Hamburg. Während des Corona-Lockdowns haben viele kleine Geschäfte die Plattform als alternativen Verkaufskanal entdeckt.
Was das Shoppingcenter auf der grünen Wiese und Amazon mit vereinten Kräften nicht geschafft haben, schien Corona im Handstreich zu gelingen. Nachdem der Lockdown verkündet wurde, mussten natürlich auch die lokal verwurzelten Händler ihre Geschäfte schließen. Viele von denen waren bislang ohne Onlineshop ausgekommen – und hatten nun ein existenzielles Problem. Auch Jam Pot, der Laden meiner Mutter Ingrid, in dem sie Geschenk- und Deko-Artikel sowie Accessoires vom Lederetui bis zum Armreif verkauft, drohte die Pleite.
Wie Tausende selbstständige Ladeninhaber in Deutschland fragte sich meine Mutter Mitte März: Wie verdiene ich in den kommenden Wochen Geld? Und was tue ich, damit ich die Osterware nicht bis nächstes Jahr zurück ins Lager räumen muss? Die Antwort meiner Mutter: Ich rufe mal einen der Söhne an.
Meine Mutter ist 71, und seit ich denken kann, gibt es Jam Pot. In mehr als 30 Jahren habe ich das Auf und Ab des kleinen Geschäfts mitgemacht, bei Inventuren geholfen. Als vor Jahrzehnten mal der ganze Lagerkeller nach einem Starkregen überschwemmt war, haben wir nach der Schule den Keller trockengelegt. Wenn irgendwo anders in der Stadt ein ähnliches Lädchen eröffnete, war meine Mutter schlecht drauf. Wenn jemand etwas geklaut hat, auch.
Wir haben natürlich zu Hause diskutiert, ob man mal ein neues Kassensystem braucht und was jetzt bald aus dem Laden werden soll, wo sie doch 71 ist. Meine Mutter hat dazu gesagt, sie kenne eine Frau, die habe ein Geschäft für Wolle und sei über 80. Sie würde nicht mehr so viel arbeiten, aber vermutlich eines Tages tot im Laden liegen. Das sei ja eventuell auch ein Modell. Der Laden ist ein Teil ihres Lebens.
Im Januar war sie bei uns in Hamburg und hat hier wie jedes Jahr eine Messe besucht und für einige Tausend Euro Osterware gekauft. Dann kam Corona, sie musste den Laden schließen und sich mit der Frage beschäftigen, ob sie ihn je wieder aufmachen kann. Vor Jahren habe ich ihr geholfen, zumindest eine einfache Website einzurichten. Nun ist wieder die Hilfe des „Kurzen“ gefragt, um Ingrid bei einem Videotelefonat Instagram-ready zu machen.
Schaufenster Instagram
Mein Auftrag klang simpel: gemeinsam mit meiner Mutter einen vorzeigbaren Instagram-Account einrichten und ihr dabei die grundlegenden Funktionen erklären. So soll sie so schnell wie möglich mit einem unkomplizierten Verkauf per Instagram starten können – die Plattform soll in der Corona-Zeit ihr Schaufenster werden. Wie gesagt, der Auftrag klang simpel.
Denn natürlich weiß meine Mutter über Instagram wenig mehr, als dass es diese Plattform gibt. Um Zeit zu sparen (schließlich muss ich neben Jam Pot gerade meine eigene Firma durch die Corona-Krise bringen), hatte ich Ingrid gebeten, schon einmal einen Account zu eröffnen. Sie habe es versucht, sagt sie dann während des Calls. „Aber da stoße ich natürlich schnell an meine Grenzen und weiß dann nicht mehr weiter.“
„Hilft ja nichts, das müssen wir jetzt einfach lernen, geht anderen auch so“, sage ich zu ihr. Diese Art der Direktheit ist bei uns in der Familie üblich, und meine Mutter hat unsselbst immer vermittelt, pragmatisch und anpackend zu sein. Fangen wir also ganz vorne an: beim Benutzernamen. Da @jampot schon vergeben ist, findet man Ingrids Geschenkeladen bei Instagram jetzt unter @jampot_essen. Als Profilbild bindet meine Mutter zunächst das Logo ihres Geschäfts ein. An sich eine gute Idee, aber Instagram lebt von Persönlichkeit. Also überrede ich sie, das Gesicht der guten Seele des Geschäfts, also ihr eigenes als Profilbild zu verwenden.
Darauf lässt sich Ingrid noch ohne große Debatten ein. Aber schon beim Steckbrief wird es hakeliger. „Jam Pot ist ein wirklich schöner Laden für wirklich schöne Dinge“ hat meine Mutter getextet. Viel zu schwammig, sorry. An dieser Stelle geht es um eine aussagekräftige Beschreibung, darum, dass die Nutzer schnell erkennen, für welche Produkte das Geschäft steht. „Deko-Artikel“, „Geschirr“, „Einrichtungsideen“ – und „Tischwäsche“. Mir ist nicht klar, was alles unter diesen Begriff fällt, aber meine Mutter besteht auf „Tischwäsche“. Sei’s drum, sie kennt ihre Kunden besser als ich. Also, bitte schön, soll Ingrid ihre Tischwäsche haben.
Sieben Posts am Tag
Dann geht es ans Posten der ersten Beiträge, und meine Mutter stellt mir die Frage, die in diesem Moment vermutlich gerade jeden Ladenbesitzer und Instagram-Beginner umtreibt: „Was für Fotos soll ich denn jetzt veröffentlichen?“ Dabei ist die Antwort simpel. „Aktuell musst du vor allem deine Produkte zeigen“, erkläre ich. Denn der Instagram-Kanal von Jam Pot soll ja das digitale Schaufenster ihres zwangsweise geschlossenen Geschäfts werden. Und weil manchmal zu viel überlegen beim Vorankommen schadet, rate ich meiner Mutter: „Da brauchst du auch nicht schüchtern zu sein. Da kannst du auch mal fünf, sechs, sieben Posts am Tag machen.“
Denn was bringt ein Schaufenster, wenn darin nur zwei Artikel stehen? Später allerdings, das werde ich meiner Mutter beizeiten erklären, sollte sie die Frequenz runterschrauben. Eher ein bis zwei Posts pro Tag, um die Follower nicht mit zu viel Content zu beschießen und – wenn die Nutzer gelangweilt die Inhalte überspringen – von Instagrams Algorithmus abgestraft zu werden.
Das ist aber alles egal, solange der Käufer nicht weiß, wie er an die Produkte herankommt. Für viele der Kunden von Jam Pot ist das ganze Thema Shopping über Instagram ja genauso Neuland wie für Ingrid. Kein Wunder, wer hätte vor drei Monaten die Prognose gewagt, dass Instagram einmal über Wochen die einzige Möglichkeit sein wird, in der Nachbarschaft etwas anderes als Klopapier und Lebensmittel kaufen zu können.
Darum bläue ich meiner Mutter ein, in jeden, wirklich jeden einzelnen Post nicht nur reinzuschreiben, um welche Artikel von welchen Marken es geht. Sie soll ebenfalls erwähnen, dass diese Produkte auch aktuell bestellt werden können und dass sie die Ware rund um ihren Laden in Essen sogar ausliefert. Außerdem rate ich Ingrid, immer auch ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse in die Posts zu packen, um auch jene Kunden zu erreichen, die ähnlich instagram-unerfahren sind wie sie selbst – und von einer Aufforderung wie „Bestellung per DM“ ohne Enkel neben sich komplett überfordert wären.
Wobei die meiste Zeit unseres Calls dafür draufgeht, dass ich meiner Mutter in vielen Anläufen (und zunehmend genervt) ihren Hang zu prosaischen Produktumschreibungen austreibe. „Wunderschöne Becher aus Bone China, ideal für Teetrinker, die direkt ihren Beutel in die Tasse legen wollen …“, schreibt Ingrid. „Das ist viel zu lang“, stöhne ich. „Porzellanbecher 23,50 €“ steht letztlich unter dem Post. Dass der wunderschön ist, sehen die Leute ja auf dem Foto.
Der schönste Becher im schönsten Schaufenster nützt allerdings nichts, wenn niemand daran vorbeikommt. Die große Frage ist darum, wie gewinnt meine Mutter Follower und wie baut sie Reichweite auf? Bei einem lokalen Geschäft liegt es nahe, den Account zunächst einmal bei ihrer Vor-Corona-Kundschaft und den Anwohnern bekannt zu machen. Konkret empfehle ich Ingrid, Zettel in das echte Schaufenster des echten Ladens mit dem Hinweis auf @jampot_essen zu hängen und dazuzuschreiben, dass dort alle Produkte gekauft werden können, die im Laden stehen. „Häng es noch in dein Auto und an jede Straßenecke“, rate ich meiner Mutter. Aber bitte nur nachts und mit Mundschutz, wegen Risikogruppe und so.
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Was sind Stories?
Für den Aufbau von Followern und Reichweite gibt es auf Instagram aber kein Geheimrezept. Auch für Ingrid gilt: Ihr Content muss überzeugen und sie selbst aktiv auf der Plattform sein. Das heißt, anderen Kanälen zu folgen, die einen ähnlichen Fokus haben. Auf Kommentare muss sie schnell antworten und immer zeigen, dass sie Instagram wirklich nutzt. Bisher macht sie das auch super. Der Lohn: fast 400 Abonnenten und ein annähernd vierstelliger Umsatz nach 14 Tagen aktiver Instagram-Ingrid.
Am besten hält man Follower aber immer noch mit täglich neuen Inhalten bei der Stange. Damit kommt unsere Coaching-Session zu dem Punkt, vor dem ich am meisten Angst habe: das Stories-Format. Und meine Mutter, nun ja, ich kenne meine Mutter. „Was ist denn ,Stories‘? Soll ich da meinen Lebenslauf schreiben, oder was?“, fragt Ingrid, die natürlich genau weiß, dass sie das nicht soll – aber vermutlich keine Ahnung hat, dass ich nach zwei Stunden Call eigentlich längst in einem anderen Termin sitzen müsste. Und dass ich inzwischen definitiv nicht mehr in der Stimmung für solche Scherze bin.
Aber nur weil ich meine Mutter kenne, bedeutet das nicht, dass sie mich nicht immer wieder überrascht. Wie ein Digital Native nutzt sie ihre erste Story für eine kleine Videoführung durch Jam Pot. Auf die Spitzfindigkeiten der Stories verzichte ich trotzdem vorerst. Etwa, dass Ingrid, sobald sie denn einmal als Unternehmensaccount anerkannt wird, das Format nutzen kann, um bei einzelnen Posts Web-Adressen zu hinterlegen und die Nutzer so durch „hochwischen“ direkt auf die entsprechenden Website zu leiten. Zunächst reicht ihr ohnehin die Info, dass bei den Stories nach 24 Stunden alles gelöscht wird. Sie kann also ruhig experimentieren.
Und das macht meine Mutter. Vor einiger Zeit poppte bei Insta eine Story auf, in der sie ihren Kunden dankte, die ihr auch in der Corona-Zeit die Treue halten. Es könnte sein, dass wir etwas gestartet haben, das dem kleinen Laden noch hilft, wenn die Corona-Welle eines Tages abebbt. Und vielleicht war meine Coaching-Session die Keimzelle eines soliden Online-Geschäfts.
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