Hamburg. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Gläubige nicht lutherischer Konfessionen Bürger zweiter Klasse gewesen.
Der Beschluss der Hamburger Bürgerschaft in der Sitzung vom 16. Dezember 1819 ist durchdacht, mehrheitsfähig und sehr detailliert: Der überflüssig gewordene Festungswall solle zwar in der alten Breite erhalten bleiben, alle Bastionen aber seien „auf den natürlichen Boden abzutragen“ und die „scharfen Ecken und Winkel“ des Stadtgrabens „in geschlängelter Form durch Abgraben und Zuschütten abzurunden“. Wesentlich knapper formuliert, aber nicht weniger folgenreich wirkt eine zweite Entscheidung der 215 anwesenden Parlamentarier. Sie lautet: „Erbgesessene Bürgerschaft genehmigt die Aufhebung des 5ten Artikels des Reglements von 1814 über die Verhältnisse der christlichen Religions-Verwandten.“
Erst mit diesem Beschluss zieht, vor 200 Jahren, in Hamburg die Glaubensfreiheit ein: Zum ersten Mal seit der totalen Machtübernahme der Lutheraner im Jahr 1530 sind Katholiken, Juden, aber auch Reformierte und alle anderen Angehörigen „nicht lutherischer“ Konfessionen nicht mehr Bürger zweiter Klasse. Sie alle dürfen von nun an nicht nur eigene Gotteshäuser bauen und eigene Gottesdienste feiern, sondern sich als vollwertige Mitglieder der Stadtgesellschaft sogar in die Bürgerschaft, in den Senat und in alle anderen Kollegien der öffentlichen Dienste wählen lassen.
Erbitterter Widerstand der Kirche
Was heute selbstverständlich ist, wird erst nach einem ganzen Jahrhundert zähen Ringens gegen den erbitterten Widerstand einer in Hamburg besonders machtbewussten evangelisch-lutherischen Kirche durchgesetzt.
Die zu jener Zeit gültige Verfassung stammt aus dem Jahr 1712 und gewährt den vielen zugewanderten Andersgläubigen kaum die geringsten religiösen Rechte. Juden aus Portugal, Reformierte aus den Niederlanden, Hugenotten aus Frankreich und vor allem die „Papisten“, als eine Art fünfte Kolonne des Vatikans verdächtigten Katholiken, können ihren Glauben nicht offen praktizieren.
„So durften die Gebäude, die Nicht-Lutheraner für ihre privaten Gottesdienste in Hamburg benutzten, nicht von außen als solche kenntlich sein, also keine Türme oder Glocken aufweisen“, berichtet der Historiker Thomas Weller. „Vergleichbares galt für jüdische Bethäuser, die sich meist in Hinterhöfen befanden. Religiöse Riten mussten im Verborgenen vollzogen werden – oder eben außerhalb der Stadtmauern“, etwa im nahen Altona, wo der Straßenname „Große Freiheit“ die Toleranz der damals dänischen Obrigkeit bis heute rühmt.
In Hamburg steht die Weltoffenheit der blühenden Kaufmannsrepublik immer wieder im scharfen Gegensatz selbst zu diskretesten Formen andersgläubiger Frömmigkeit. Im September 1719 etwa hetzt ein orthodox-lutherischer Hassprediger im Michel eine aufgeputschte Volksmenge auf die Botschaft des kaiserlichen Gesandten Graf Adolf von Metsch am nahen Krayenkamp. Der Adelsmann hat dort mit Zustimmung des Senats im Hinterhof eine kleine Privatkapelle für seine katholischen Gäste errichten lassen. Der Pöbelhaufen legt die unwillkommene Andachtsstätte nachhaltig in Trümmer.
Hamburgs Gesandte mussten beim Kaiser Abbitte leisten
Auch vor der Gesandtschaft macht die Zerstörungswut nicht halt. Fensterscheiben bersten, das kostbare Mobiliar wird zerlegt, der Hausrat fliegt in weitem Bogen hinaus. Erst Stunden später greift das Stadtmilitär ein und verhaftet einige Missetäter, lässt sie aber wenig später laufen. Das wird teuer. Kaiser Karl VI. gerät so in Rage, dass Hamburgs Gesandte in Wien kniend Abbitte leisten und 200.000 Gulden Schadenersatz blechen müssen. Für weitere 120.000 Mark stellt die Stadt dem Gesandten dann das Stadtpalais des Grafen Görtz am Neuen Wall zur Verfügung.
Die strenge Strafe stiftet keinen Frieden. Erst als die Truppen Napoleons in die Stadt einziehen, lässt nach dem berühmten Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Druck auf Juden und Katholiken etwas nach. Mit Gott hat die Französische Revolution allerdings nichts am Hut: Sie setzt die strikte Trennung von Staat und Kirche durch, und ihre Soldaten machen Hamburgs Hauptkirchen zu Pferdeställen.
Als die verhassten Besatzer endlich verschwinden, wollen die Hamburger mit dem Reglement von 1814 die alten Verhältnisse wiederherstellen. Auch der umstrittene 5te Artikel mit der Einschränkung der Religionsfreiheit tritt wieder in Kraft. Das aber geht nicht lange gut. Denn schon ein Jahr später vereinigen sich die „souveränen Fürsten und freien Städte Deutschlands mit Einschluss des Kaisers von Österreich und der Könige von Preußen, von Dänemark und der Niederlande“ zum Deutschen Bund.
Auch Hamburg muss mitmachen. Und die für alle Mitglieder verbindliche „Bundesacte“ legt in Artikel 16 unmissverständlich fest: „Die Verschiedenheit der christlichen Religionsparteien kann in den Ländern und Gebieten des Deutschen Bundes keinen Unterschied in den Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte begründen.“
Senat wollte keinen Skandal in der christlichen Welt riskieren
Der Ratsbeschluss vom 16. Dezember 1819 setzt diesen Artikel nun auch in Hamburg um. Allerdings vorerst nur theoretisch. Die Katholiken werden dabei nicht gefragt. Zwar erhalten sie als erstes eigenes Gotteshaus den „Kleinen Michel“. Die Verhandlungen über die praktische Gleichstellung aber, so der Jurist und Dichter Lebrecht Dreves in seiner „Geschichte der katholischen Gemeinden zu Hamburg und Altona“, ziehen sich lange hin. Selbst die Lösung um den Kleinen Michel steht plötzlich wieder infrage.
Hamburg 1819
- 6. Mai Der Grundstein für die neue St.-Pauli-Kirche wird gelegt. Das alte Gotteshaus hatten die Franzosen niedergebrannt.
- 19. August Jüdische Kaffeehausbesucher werden von anderen Gästen verjagt. Flugblätter mit der Parole „Hepp-Hepp – Jude verreck“ tauchen auf. Als ein Mob randalierend durch die Straßen zieht, greift das Bürgermilitär ein.
- 9. September Die Bürgerschaft lehnt die Kriegspflicht des Deutschen Bundes ab, nach der Hamburg ein Kontingent von einem Prozent der Bevölkerung ins Feld schicken soll. In der Stadt leben rund 120.000 Menschen.
- 22. Dezember Hamburg gibt sich den Titel „Freye und Hansestadt“.
Erst 1824 wird, so der Chronist, „dem Streit endlich dadurch ein Ende gemacht, daß Senat und Bürgerschaft, wohl einsehend, daß die Exmission der an die 6000 Seelen zählenden Gemeinde in den Augen der ganzen christlichen Welt ein gar arges Scandalum sein würde, sich endlich im conventum vom 21. Oktober entschlossen, den großen Michaeliten die katholische Kirche nebst einem Teile des sie umgebenden Kirchhofes für 30.000 Mark Banco abzukaufen und der katholischen Gemeinde, gegen Entrichtung eines ermäßigten Kaufpreises, als Eigentum zu überliefern.“
Damit ist die Religionsfreiheit endgültig durchgesetzt. Die „Entfestigung“ Hamburgs mit Abrundung des Stadtgrabens „in geschlängelter Form“ dauert wesentlich länger: Die letzten Reste des Walls werden erst 1837 abgeräumt.