Hamburg. Zimmerleute traten beim Bau der neuen Eisenbahnbrücke in den Ausstand und lösten den bis dahin größten Streik Hamburgs aus.

Das Werk ist kühn, der Job gefährlich, der Lohn lausig: Seit Anfang 1868 arbeiten Hunderte Maurer und Zimmerleute hoch über dem Strom an der ersten Brücke über die Norderelbe. Schlechte Sicherheitsvorkehrungen und Überbelastung durch viel zu lange Arbeitszeiten führen zu schweren Unfällen. Zudem wird die Unzufriedenheit über karge Löhne immer lauter.

Im April 1870 entlädt sich der Zorn der Ausgebeuteten dann in drastischen Maßnahmen: 60 Zimmerleute legen die Arbeit nieder, und viele Maurer schließen sich ihnen an. Rasch greift der Ausstand auch auf andere Baustellen der Stadt über. Als sogar die Arbeiten an neuen Kasernen an der Bundesstraße und in Wandsbek zum Stillstand kommen, schickt die Reichsregierung kurzerhand Streikbrecher an die Elbe: Es sind Bauarbeiter, die vom Militärdienst beurlaubt worden sind.

Der bis dahin größte Ausstand der Stadtgeschichte

So beginnt vor 150 Jahren der bis dahin größte Ausstand der Stadtgeschichte. Denn die Hamburger lassen sich die himmelschreienden Ungerechtigkeiten nicht länger gefallen: Erst liefern sich Einheimische und Fremde blutige Schlägereien, dann greift die Polizei mit Verhaftungen ein. Auf dem Höhepunkt der Krise sind 5000 Maurer und Zimmerleute betroffen.

30 Jahre später dient der Arbeitskampf der jungen Sozialdemokratin Rosa Luxemburg als Paradebeispiel für die dringende Notwendigkeit einer wehrhaften Gewerkschaftsbewegung: Für sie ist der Protest an Brücke und Kasernen „ein erschütternder Schrei des Elends, der Ausbeutung und der Knechtschaft“, der Streik aber „ein durchdringender Ruf an die Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer ersten Waffe im Kampfe um das Menschenrecht“.

6,60 statt 9,60 Mark für das Vermauern von 1000 Steinen

Besonders viel Wut weckt damals die immer schlechtere Bezahlung: „So wird über die Lohnverhältnisse der Hamburger Maurer berichtet, dass, während 1842 für die Vermauerung von 1000 Steinen 9,60 Mark gezahlt wurden, 1873 es nur noch 6,60 Mark gab“, schreibt die Politikerin 1899 in einer Artikelserie der „Leipziger Volkszeitung“ über den noch Jahrzehnte später in ganz Deutschland bewunderten Arbeitskampf.

Dazu kommen miese Ausbeutetricks: „Desgleichen werden zum Beispiel bei den Maurern, die pro 1000 vermauerte Steine entlohnt werden, immer größere und größere Steine eingeführt“, schreibt die berühmte Sozialdemokratin, die damals sogar mit dem Gedanken spielt, selbst von Berlin an die Elbe überzusiedeln: Das „rote Hamburg“ gilt längst als wichtigste Frontstadt im antikapitalistischen Kampf. Schon bei der Gründung des SPD-Vorläufers Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein (ADAV) im Jahr 1863 sind Hamburger führend, so Theodor Yorck, Vorsitzender der Tischler und Holzarbeiter, Jakob Audorf, Verfasser der Arbeiter-Marseillaise, oder der Lyriker und Buchhändler August Geib.

Fatale Folge für die Werktätigen

Anfang der 1870er-Jahre ist die Hansestadt auch Sitz der meisten Gewerkschaftsvorstände. Für Rosa Luxemburg aber ist die Entwicklung ein „stetes Herabsinken in den Abgrund der wirtschaftlichen und, im logischen Zusammenhang damit, auch der geistigen Verwahrlosung“. Denn „während mit dem Einzug des Großkapitalismus die kapitalistischen Profite mit schwindelnder Rapidität wachsen, sinken ebenso rapid die Einkommen der Arbeiter.“

Fatale Folge für die Werktätigen, so die junge Politikerin: „Die Zeit, während der sie an die Saugpumpe des Kapitalismus gefesselt sind, wird verlängert, ihre Muße gekürzt, ihre Leistung immer schwerer gemacht, ihr Lebensblut und Hirn immer mehr ausgesogen, sie selbst erbarmungslos in eine tierische Existenz hinabgedrückt!“

Jobangebot für Schriftsteller Karl May

Aber die jungen Gewerkschaften erkämpfen auch erste Erfolge: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird die immer rücksichtslosere Ausdehnung der Arbeitszeit gestoppt, statt 14 Stunden hat der Arbeitstag nur noch zehn Stunden, und die Sonntage sind frei.

Und auch die Löhne beginnen bald zu steigen. 1870 verdient ein Maurer im Jahr nur 660 Mark (umgerechnet knapp 6000 Euro), 20 Jahre später sind es immerhin 1160 Mark. In vielen anderen Berufen läuft es allerdings kaum besser: 1870 bietet der Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer dem Schriftsteller Karl May einen Redakteursposten mit einem Jahresgehalt von 1800 Mark (umgerechnet gut 16.000 Euro) an.

Erbitterter Widerstand der Arbeitgeber

Die Lohnerhöhung gelingt gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber, die sich damals „Brotherren“ nennen lassen: „Es ist allezeit der Geldtrotz, der durch brüske Abweisung der Verhandlungen, durch einen ‚patriarchalischen‘ Fußtritt die Arbeiterschaft mit Gewalt zum Kampfe treibt, ihnen den Ausstand als einziges Verhandlungsmittel mit dem deutschen Unternehmer aufzwingt!“, klagt Rosa Luxemburg. Verhandlungsführer der Gewerkschaften werden als „Aufwiegler“ festgenommen, Streikenden mit Peitschenhieben gedroht.

Streiks in Hamburg

  • 1853 Die Hamburger Schiffs­zimmerer erkämpfen mehr Lohn und ein Beschäftigungsverbot für Nicht-Hamburger.
  • 1865 Im Frühjahr setzen die Korbmacher, im Juli auch Schiffszimmerer, Maurer, Tischler, Maler, Bauarbeiter und Schneider in harten Arbeitskämpfen viele Forderungen durch.
  • 1869 In der Waggonfabrik Lauenstein & Croissant streiken 1300 Metaller gegen Lohnkürzungen. Der Direktor erschießt einen Ar­beiter. Die Metaller siegen, aber die Fabrik geht pleite.
  • 1872 Hamburg Schiffszimmerer setzen nach vier Wochen Streik höhere Löhne durch.

Auch nach dem Ausstand an den Elbbrücken schimpfen Unternehmer, man solle den Maurern, Zimmerern und anderen Arbeitern lieber sogar noch etwas vom Lohn abziehen, statt ihnen etwas draufzulegen. Forderungen nach mehr Lohn oder Freizeit gelten den Mächtigen als „unerhörte Frechheit“. Den Gesellen, so lautet eine oft gehörte Forderung, müsse gezeigt werden, dass sich „die Meister keine Vorschriften machen lassen, sondern vorläufig noch zu befehlen haben!“.

Die Sozialdemokratie wird zum neuen Machtfaktor

Bei den bestreikten Bauprojekten geht es nicht nur ums Prestige. Die gut 430 Meter lange Norderelbe-Brücke ist für die Entwicklung der Stadt von überragender Bedeutung: Sie soll zwei Bahngleise der Strecke von Hamburg nach Venlo in den Niederlanden auf vier Pfeilern über die Elbe führen und damit auch Kiel und Lübeck an das deutsche Eisenbahnnetz anschließen.

Die neuen Kasernen wiederum sind für Infanteristen vorgesehen, die Otto von Bismarck – damals noch Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes – im Juli in den Krieg gegen Frankreich schicken wird. Die Maurer, Zimmerer und anderen Gewerke können sich allerdings einen langen Arbeitskampf nicht leisten, und so beenden nach erbitterten Auseinandersetzungen im Juni Kompromisse die Krise.

Am 1. Dezember 1872 wird die Bahnlinie über die Norderelbe-Brücke eingeweiht. Der Krieg gegen Frankreich ist da bereits gewonnen, das zweite deutsche Kaiserreich gegründet, aber auch die Sozialdemokratie als neuer Machtfaktor nicht mehr unterzukriegen.