Hamburg. Historiker sammeln in einem digitalen Archiv Zeugnisse einer einzigartigen Zeit – und sind überwältigt von der Resonanz.

Die Idee wurde an einem Sonntagnachmittag geboren, als sich ein paar Historiker auf Twitter über die Lage der Dinge austauschten. Es war der 22. März, und die Corona-Krise kam gerade mit voller Wucht über Deutschland.

In den Tweets entspann sich schnell eine Diskussion darüber, wie Historiker mit der einzigartigen Situation umgehen, wie sie den Alltag in Zeiten von Corona und die Verunsicherung der Menschen für die Nachwelt konservieren sollten – für die Museen und die Geschichtsbücher.

Historiker schaffen digitales Corona-Archiv

Prof. Thorsten Logge von der Universität Hamburg hat das Projekt mit aus der Taufe gehoben.
Prof. Thorsten Logge von der Universität Hamburg hat das Projekt mit aus der Taufe gehoben. © N. Steffen

Die Historiker stellten nicht erst lange Forschungsanträge, wie in der Wissenschaft sonst meist üblich. Prof. Thorsten Logge und Nils Steffen von der Universität Hamburg sowie Prof. Christian Bunnenberg aus Bochum und Benjamin Roers von der Uni Gießen machten sich sofort ans Werk.

Sie schufen ein digitales Corona-Archiv, in das jeder Bilder, Videos oder Dokumente, Fundstücke und persönliche Erinnerungen einstellen kann, die für uns alle heute fast schon zur Normalität gehören, aber einst denkwürdig sein werden. Momentaufnahmen einer Pandemie von historischem Ausmaß. Fünf Tage nachdem die Idee geboren wurde, stand das Projekt.

Viele Einträge aus Hamburg und Norddeutschland

Heute, zwei Monate später, sind die Wissenschaftler, die sich allesamt der Public History verschrieben haben, von der Resonanz schier überwältigt. Fast 2000 Einträge gibt es auf der Seite www.coronarchiv.de.

Sie stammen aus allen Ecken Deutschlands, ein Schwerpunkt liegt jedoch in Hamburg und dem norddeutschen Raum. Damit hatte niemand gerechnet. „Wir dachten, es kämen vielleicht zehn Beiträge am Tag“, sagt Logge.

Bürger senden Fotos, Masken, Schilder

Eingestellt wurden Bilder von der leeren Stadt – die verwaiste Herbertstraße auf St. Pauli etwa, das Schanzenviertel und der Flughafen ohne Menschen. Masken in jeder Form sind zu sehen sowie viele Schilder, die auf Abstandsregeln hinweisen oder Touristen die Einreise nach Schleswig-Holstein untersagen.

Ein Aushang an der Universität Hamburg.
Ein Aushang an der Universität Hamburg. © Hinnerk Rümenapf/CC BY-SA

Ein Bürger stellte einen Leserbrief ein, den er zum Grenzstreit mit Hamburgs nördlichem Nachbarn an das Abendblatt geschickt hatte. Videos zeigen den allabendlichen Applaus für Pfleger und Ärzte in den Krankenhäusern oder Musiker, die am Fenster spielen. Jemand hat Kreidezeichnungen von Kindern auf dem Asphalt im Grindelviertel fotografiert. Ein anderer ein selbst gemaltes, großes Schild „Wieder da!“ im Fenster eines Friseursalons fotografiert.

Menschen, die Toilettenpapier nach Hause tragen, gesperrte Spielplätze, Demonstranten mit Masken, die ersten Tische vor den wiedereröffneten Restaurants. Mehrere Schüler eines Abendgymnasiums haben ihre persönlichen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie geschildert.

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Mit jeder Corona-Änderung kam eine neue Welle

„Thematisch kamen die Beiträge in Wellen“, erinnert sich Prof. Logge. Anfangs standen die leeren Regale in Supermärkten und die ungewöhnliche Einkaufssituation im Vordergrund, dann die Stille in der Stadt während des Lockdowns.

Nach den ersten Lockerungen gab es viele Beiträge zum Umgang mit Masken und zu den Demonstrationen. Immer wenn der Senat eine Änderung der Corona-Regeln bekannt gibt, kommt ein neuer Schwung. Seit vor Kurzem eine englischsprachige Version der Seite online gegangen ist, werden auch Beiträge aus aller Welt hochgeladen, vermutlich von Deutschen aus den USA, Nepal, Brasilien und China.

„Keine Stimme soll verloren gehen“

Demnächst werden weitere 1120 Einreichungen erwartet, die aus einem Mitmach-Wettbewerb der Körber-Stiftung stammen. Schüler schildern darin ihre Erfahrungen während der Pandemie. Auch hier hat die Beteiligung alle Erwartungen übertroffen.

Als Historiker weiß Logge, wie ungleich und sozial bedingt die Überlieferung der Vergangenheit häufig ist. Deshalb war ihm von Anfang an wichtig: „Keine Stimme soll verloren gehen.“

Jede Stimme zählt: Protest bei einer Demo.
Jede Stimme zählt: Protest bei einer Demo. © Brot & Rosen/CC BY-SA

Das Projekt kostet viel Zeit

Trotz – nein, gerade wegen – des großen Erfolges hat das Projekt seine Initiatoren viel Schlaf gekostet. Die beiden Junior-Professoren betreiben es neben ihren eigentlichen Dienstaufgaben. Neun Studierende moderieren die Beiträge ehrenamtlich, hinzu kommen zwei Mitarbeiter mit jeweils einer halben Stelle.

So lässt sich das Ganze nicht mehr lange aufrechterhalten. „Wir schreiben gerade Anträge für Hilfskraftstunden und versuchen, aus Sonderförderprogrammen zu Corona Geld für Stellen zu beschaffen“, so Logge.

Museen haben Interesse an Corona-Archiv bekundet

Wie lange weitergesammelt wird, hängt nicht nur von der finanziellen Ausstattung ab. „Wir haben darüber nachgedacht: Wir könnten bis zum Ende der Krise sammeln, wann immer das ist, oder es einfach auslaufen lassen, wenn niemand mehr etwas einreicht“, sagt Logge.

Möglich wäre auch, dass das Projekt endet, wenn ein Impfstoff entwickelt würde und die Menschen ihre Erfahrungen damit beschrieben haben – wenn er denn kommt. Die Inhalte müssen jedoch auch systematisiert und ausgewertet werden. Im kommenden Jahr soll es Workshops geben, die sich mit den Inhalten beschäftigen. Geplant ist, dass das Archiv auch für die künftige Forschung zur Verfügung steht.

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Mehrere große Museen haben Inter­esse bekundet, das ganze Archiv zu übernehmen. „Da sind wir gerade in Gesprächen, das wäre natürlich super.“