Hamburg. Höckes “Flügel“ wird beobachtet. Torsten Voß warnt jedoch auch vor einer neuen Qualität linksextremistischer Gewalt.
Nicht erst der Stein- und Farbbeutel Anschlag auf den Dienstwagen von Innensenator Andy Grote (SPD) im Dezember 2019, sondern bereits die europaweite Anschlagserie nach der Festnahme der sogenannten „Drei von der Parkbank“ im Juli durfte getrost als Kampfansage der linksextremistischen Szene aufgefasst werden.
Und damit war auch klar: Die Phase der relativen Ruhe, wie sie sich nach dem G20-Gipfel eingestellt hatte, ist vorbei. Seither warnt Torsten Voß, Chef des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV), eindringlich wie nie zuvor vor einer neuen Qualität linksextremistischer Gewalt - einer Gewalt an der Schwelle zum Terrorismus: Die Szene scheue nicht mehr davor zurück, Leib und Leben auch Unbeteiligter zu gefährden.
Verfassungsschützer: Brutalität hat zugenommen
Aggressivität und Brutalität hätten zugenommen, auch in Hamburg, wie Voß am Freitag bei der Vorstellung des Jahresberichts 2019 erläuterte. Man werde daher die „Entwicklung mit Blick auf die Annäherung an die Schwelle zum Terrorismus genau im Fokus behalten“.
Voß‘ Apparat dürfte damit auch in Zukunft gut ausgelastet sein, gehört Hamburg doch zu den bundesweit größten Autonomen-Hochburgen. Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes verfügt die linksextremistische Szene in der Hansestadt über rund 1290 Anhänger, etwas weniger als 2018.
70 Prozent der Extremisten sind gewaltorientiert
Die mit Abstand meisten haben sich der autonomen und antiimperialistischen Szene angeschlossen. Nach wie vor stuft die Behörde mehr als 70 Prozent der rund 1290 Extremisten als gewaltorientiert ein.
Wie das Abendblatt bereits berichtete, ist die Zahl der politisch motivierten Straftaten, die der linken Szene zugeordnet werden, von 396 im Jahr 2018 auf 493 in 2019 gestiegen. Allerdings zählte die Polizei mit 15 linksextremistischen Gewaltdelikte auch deutlich weniger als im Jahr davor.
Auch die Zahl der Reichsbürger stieg
Anders fällt die Bilanz bei der rechtsextremistischen Szene aus. Obgleich sie im Vergleich zur linksextremistischen Szene deutlich weniger Anhänger in Hamburg hat – der Nachrichtendienst geht von 330 Personen aus, davon, wie im Vorjahr, 130 gewaltbereiten – hat die Polizei aus diesem Spektrum 304 Straftaten erfasst.
Dabei handelte es sich vor allem um sogenannte Propagandadelikte, beispielsweise Hakenkreuz-Schmierereien. Die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten ist 2019 nach einem zuletzt deutlichen Rückgang, 2018 waren es elf, auf 25 gestiegen.
Auch die Zahl der sogenannten Reichsbürger stieg, von 145 in 2018 auf 165 im Vorjahr, rund zehn Prozent davon stuft der Nachrichtendienst als rechtsextremistisch ein. Seit 2016 wird die Szene bundesweit beobachtet. Insgesamt soll es in Hamburg seitdem sechs Entziehungen waffenrechtlicher Erlaubnisse in der Szene gegeben haben.
Mehr rechtsextremistischen Gewalttäter ohne Anbindung
Unter der Oberfläche gärt es im Spektrum rechts offenbar: Während die Zahl der in festen Strukturen organisierten Fanatiker abnahm (2019: 100), stieg die der rechtsextremistischen Gewalttäter ohne Szeneanbindung, Ende 2019 lag sie bei 120, ein leichter Zuwachs gegenüber dem Jahr davor.
Auch die Attentäter von Hanau und Halle handelten, nach allem, was man bisher weiß, auf eigene Faust und hatten sich über das Internet radikalisiert. Um dieses Phänomen genau im Blick behalten zu können, hat der Hamburger Verfassungsschutz fünf zusätzliche, vorwiegend damit befasste Mitarbeiter eingestellt.
„Die beispiellose Serie rechtsterroristischer Mordanschläge im Jahr 2019 hat viel verändert. Die Bedrohung durch den Rechtsextremismus ist in Deutschland dramatisch gestiegen. Hamburg hat diese Gefahren früh erkannt und mit der Internet-Spezialeinheit bundesweit Maßstäbe gesetzt“, sagte Innensenator Andy Grote (SPD) am Freitag.
Höckes "Flügel" rückt in den Fokus
Auch der „Flügel“, der im März vom Bundesamt für Verfassungsschutz als extremistische Bewegung eingestuft wurde, rückt in den Fokus der Hamburger Verfassungsschützer.
Nach aktuellen Erkenntnissen würden sich auch in Hamburg zunehmend Personen zu dem „Flügel“ bekennen. So soll sich insbesondere der AfD-Bezirksverband Hamburg-Mitte, mit dem aus der Partei ausgeschlossenen Andreas Kalbitz solidarisieren und aktiv den „Flügel“-Chef Björn Höcke unterstützen.
Neue Schwerpunktsetzung des Verfassungsschutzes
Der erneute Fokus auf die „klassischen Staatsfeinde“ von links und rechts markiert auch eine Art Wende in der Schwerpunktsetzung des Verfassungsschutzes. In den vergangenen Jahren hatte sich die Behörde nach etlichen Anschlägen im Namen des Islamischen Staates und anderer Terrororganisationen intensiv mit der lokalen salafistisch-dschihadistischen Szene auseinandersetzen müssen.
Allein weil der Nachrichtendienst einen beträchtlichen Teil seiner Ressourcen in die sogenannte Aufhellung des Dunkelfeldes investierte, eilte das der salafistischen Szene zugerechnete Personenpotenzial in Hamburg von Jahr zu Jahr neuen Rekorden entgegen.
Salafismus: Anhängerschaft schrumpft, keine Entwarnung
Seit 2018 schrumpft die Anhängerschaft jedoch, zwar nur langsam, aber sie schrumpft - und das trotz weiterhin enormer Aufklärungs-Anstrengungen. Gründe dafür nach Einschätzung der Behörde: Der Szene fehlten zunehmend Führungspersonen, Themen und Aktionsmöglichkeiten.
Auch seien Ausreisen nach Syrien und Irak so gut wie gestoppt, Info-Stände wie die der „Lies“-Kampagne verboten. Bisher seien 86 Menschen in die syrischen und irakischen Kriegsgebiete ausgereist, darunter 17 Frauen. Zurückgekehrt seien 33 Personen, etwa ein Drittel sei ums Leben gekommen.
Von einer Entwarnung könne jedoch keine Rede sein: „Hamburg hat nach wie vor mit 740 Salafisten, davon 384 Jihadisten, eine vergleichsweise starke Szene“, heißt es. Besonders achtsam blickt der Nachrichtendienst auf radikal-islamische Organisationen wie Hizb-ut-Tahrir (HuT) und der Furkan-Gemeinschaft - beide Organisationen zählen zusammen rund 430 Anhänger in Hamburg, Tendenz steigend.
Verfassungsschutz: Islamisches Zentrum bleibt im Fokus
Ebenfalls weiterhin im Fokus: das Islamische Zentrum Hamburg (IZH), das seit Jahrzehnten den „Export der islamischen Revolution“ anstrebt und als verlängerter Arm des iranischen Regimes gilt. Erst vor wenigen Wochen hatte die Hamburger CDU gefordert, ein Verbot dieses Vereins zu prüfen.
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Rückläufig ist auch die Zahl der Anhänger ausländischer extremistischer Vereinigungen wie der kurdischen Arbeiterpartei:
- PKK: 550 Personen (2018: 600)
- Türkische Linksextremisten: 130 Personen (2018: 135)
- Anhänger türkisch-nationalistischer Strömungen: 110 Personen (2018: 110)
Die Gesamtzahl sank von 845 auf 790 Personen im Vorjahr. Auch wurden weniger extremistische Straftaten mit Auslandsbezug (2019: 122; 2018: 141) erfasst, was vor allem damit zu tun hat, dass 2019 bei Demonstrationen weniger häufig verbotene Symbole gezeigt wurden, beispielsweise PKK-Fahnen oder Öcalan-Bilder.
Auch die Sekte Scientology hat laut Verfassungsschutz Schwierigkeiten, neue Mitglieder zu rekrutieren. Die Hamburger Scientology-Organisation zählt wie bereits im Vorjahr rund 300 Anhänger. Der Verfassungsschutz sieht die erfolgreiche Aufklärungsarbeit staatlicher Stellen als einen Grund für diese Entwicklung.