Hamburg. Teil eins: Professoren der Uni Hamburg schreiben über Einschränkungen unseres Lebens und unserer Grundrechte.
Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg
Viele Schülerinnen und Schüler, Eltern und das pädagogische Personal fragen sich in diesen Tagen, ob die Einschränkungen auch ihrer Bildungsarbeit eigentlich rechtmäßig sind. Das ist auch, aber nicht nur, eine juristische Frage, vor allem aber eine pädagogische. Denn wir wollen unsere Kinder ja zu demokratischer Freiheit erziehen – und das im „Gefängnis“ der eigenen, oftmals engen Wohnung, ohne körperliche Kontakte zu anderen? Kann so zur Freiheit erzogen werden?
Ja, das ist möglich, in einer Hinsicht sogar leichter als im lärmumtobten Klassenzimmer. In seinem berühmten Fesselgleichnis lässt Platon den Philosophen Sokrates, der gefesselt in Gefangenschaft lebt, eine Erfahrung mitteilen. Sokrates sagt sinngemäß, als ihm die Fesseln entfernt werden: Nur wer die Fessel kennt, kann ihre Abwesenheit wertschätzen. Er will sagen: Freiheit ohne die Erfahrung der Unfreiheit ist nicht denkbar.
Die Sehnsucht nach Freiheit nährt sich aus der Erfahrung der Unfreiheit, aus dem Zwang des Notwendigen. Menschen haben ihre Fesseln dann abgestreift, wenn sie in Unfreiheit lebten – das uns allen noch gegenwärtige Beispiel der deutschen Revolution von 1989 zeigt es.
Wir lernen zu schätzen und zu verteidigen, was auf dem Spiel steht. Im Augenblick ist es die bedrohte Freizügigkeit (Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern!), die Selbstbestimmtheit der Person (Versammlungsverbote), die freie Berufsausübung (Schließung von Geschäften), ja, das Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie überhaupt, wenn Parlamente nur in halber Besetzung tagen. Viele andere Verfassungsgarantien sind ebenfalls betroffen.
Jetzt kommt es darauf an, dass wir unseren Kindern und Lernenden aus ihrer Lernsituation heraus produktiv vor Augen führen, was auf dem Spiel steht: die Lebensweise in der alteuropäischen Tradition seit der Französischen Revolution. Was für eine Chance, unserer Demokratie, die schon sehr zu lahmen drohte, einen kraftvollen Schub zu verschaffen!
Coronavirus – die Fotos zur Krise:
Prof. Dr. Peter Niesen, Politische Theorie
In der Coronakrise geraten nicht nur Freiheiten unter Druck, sondern das Freiheitsverständnis selbst. Zunächst fallen die persönlichen Zumutungen ins Auge, die massiven Einschränkungen der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Freiheit liegt zuallererst darin, tun zu können, was man will. Für diesen anarchischen, vulgären, negativen Freiheitsbegriff spricht einiges, nicht zuletzt das Grundgesetz, und kein Freiheitsverständnis ist vollständig ohne ihn.
Was in der Konzentration auf die Zumutungen ausgeblendet wird, ist die Frage, was aus der politischen Freiheit wird. Der politische Freiheitsgebrauch verlangt mehr und anderes als die Abwesenheit von Zwang. Er erfordert zunächst, dass alle Tugendappelle und Strategien, alle krisenbedingten Einschränkungen und auch die verfassungsrechtlich kreative Weise, in der sie verhängt werden, dem Säurebad der Kritik ausgesetzt werden. Das funktioniert auch erstaunlich gut, in der Qualitätspresse und in Online-Foren vom Verfassungsblog bis zu YouTube-Vorlesungen.
Unsichtbar bleibt dagegen derzeit, wer keine starke Online-Präsenz hat. Wirkungslos bleibt, was Nähe, Geduld und persönliche Überredung braucht, um entwickelt zu werden. Hart trifft das Versammlungsverbot nicht nur diejenigen, die keine Lobby in der Medienöffentlichkeit haben, es beraubt auch die anderen elementarer Anstöße. Darin liegt ein Unterschied auch noch zu den derzeit ebenso prekären kulturellen und religiösen Freiheiten. Politische Freiheit erfordert, sich von Themen, Akteuren und Positionen konfrontieren zu lassen, die man sich nicht ausgesucht hat. Die Ausgangsbeschränkungen erodieren so die politische Differenz zwischen der kontroversen, diskussionsfreudigen Großstadt, in der die Gegensätze schroff aufeinanderprallen, und der repressiven Harmonie des Landlebens. Wer sonnabends auf der Sternschanze demonstrierte, in den Einkaufsstraßen eine verstörende Aktion inszenierte, im Grindel irritierende Graffiti gesprüht hat, bleibt nun verborgen. Nie zuvor ließ sich dem anderen so leicht ausweichen.
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Prof. Dr. Birgit Recki, Praktische Philosophie
„… niemand wird je frei sein, solange es Plagen gibt“, heißt es in einem Text, der in den letzten Wochen (wieder)entdeckt wurde. So großartig der Roman „Die Pest“ von Albert Camus auch ist – dieser Freiheitsbegriff führt in die Irre. In dem, was als realistische Einsicht in eine existenzielle Objektivität auftritt, lauert der Fatalismus. Denn was uns Menschen unfrei sein lässt, sind nie die natürlichen Umstände in der Welt (weder die Schwerkraft, die uns daran hindert, uns wie die Vögel in die Lüfte zu erheben, noch die „Plagen“). Freiheit oder Unfreiheit entscheidet sich daran, wie wir uns auf objektive Gegebenheiten, selbst die extremsten, einstellen und mit ihnen umgehen.
Wir sind frei, indem wir aus eigener Einsicht und aus Gründen handeln. Das tun wir stets unter Rücksicht auf gegebene Bedingungen. Wer krank ist und ärztliche Hilfe sucht, wird sich den Anweisungen des Arztes freiwillig unterziehen und dann nicht finden, dass es ihn unfrei macht, die verordnete Medizin auch einzunehmen, regelmäßig die Termine der Physiotherapie einzuhalten oder während der ganzen Dauer der Zahnoperation den Mund offen zu halten.
Wenn unter den Bedingungen einer lebensbedrohlichen Epidemie eine ganze Gesellschaft zum potenziellen Patienten wird und es gilt Menschenleben zu retten, wird die Einsicht, die der Einzelne im Falle seiner bedrohten Gesundheit für sich selbst aufbringt, von jedem Einzelnen, von allen und für alle gefordert. Nichts anderes, als einer solchen Forderung an die Einsicht aller Nachdruck zu verleihen, ist die Funktion des Rechts – etwa der Regeln, die jetzt per „Notverordnung“ in Geltung gesetzt sind.
Wird man da in Abwandlung des Satzes bei Camus sagen wollen: „… niemand wird je frei sein, solange es rechtliche Beschränkungen gibt“? Oder wird man sich an die Einsicht Immanuel Kants erinnern, der die Funktion des Rechtes darin sieht, die Handlungsfreiheit des einen mit der eines jeden anderen vereinbar zu machen?
Was für eine Freiheit sollte das denn sein, die nicht die Einsicht in die Notwendigkeit von Selbstbeschränkungen im Interesse der anderen enthielte – wenn es um ihr Leben und ihre Freiheit geht?
Prof. Dr. Stefan Oeter, öffentliches Recht, Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht
Freiheitsverluste in Notstandssituationen sind historisch nicht gerade eine neue Erfahrung. Der frühneuzeitliche Staat ging in Situationen extremer Bedrohung mit den Freiheiten seiner Bürger recht robust zu Werke. Der paradigmatische Fall einer solchen Bedrohung war historisch die äußere Bedrohung durch Krieg, rechtlich gefasst in der Form des ,Belagerungszustands‘. Wie der Name schon sagt, reagierte diese Sonderlage zunächst auf die Situation eines bevorstehenden Angriffs auf eine befestigte Stadt. Die Rechte der Bürger mussten in dieser Situation eingeschränkt werden, um das städtische Leben auf die militärische Bedrohungslage einzustellen. Der frühneuzeitliche Flächenstaat weitete diese Lage massiver Einschränkungen bürgerlicher Rechte und Freiheiten auf ganze Regionen aus, die von Kriegsführung betroffen waren. Eine paradigmatische Formulierung erfuhr diese freiheitsbeschränkende Notstandslage im preußischen Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851, das bis ins frühe 20. Jahrhundert die Rechtslage im Deutschen Reich bestimmte.
Wenn der König (bzw. ab 1871 Kaiser) den Belagerungszustand verhängte, wurden damit die bürgerlichen Freiheiten drastisch eingeschränkt. Seine Verhängung war nicht mehr an einen äußeren Notstand gebunden, sondern konnte auch bei inneren Unruhen oder Aufständen angeordnet werden. Es wurden Kriegsgerichte eingesetzt, die bei bestimmten Delikten Zivilisten in einem summarischen Verfahren aburteilen konnten (einschließlich Todesstrafe). Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit waren suspendiert, die Gewerbe-, Presse- und Vereinsfreiheit stark eingeschränkt. Diese Tradition prägte auch die Rechtslage in den Jahren der Weimarer Republik, wo die Verhängung des Ausnahmezustands in Situationen extremer Bedrohung der Sicherheit und Ordnung immer wieder vorkam.
Das Hantieren mit dem Ausnahmezustand prägte die Phase der inneren Wirren unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges, aber feierte auch eine Renaissance im Krisenjahr 1923. Völlig aus den Fugen geriet der Ausnahmezustand schließlich mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 und dann dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat“, dem sogenannten Ermächtigungsgesetz, mit dem der weitgehende Freiheitsverlust zum Normalzustand wurde.
Prof. Dr. Johann Anselm Steiger, Kirchen- und Dogmengeschichte
Ein winziges Virus entfaltet ungeheure Wirkung. Es bringt rund um den Globus Krankheit mit sich und fordert Tote. Es schränkt das soziale Miteinander, auch die gottesdienstliche Praxis ein. Es legt die Weltwirtschaft und das kulturelle Leben weitgehend lahm. Aus all dem resultiert ein hohes Maß an Freiheitsverlust. Mehr noch: Weltweit erfahren Menschen, wie zerbrechlich und vergänglich die Existenz auf diesem Planeten ist. Das weit verbreitete Ideologem der technologischen Machbarkeit von letztlich allem und jedem, der Beherrschbarkeit der Natur erfährt eine grundstürzende Infragestellung.
In den Nachrichtenmedien ist eine recht starke Präsenz religiösen Vokabulars zu beobachten. Die Rede ist von Demut, welche die pandemische Situation erheische. Die Pandemie wird mit der Sintflut parallelisiert. Der Bürgermeister von New York spricht vom D-Day, wobei die Semantik des Doomsday (Tag des Jüngsten Gerichts) mitschwingt. Zugleich aber fällt auf, dass – anders als bezüglich der Flüchtlings- oder Klimakrise – die Kirchen in der medialen Öffentlichkeit kaum hörbar sind. Dabei wären gerade innerhalb dieser Krise Botschaften, die die Menschen – auch diejenigen, die im Gesundheitswesen täglich mit dem Tod konfrontiert sind und ihr Leben riskieren – stärken, sie ermutigen und trösten, aber auch ermahnend nachdenklich machen, nötiger denn je.
In der Frühen Neuzeit wurden Ereignisse wie z. B. Pest und Erdbeben als Fingerzeige Gottes gelesen: als Weckrufe zur Änderung des Lebensstils, d. h. zur Buße, zur Besinnung auf Gott als den Schöpfer und Richter der Welt. Die Kirchen schweigen diesbezüglich und spiegeln damit den Umstand wider, dass sich die Theologie die Sprachfähigkeit zu diesem Thema seit dem 19. Jahrhundert weitgehend abgewöhnt hat.
Dieses Vakuum missbrauchen religiöse Fundamentalisten, die sich (widergöttlich) an die Stelle Gottes, des Richters, setzen und in der Pandemie eine Bestrafung der Homosexuellen und anderer üblicher Verdächtiger sehen. Nein! In der Kritik stehen angesichts der Krise ausnahmslos alle und werden sich in dieser aufgenötigten Solidarität über die Grenzen des Wachstums, den globalen Massen- und Virentourismus, das weltweite Gesundheitssystem und vieles mehr Gedanken machen und Lebenspraxen schlicht ändern müssen.