Hamburg. Zeitzeuge Jürgen Franke musste beim Jungvolk noch Panzersperren ausheben – und erlebte dann freundliche britische Soldaten.

Ich war bei Kriegsende zwölf Jahre alt und lebte in Blankenese. Damals war ich ein begeisterter Jungenschaftsführer im „Jungvolk“ und hin- und hergerissen zwischen Einsicht und Durchhaltewillen. Wir lebten damals an der Süllbergterrasse und hatten vom Balkon aus einen Blick über die Elbe vom Schweinesand über das Alte Land bis Finkenwerder.

Ich erinnere noch einen der letzten großen Bombenangriffe auf den Hafen, das muss Ende 1944 gewesen sein. Unser Blick ging gen Südosten Richtung Hafen, und wir sahen Feuer und Rauchwolken aufscheinen. Damals nahm mich mein Vater beiseite und fragte mich: „Wem haben wir das zu verdanken?“ Arglos antwortete ich: „Den Engländern.“ Und mein Vater entgegnete: „Nein, das haben wir dem größten Feldherrn aller Zeiten zu verdanken.“ Unser Luftschutzwart war übrigens der Schriftsteller Hans Leip, der mit seiner Familie neben uns wohnte.

Meine Eltern waren politisch indifferent; überhaupt gab es in Blankenese weniger NSDAP-Anhänger. Mein Vater war als sogenannter „Märzgefallener“ im März 1933 der NSDAP beigetreten, wohl mehr aus Opportunismus denn aus Überzeugung. Ich weiß noch, wie ich kurz vor Kriegsende mit Schrecken wahrgenommen habe, dass er den deutschsprachigen BBC-Sender hörte. Ich war erschüttert und habe mich dem Jungzugführer offenbart: „Mein Vater hört auch BBC; es ist sowieso alles vorbei“, sagte der. Das hat mich sehr nachdenklich gemacht.

Ich erinnere noch, dass ich mit elf bis zwölf Jungs 1944 am Führernachwuchslager teilgenommen habe. Da wurden wir mitten in der Nacht geweckt, und uns wurde gesagt, wir müssten russische Gefangene jagen, die entkommen waren. Wir nahmen unsere Fahrtenmesser, und tatsächlich gelang es uns, drei, vier finstere Gestalten mit Glatze festzunehmen – das waren 17-, 18-jährige Hitlerjungen, die man verkleidet hatte. Wir haben beim Jungvolk nicht nur exerziert, sondern mussten uns auch am Ausheben von Panzersperren am Falkenstein oder dem Wildgehege in Rissen in den letzten Kriegswochen beteiligen.

Am 1. Mai vermeldete der Rundfunk, dass der Führer im Kampf gefallen sei - da war ich schon skeptisch: Das war für mich doch ein alter Mann!

Ende April 1945 saßen wir auf unserem Balkon. „Da drüben sind die Engländer, wenn die durch das Fernglas schauen, sehen sie einen kleinen dicken Mann“, sagte mein Vater selbstironisch. Vier Tage später waren sie da. Ich war hin- und hergerissen: Mir war klar, die Waffen schweigen nun, dich trifft es nicht mehr. Wir hatten Angst vor den Fremdarbeitern und mussten alle Zeugnisse der Nazi-Zeit loswerden: Ich habe alle meine Schiffe und Flugzeuge vergraben, habe meine Uniform der Heizung überantwortet. Und dann einige Wochen nach dem Krieg sah ich englische Soldaten am Blankeneser Strand NS-Devotionalien gegen Bonbons und Schokolade tauschen. Ich ging leer aus.

Die englischen Soldaten waren zunächst sehr zurückhaltend, in der Blankeneser Bahnhofsgegend sah man dann Jeeps und Laster – ich erinnere noch, dass die Soldaten deutlich praktischer gekleidet waren, sie trugen keine übertriebenen Uniformen. Bald spürte ich eine außerordentliche Freundlichkeit; ich lernte dann schnell Englisch und diskutierte mit Soldaten, welches das beste alliierte Jagdflugzeug war – die Mustang oder die Supermarine Spitfire.

Es war eine Zeit innerer Zerrissenheit, ich habe mich dann aber schnell gefangen und mich weitgehender informiert: Im British Information Center habe ich 1946/47 die Protokolle über die Nürnberger Prozesse eingesehen. Erst da ist mir endgültig klar geworden, welchem verbrecherischen System ich verfallen war. Ich fühlte mich durch die Nazis ausgenutzt.

Jürgen Franke war bis bis zur Pensionierung 1997 Jugendkammer-Vorsitzender am Landgericht und lebt in Rissen. Aufgezeichnet von Matthias Iken