Hamburg. Corona statt Klima: Hat die eine Krise die andere verdrängt? Ein Gespräch mit Klimaaktivistin Luisa Neubauer.

Man kann sich aus heutiger Sicht gar nicht vorstellen, dass es vor wenigen Wochen noch völlig normal war, dass Zehntausende Menschen eng an eng durch Hamburgs Straßen zogen. Es war der 21. Fe­bruar, zwei Tage vor der Bürgerschaftswahl, und die Klimaaktivisten von „Fridays for Future“ hatten zu einer großen Demonstration aufgerufen. Mittendrin: die beiden wichtigsten Gesichter der Protestbewegung, die Schwedin Greta Thunberg und die Hamburgerin Luisa Neubauer.

Inzwischen sitzen die zwei, wie Millionen Menschen in Europa, zu Hause. Das Coronavirus macht nicht nur Demonstrationen unmöglich, es zieht auch alle Aufmerksamkeit auf sich – der Politik, der Medien, der Menschen. Und die Klimaaktivisten kommen sich, wie so viele andere in diesen Tagen, wie in einem falschen Film vor. Einerseits, weil die Lage so ist, wie sie ist.

Corona und Klima: Was bedeutet die eine globale Krise für die andere?

Andererseits, weil all das, für das „Fridays for Future“ in den vergangenen anderthalb Jahren mehr oder weniger vergebens gekämpft hat, auf einmal funktioniert. Auf einmal hört die Politik auf Wissenschaftler, wenn auch auf Virologen und nicht auf Klimaforscher, auf einmal richtet sie ihre Maßnahmen nach deren Empfehlungen aus. Und mutet den Menschen dabei so viel zu wie vielleicht noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Was heißt das für den Kampf gegen den Klimawandel, der ja weitergeführt werden muss, wenn Corona besiegt ist, und dessen Folgen deutlich bedrohlicher sind als das Virus? Was bedeutet die eine globale Krise für die andere? Das Hamburger Abendblatt sprach darüber mit Luisa Neubauer (23).

Hamburger Abendblatt: Es ist noch nicht mal einen Monat her, dass Zehntausende in Hamburg für das Klima auf die Straße gegangen sind und dass die Klimapolitik eines der entscheidenden Themen bei der Bürgerschaftswahl war. Von heute aus wirken diese Tage Ende Februar auf mich wie aus einem anderen Jahrhundert ... wie geht es Ihnen?

Luisa Neubauer: Ja, das sind wirklich, wirklich außergewöhnliche, skurrile Zeiten diese Tage. Die Frage nach „Wie geht es dir?“ scheint dabei neuerdings von medizinischer Tragweite zu sein; ich bin gesund! Darüber hinaus mache ich mir natürlich Sorgen um meine Großmutter und die vielen anderen Großeltern, staune über diese Krise und unseren Umgang damit und wasche Hände. Das wir noch vor weniger als einem Monat corona-sorgenlos mit 60.000 Menschen durch Hamburg gelaufen sind – verrückt!

Was erstaunt Sie am meisten an unserem Umgang mit der Krise?

Luisa Neubauer: Oh, so einiges! Wir hören den Profis zu! Und wir nehmen sie ernst! Yeah. Und: Wir wachsen über uns selbst hinaus, als Gesellschaft, aber auch privat. Teilweise entwickeln sich ganz neue Solidar­gemeinschaften – wir Jungen etwa, die zuletzt viel Zeit damit verbracht haben, den Alten zu erklären, sie hätten unsere Zukunft geklaut (haben sie auch), stehen jetzt ein, um eben diese Alten zu schützen. Umgekehrte Generationengerechtigkeit praktisch, so schön. Leichtes, etwas weniger begeistertes Staunen natürlich auch über das, was sich dieser Tage vor den Toilettenpapierregalen abspielt.

Fangen wir mit dem ersten Punkt an: Virologen werden wie Popstars behandelt, der Podcast mit dem Berliner Experten Christian Drosten ist aktuell der meistgehörte in Deutschland. Hört auf die Wissenschaftler, das war die Forderung von „Fridays for Future“. Auf einmal scheint es zu klappen, allerdings in einem ganz anderen Zusammenhang ...

Luisa Neubauer: Das ist etwas paradox, stimmt. Ich sehe da für mich zwei potenzielle Umgänge mit: Ich könnte mich jetzt großartig darüber aufregen, dass der Grad der Ernsthaftigkeit, mit der gerade der Wissenschaft begegnet wird, welcher zuvor im Kontext der Klimakrise immer und überall als zu-viel-verlangt, weltfremd oder naiv abgetan wurde, jetzt auf einmal ganz selbstverständlich praktiziert wird. Oder: Ich kann mich darüber begeistern, dass wir es schaffen, „listen to the science“ als politischen Imperativ ganz neu zu (er)leben - und daraus lernen können. Ich mache also fleißig Notizen für die Zeiten, in denen wir wieder Nerven und Ressourcen haben, uns mit der Klima­krise zu befassen. Die verschwindet ja nicht. Dann werden wir gelernt haben, wie es gehen kann – und um Ausreden, die Wissenschaft zu ignorieren, ganz schön verlegen sein.

Der Philosoph und Schriftsteller Richard David Precht hat vor ein paar Tagen gesagt, dass er staunt: Da komme „etwas vergleichbar Harmloses wie das Coronavirus, und plötzlich ist alles möglich: Flugverbindungen werden gestrichen, Reisen verboten usw.“ Der Staat greife tief in das Leben der Menschen ein, was er sich „angesichts der ganz großen Menschheitsbedrohung“, also des Klimawandels, nicht getraut habe. Auch das: paradox.

Luisa Neubauer: Das stimmt, ein Stück weit offenbart Corona, wie groß die Mutlosigkeit und wie wahrhaftig das Fehlen jeglichen politischen Willens, angemessen auf die Klimakrise zu reagieren, tatsächlich war. Die Dementi der Politik, was denn alles nicht gehen würde – innerhalb unserer Demokratie, Marktwirtschaft, Föderalismus oder was auch immer – verhallen gerade im Rausche der Meldungen über neue Maßnahmen. Hat etwas Entblößendes, dieses Corona-Chaos.

Precht sagt auch, dass den Menschen die Angst um die eigene Unversehrtheit wichtiger ist als das Überleben der Menschheit.

Luisa Neubauer: Evolutionär betrachtet ist das ja auch gut so. Letztendlich haben wir es einem hochindividuellen und durchsetzungsstarken Überlebensinstinkt zu verdanken, dass die Menschheit im Laufe der Geschichte nicht irgendwann um die Ecke ist. Heute verhält es sich aber anders. In dieser eng vernetzten, wahnsinnsglobalisierten Welt berührt unser individuelles Handeln das Leben, aber auch das Überleben von anderen mehr als je zuvor.

Wenn die Reichweite unseres Einflusses also wächst, muss das auch unsere Handlungsmaxime. Unsere moralische und ethische Vorstellungskraft steht praktisch vor der Herausforderung, sich den Dimensionen der heutigen Welt anzupassen. Wenn wir in Deutschland Klimagerechtigkeit zum Schutz von Menschen in, sagen wir, Uganda fordern, geht das schon in die Richtung. Und wenn ich nun zu Hause bleibe, damit Risikogruppen geschützt werden, beweisen wir zumindest punktuell, dass es möglich ist, die Menschheit mitzudenken.

Das ist eine der guten Nachrichten: Wir können zusammenhalten, wir können gemeinsam etwas tun – und zwar auch schnell und hoffentlich effektiv. Und das nützt interessanterweise auch der Umwelt: Jahrelang haben viele Mitarbeiter in Firmen für weniger Dienstreisen und mehr Videokonferenzen bzw. Homeoffice gekämpft – und auf einmal geht das nicht nur, sondern wird von den Firmen ausdrücklich gewünscht.

Luisa Neubauer: Ahh, na ja, ne. Es ist toll, sicherlich, dass wir gerade lernen, auf was wir alles verzichten können. Und wozu wir bereit sind, wenn wir wirklich wollen, privat und als Gesellschaft. Die vielen Umstellungen durch Corona als Klimaschutz zu verbuchen wäre allerdings eine Fehl­interpretation der Lage. Nachhaltiger Klimaschutz braucht eine bewusste, eine strategische und geplante Komponente.

Das fehlt hier komplett, die aktuellen Reduktionen von Emissionen passieren ja gänzlich unfreiwillig und keineswegs intendiert. Um langfristig das Paris-Abkommen zu erreichen, braucht es angemessene Ziele, nachhaltige Pläne und eine bewusste Umsetzung. Das steht noch aus. Was Corona aber leisten kann: unser Selbstbewusstsein stärken, uns der Klimakrise zu stellen, und uns unserer eigenen Krisenbewältigungskompetenz bewusst werden.

Was bedeuten die Versammlungsverbote für eine Bewegung wie „Fridays for Future“, die ja auf die Mobilisierung von möglichst vielen Menschen angewiesen ist?

Luisa Neubauer: Gute Frage! Für uns verschieben sich natürlich gerade die Prioritäten. Wir verlegen ganz viele unserer Streikaktivitäten ins Digitale, bleiben online laut und sichtbar – die Klimakrise ist ja nach wie vor ungelöst. Aber wir arbeiten sehr intensiv daran, auch anderweitig einen sinnstiftenden Beitrag zu leisten in Corona- Zeiten. Daher tüfteln wir gerade an einer digitalen Bildungsplattform, über die wir Wissen vermitteln und Aufklärung anbieten müssen, auch wenn Schulen geschlossen sind. Nachdem uns 15 Monate lang vorgeworfen wurde, wir würden doch nur Schule schwänzen wollen, haben wir die Schulschließungen praktisch als ganz persönlichen Arbeitsauftrag verstanden, uns genau dort jetzt einzubringen.

Was machen Sie persönlich in der Corona-Krise? Zu Hause bleiben, digital studieren?

Luisa Neubauer: Ja! Ich lerne mein Wohnzimmer lieben, arbeite an meiner Abschlussarbeit für mein Studium, schreibe über die Krise und telefoniere viel mit meiner Großmutter. Ganz wichtig ist eben für alle, dafür zu sorgen, dass wir selbst nicht zur Gefahr für andere werden.

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