Hamburg. Die Digital- und die Marketingbranche krempeln ihre Arbeitsprozesse in der Pandemie gehörig um. Was wird davon bleiben?

Ein wenig dekadent war es mitten in der Corona-Krise schon, aber auch ganz originell: Anfang April lud der Online-Marketing-Dienstleister Yext zum virtuellen Gin-Tasting ein. Die Teilnehmer, mehr als 30 Kunden und auch einige Journalisten, bekamen vom Kooperationspartner Liquid Director im Vorfeld ein dickes Paket ins Haus geschickt. Inhalt: verschiedene Gin-Sorten, Tonic Waters, Sekt, Trüffelsnacks und Wacholderbeeren. All das wurde im Rahmen des etwa zweistündigen Tastings nach und nach gemixt und verkostet, immer unter fachkundiger Anleitung eines Zeremonienmeisters von Liquid Director. Zwischendurch – man war ja nicht nur zum Vergnügen dabei – gab es Infos über Yext. Zudem berichteten Kunden, wie gut sie mithilfe des Dienstleisters im Internet auffindbar sind und was das bringt. Das Feedback der Teilnehmer: gerne wieder!

Warum auch nicht? Wer keine Kunden-Events mehr veranstalten kann, muss sich etwas anderes einfallen lassen, um in Kontakt zu bleiben. Und die Hemmschwelle, ohne mühselige Anreise an einem virtuellen Tasting teilzunehmen (das man theoretisch jederzeit verlassen kann), liegt extrem niedrig. „Aktionen wie diese können wir uns auch sehr gut für die Zeit nach der Corona-Krise vorstellen“, sagt denn auch Barbara Eigner, VP Marketing & Sales Development Emea bei Yext.

Komplizierter wird’s, wenn man den Kunden nicht nur virtuell treffen, sondern konkret mit ihm arbeiten will – zum Beispiel bei der Produktion von Videos. Die Hamburger Agentur Videobeat hat daher ein eigenes #StayAtHome-Produktionskit entwickelt. Damit können Kunden über einen Livestream den Dreh von Videos und Werbespots in Echtzeit verfolgen und direkt Feedback geben. „Diverse Bundesländer haben sehr schnell Drehverbote ausgesprochen, und wir konnten unseren Kunden ohnehin nicht zumuten, zum Set zu kommen“, erklärt Geschäftsführer und Co-Founder An­dreas Groke. „Wir haben ein System entwickelt, über das nicht nur die Bilder der aufnehmenden Kamera gestreamt werden. Zusätzliche Kameras am Set übertragen die komplette Studiosituation.“ Theoretisch müsse nicht einmal der Produktionsleiter am Set anwesend sein.

Videobeat stellt den Kunden mit Remote Controls auch ein Tool zur Verfügung, mit dem sie durch die gesamten bisherigen Bilder und Filme scrollen können. „Mit diesen Systemen werden die Kunden viel stärker in den Entwicklungsprozess einbezogen“, sagt Groke. Auch hier spielen sich Methoden ein, die man lieb gewinnen kann. „Wir werden das System auch nach der Krise weiternutzen“, so Groke. „Es ist dann sehr einfach, sich mit dem Kunden einfach noch mal kurz virtuell im Studio zu treffen.“

Zalando-Werbespots in Rekordzeit

Die Agentur Kolle Rebbe sah sich kürzlich gezwungen, für Zalando mitten im Corona-Lockdown eine Werbekampagne abzudrehen – und das auch noch in Lichtgeschwindigkeit. „Als wir hörten, dass wir unter diesen Bedingungen nur drei Wochen Zeit für die Kampagne hatten, standen uns erst einmal die Schweißperlen auf der Stirn“, berichtet Geschäftsführer Lennart Wittgen. „Aber wir haben das als Herausforderung empfunden – richtig verlieren konnten wir ja eigentlich nicht.“

In der Kampagne „Together I am strong“ feiert der Modehändler elf Heimsportler, die zurzeit in den eigenen vier Wänden trainieren. Dabei werden Teppiche zu Yoga-Matten und Flaschen zu Gewichten – Kolle Rebbes Debüt als Kreativagentur für Zalando. Der Spot entstand komplett ohne die gewohnten Strukturen und Abläufe: Weil vor Ort keine Kamerateams und Visagisten möglich waren, wurden die Darsteller vorab mit Outfits versorgt. Gefilmt wurden sie von Partnern und Mitbewohnern. Die Regisseurin Stefanie Soho konnte sich nur per Videocall zuschalten.

Corona in Hamburg – die Bilanz des Bürgermeisters

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    Wittgen weiß um die Konsequenzen einer so schlanken und letztlich doch überzeugenden Arbeit: „Natürlich können derartige Methoden Begehrlichkeiten bei den Kunden wecken, was die Produktionsprozesse angeht.“ Wenn das doch alles so einfach und remote geht, warum nicht immer so? „Dazu muss man aber sagen: Nicht alles lässt sich auf diese Weise produzieren“, sagt Wittgen. „Ein high glossy Kinofilm wäre so nicht machbar gewesen.“

    Beispiele wie diese zeigen: Unter dem Druck der Corona-Krise entstehen neue Prozesse und Arbeitsweisen, an die man sich sonst gar nicht herangetraut hätte. Und vieles spricht dafür, dass sie nach dem Ende der allgemeinen Beschränkungen wieder eingemottet werden. So wird die Pandemie zum Experimentierfeld: Was geht auch virtuell, und was nicht?

    Homeoffice-Skeptiker – verstummen

    Die größte Veränderung wird – das ist ein No-Brainer – in der Bewertung des Themas Homeoffice bestehen. „Wir werden nach der Krise deutlich stärker remote arbeiten“, sagt Christian Wilkens, Chief Digital Officer bei der Mediaagentur Mediacom. „Die bisherigen Skeptiker sehen schon jetzt, dass es damit kaum negative Erfahrungen gibt.“ Aktuell läuft bei Mediacom die Implementierung eines umfassenden Workflow-Managements, das die standortübergreifende Arbeit erheblich vereinfacht.

    Weil nun sichtbar wird, dass Home­office funktioniert, wird man es künftig kaum noch mit guten Argumenten unterbinden können. Das mag dazu führen, dass der Zusammenhalt von Kollegen, die sich sonst jeden Tag persönlich sehen, geringer wird. Unternehmen aber, die über mehrere Standorte verfügen, schweißen ihre Teams über Zoom, Google Hangouts, Microsoft Teams oder Webex stärker zusammen – etwa beim Location-Based-Marketing-Dienstleister Uberall. „Die neue Remote-Kultur hat uns geholfen, ein wirklich global vernetztes Unternehmen zu werden“, resümiert Anja Popp, Vice President People. „Man definiert sich nicht mehr so stark über die Teams vor Ort.“ Der Austausch mit den Standorten in London, Amsterdam, Paris und Kapstadt sei nun viel selbstverständlicher geworden, weil die Meetings ohnehin digital laufen. „Besonders die Kollegen in den USA sind begeistert, sie arbeiten ohnehin fast alle über das gesamte Land verteilt im Homeoffice“, so Popp.

    OMR-Party mit Das Bo und DJ Plazebo:

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    Das Ganze hat für sie durchaus auch betriebswirtschaftliche Konsequenzen: Wenn mehr von zu Hause aus gearbeitet wird, werde man künftig intensiver über das Thema Bürokosten nachdenken. „Büros können als Co-Working-Spaces strukturiert werden und müssen nicht ständig Platz für alle Mitarbeiter bieten“, glaubt die Personalchefin. „Und man braucht nicht bei jedem Wachstumsschub neue Räumlichkeiten.“

    Pitch-Präsentation über Video

    Wo genau ein Teammitglied arbeitet, dürfte nach der Krise keine so große Rolle mehr spielen. Dies würde auch das Recruiting deutlich erleichtern: Neue Talente können in ihrer Heimatstadt – egal wo – wohnen bleiben, und man muss ihnen auch keinen Hamburg- oder München-Aufschlag zahlen, weil sie sich dort eine Wohnung suchen müssen.

    Mit der stärkeren Homeoffice-Kultur steigt die Bedeutung von Videokonferenzen. Sie können dazu führen, dass Meetings strukturierter, konzentrierter und präziser werden (siehe Kasten). Wie weit ihre Verbreitung reichen wird, ist allerdings noch nicht absehbar. „Wir haben bereits eine Pitch-Präsentation per Videokonferenz durchgeführt – das geht tatsächlich auch remote“, sagt Maik Richter, CEO der Berliner Werbeagentur Heimat. „Allerdings begann das Projekt schon vor dem Lockdown. Pitches fürs Neugeschäft laufen nach wie vor – mal sehen, ob finale Entscheidungen ohne ein persönliches Treffen gefällt werden. Ich halte es für denkbar.“ Richters Erfahrung: „Man kann über geteilte Bildschirme gut präsentieren. Ein Problem stellen aber nach wie vor Videos dar, die sich auf Videokonferenzen oft nicht ruckelfrei übertragen lassen.“

    Gleichzeitig – auch das liegt auf der Hand – wird man weniger unterwegs sein. „Es wird einen Paradigmenwechsel geben“, so Richter. „Die Reise wird zur Alternative der Videokonferenz – und nicht wie bislang umgekehrt.“ Allerdings dürfte dies wohl nicht dazu führen, dass man sich überhaupt nicht mehr physisch blicken lässt: „Treffen mit Kunden werden künftig eine höhere Qualität haben“, sagt Claas Voigt, Geschäftsführer des Targeting-Dienstleisters Emetriq. „Man wird nicht mehr nur für ein bisschen Small Talk reisen.“

    Starker Push für New Work

    Eine andere Tendenz zeichnet sich mit erstarkender Remote-Kultur ab: Die kurze Rückfrage, die informelle Absicherung beim Teamleiter wird an Bedeutung verlieren. So lange man nur kurz durch den Raum rufen musste, war das okay. Aber dafür extra eine Mail schreiben oder gar einen Videocall aufsetzen? Besser einfach mal machen. „Es ist gut möglich, dass es in den Unternehmen einen Schub für die Autonomie der Mitarbeiter, für mehr Entscheidungskompetenzen geben wird“, glaubt Michael Trautmann, Gründer der Sportmarketing-Agentur Upsolut Sports und gleichzeitig New-Work-Podcaster („On The Way To New York“).

    Agiles Arbeiten, flache oder keine Hierarchien, Selbstverwaltung, weitreichende Vernetzung – all das könnte nun einen deutlichen Push bekommen. „New-Work-Strukturen, die wir jahrelang gepredigt haben, werden nun ohne viel Umschweife blitzschnell umgesetzt“, sagt Trautmann.

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      Das ist Wasser auf die Mühlen von Emetriq-Chef Voigt. In seinem Unternehmen gibt es schon seit Langem kaum feste Strukturen. „Außer den beiden Geschäftsführern arbeiten die rund 90 Kollegen im Rahmen eines Modells ohne Hierarchien“, so Voigt. Umso einfacher sei es gewesen, die Mitarbeiter im Zuge der Krise nun aus ihren gewohnten Umgebungen und Strukturen herauszureißen. „Wir überspringen Dekaden an Entwicklung“, glaubt er. „Leadership 3.0 ist jetzt schon da.“

      Aber bei aller Begeisterung für die neuen Möglichkeiten: Natürlich sehnen die Menschen das Ende der Krise herbei, und die allermeisten wollen zurück ins Büro – der persönliche Kontakt ist durch nichts zu ersetzen. Zudem hat die Arbeit im Homeoffice viele konkrete Nachteile (siehe Grafik). Auch die Qualität der Arbeitsergebnisse kann leiden: „Wir werden mit dem Homeoffice effizienter, aber nicht unbedingt effektiver“, sagt Tobias Jung, CEO der Agenturgruppe TBWA. Warum? „Durch das virtuelle Arbeiten hat es der positive Zufall der ungeplanten Begegnung, der neue Ideen bringen kann, viel schwerer. Und im kreativen Prozess büßt man die Kraft der Gleichzeitigkeit ein. Wenn ich mit anderen Menschen in einem Raum bin, kann ich Ideen aufmalen, die wir dann gemeinsam weiterspinnen. Virtuell gibt es viel eher einen linearen Austauschprozess, eins nach dem anderen, Frage und Antwort. Das ist nicht dasselbe.“

      Virtuelle Lagerfeuer

      Vor allem aber fehlt der informelle Austausch, der Plausch in der viel zitierten Kaffeeküche, der Flurfunk, all das, was eine Gemeinschaft letztlich zusammenhält. In Videokonferenzen gelingt es auch nicht, die feinen Signale, die Zwischentöne aufzuschnappen, die viel über die gerade herrschende Atmosphäre aussagt. Es fällt auf, dass sehr viele Unternehmen zurzeit versuchen, zumindest virtuellen Ersatz für die spontanen Begegnungen und die soziale Wärme zu schaffen, die das physische Büro bietet. „Wir sehen Unternehmen, die mit Collaboration Tools eine virtuelle Office-Atmosphäre kreieren, zum Beispiel mit einem dauerhaften Zoom-Meeting“, sagt Trautmann.

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      Bei der Xing-Mutter New Work wurde das wöchentliche Company-Meeting in ein „Campfire“ umgewandelt. „Es geht darum, alle an einem virtuellen Feuer zu versammeln, das Wärme spendet, Nähe herstellt“, berichtet Marc-Sven Kopka, VP External Affairs. „Der Vorstand erzählt von aktuellen Entwicklungen, gibt einen Eindruck davon, wie das Unternehmen sich entwickelt. Einzelne Kolleginnen und Kollegen erzählen aus ihrem Alltag, davon, wie sie mit der Situation fertigwerden.“ Darüber hinaus haben sich digitale Sportangebote und Austauschformate etabliert, um den Kontakt aufrechtzuerhalten.

      Fast in jedem Unternehmen gibt es ähnliche Ansätze. Bei TBWA\ Group Germany gibt es neue virtuelle Angebote während der Corona-Krise: ein gemeinsames Frühstück am Montag, einen „Drunken Thursday“ und den „Kids Club“ morgens um 9.30 Uhr, mit dem die Kinder zu Hause mit Tanzen, Singen und Basteln unterhalten werden – was den Eltern eine ungestörte Dreiviertelstunde beschert.

      Facebook hat derweil das „Coffee Chat Roulette“ eingeführt. Dabei bekommt man zu bestimmten Zeiten Personen aus dem weltweiten Unternehmensnetzwerk zugelost, mit denen man sich im Rahmen einer kleinen Kaffeepause unterhält. Bei Yext gibt es freitags zum Wochenabschluss virtuelle Quiz-Abende für die Mitarbeiter, bei Mediacom „Feierabend-Biere“, Yoga- und Kochsessions. Eine Mitarbeiterin von Uberall bietet täglich um 12 Uhr eine virtuelle Meditation an. Und Emetriq hat in Microsoft-Teams eine virtuelle Kaffeemaschine eingerichtet, an der sich bis zu sechs Personen zum informellen virtuellen Chat treffen können.

      Aus fast allen Unternehmen ist zu hören, dass man einen Teil dieser neuen Formate wahrscheinlich auch nach der Krise beibehalten wird. Die Teams in den Büros brauchen sie eigentlich nicht – aber sie rücken enger mit denen zusammen, die nicht vor Ort sein können.

      • „Philipp – Volume 2 – Platz für Neues“ erscheint – passend zum ursprünglichen Termin der OMR – als digitales E-Paper. Im Magazin begegnen die Leserinnen und Leser vielen inspirierenden Menschen der digitalen Welt: Von Philipp Wes­termeyer, Jan Delay, Fynn Kliemann über Scott Galloway bis hin zu Gwyneth Paltrow.
      • Das erste „Philipp“-Magazin im vergangenen Jahr war eine Kooperation von OMR und Hamburger Abendblatt. Chefredakteur Lars Haider hatte die Idee. In diesem Jahr sind die Kollegen vom Fachmagazin „Horizont“ auch mit dabei. Auch OMR und „Horizont“ bieten das Magazin zum Download an.

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