosten 13,90 Euro. Doch aufgrund Corona-Auflagen (2,5 m Abstand beim Indoor-Sport, Desinfektion der Controller, Brillen, Spielfelder und Co. nach jedem Nutzer) darf Hado derzeit nicht gespielt werden, die meisten anderen Attraktionen im Jump House sind allerdings geöffnet.
Zum Download:
Die Texte dieser Magazin-Titelgeschichte sind auch im Magazin „Philipp Vol. 2“ erschienen, das vom Abendblatt zusammen mit OMR und „Horizont“ herausgegeben wird. Es ist als kostenloser Download unter abendblatt.de/omr erhältlich, hat 168 Seiten und beschäftigt sich mit den digitalen Trends, die zunehmend unser Leben bestimmen. Als Chefredakteure fungierten Philipp Westermeyer (OMR) und Lars Haider (Hamburger Abendblatt).