Hamburg. Vierter Teil: Wir rücken zusammen und gehen zugleich auf Abstand: Aufzeichnungen aus einer verunsicherten Stadt.

Mit Verlaub, mein Handy ist ein Arschloch. Die Verheißung, die Termine des Büros mit dem Mobiltelefon in Echtzeit zu harmonisieren, war immer ein leeres Versprechen. Mal versandeten aktuelle Treffen und Konferenzen in den Weiten des World Wide Web, nun ist es umgekehrt.

Das jackentaschenkleine Miststück schickt mir ständig die einst geplanten und längst abgesagten Termine aus einer anderen Zeit. Ein Kaffeetermin hier, ein Gedankenaustausch da und am Dienstagabend der N-Klub im Braugasthaus „Alten Mädchen“. Dieser Termin war einer der letzten, der sich gegen die Absagewelle stemmte. Er werde „trotz der aktuellen Lage wie geplant stattfinden. Wir werden hierfür die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen treffen“, hieß es noch am Donnerstag, einen Tag später wurde er abgesagt. Der Organisator Lars Meier empfahl: „Falls Sie nicht wissen, was Sie mit der gewonnen Zeit anfangen können, empfehlen wir, zum Blutspenden zu gehen.“ Gute Idee. Unser fröhlicher Alltag zerbröselt. Und ständig erinnert mich mein Handy daran.

Der Menschenfreund ist eine Neuentdeckung dieser Tage. Die vermeintliche Ellenbogengesellschaft reicht sich die Hände – natürlich nur im übertragenen Sinne – um zu helfen: In den Mehrfamilienhäusern der Stadt kleben Aushänge, in denen Nachbarn ihre tatkräftige Unterstützung für Senioren oder Hilfsbedürftige anbieten: „Wenn es Dinge gibt, die Sie benötigen, zögern Sie nicht, bei uns zu klingeln“, heißt es in einem Haus in der Baakenallee. In Duvenstedt gründet sich eine Initiative, die Älteren und Kranken hilft, zu Hause zu bleiben und sich so vor dem Coronavirus zu schützen. Einkäufe werden gemeinsam organisiert. Ein Leser erzählt, sein Nachbar habe einen Zettel an die Haustür geklebt: „Sollte jemand von Euch noch einkaufen gehen, bringt mir bitte ein Hamburger Abendblatt mit. Ich bin etwas verschnupft und möchte da nicht raus. Ich danke Euch.“ Am Ende erhielt er zwölf Exemplare. Seine Frage: „Was bekommst Du dafür?“ Die Antwort: „Nichts, nur ein Lächeln.“


Der Menschenfeind in uns hat es in diesen Tagen aber auch nicht schwer. An der Willy-Brandt-Straße kommt mir ein junger Mann viel zu nah, instinktiv trete ich einen Schritt zurück. In diesen Tagen gehen wir auf Abstand, eine Ausweitung der Distanzzone – früher waren es zwei, jetzt sind es vier Meter. Der Mann fragt mich auf Englisch nach der nächsten Metro-Station, die von hier doch kaum zu übersehen ist. Unwirsch zeige ich auf die U-Bahn. Und schäme mich sofort meiner Reaktion. Der Mann kommt nicht von hier. In diesen Tagen in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, in einem fremden Sprachraum – das gleicht der Hölle im Quadrat.

Die Glocken läuten – leider nur in Braunschweig. Dort hat die evangelisch-lutherische Landeskirche wegen der Corona-Krise beschlossen, täglich um 12 Uhr die Kirchenglocken für eine Minute in Gang zu setzen. Ein akustisches Symbol für Zusammenhalt und Zuversicht. Ziel sei, die Menschen in dieser Minute durch ein gemeinsames Gebet zu verbinden, sagt Landesbischof Christoph Meyns. Durch das Verbot von Gottesdiensten erreichen die Kirchen ihre Gläubigen kaum noch – gerade für Menschen, die nun Hoffnung und Halt im Glauben suchen, ist das eine schlechte Nachricht. Auch in der Kirche hadern manche mit der Einstellung der Gottesdienste: „Kommt man sich im Gottesdienst wirklich näher als vor der Käsetheke bei Edeka?“, fragte am Sonntag der Hamburger Pastor Friedrich Brandi.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Händewaschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten, die Infektionssymptome zeigen
  • Schutzmasken und Desinfektionsmittel sind überflüssig – sie können sogar umgekehrt zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

Die Türklingel schrillt hektisch. Im Laufschritt kommt der Bote mit dem Paket in der Hand die Treppe rauf. Zur Übergabe streckt er die Arme so weit aus, wie es geht – automatisch macht man es ihm nach. Die Konversation wird auf das nötigste beschränkt und eher genuschelt, als laut ausgesprochen. Angst vor der Tröpfcheninfektion. Schon ist der Mann wieder auf dem Weg zu seinem bis zur Decke gefüllten Lieferwagen, quittieren muss man den Empfang des Pakets nicht mehr. Der Inhalt ist Gold wert: neues Spielzeug, um die Einjährige bei Laune zu halten. Innerlich dankt man allen Geschäften, die zu haben und ihre Kunden auf diesem Weg beliefern. Und zwar laut. (Jule Bleyer)

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Infernalisch ist der Lärm, der von der Baustelle am Großen Burstah seit Monaten in die Abendblatt-Büros dringt. Der Abriss der Allianz-Hochhauses ist nicht nur eine unendliche Geschichte, sondern auch eine unendlich laute. In Tagen wie diesen aber ist der Lärm das Dröhnen der Normalität. Hier wird weiter gebaggert, während die City sich weiter aus dem Alltag verabschiedet und verödet. „2023“ steht in großen Lettern am Bauzaun: „Auf diesem historischen Areal entsteht bis 2023 mit dem Burstah in sechs Bauabschnitten ein neues, urbanes Viertel in zentralster Lage Hamburgs.“ Heute morgen hat der Chef des Robert-Koch-Instituts gesagt, es könne zwei Jahren dauern, bis ein Großteil der Bevölkerung Covid-19 durchgemacht hat und immun ist. Da bekommt 2023 eine ganz andere Bedeutung.

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Katastrophale Auswirkungen hat die Corona-Krise für die Restaurants. In Ottensen gingen nun gleich zwei Tapas-Bars in eine Zwangspause. Das portugiesische Café Ribatejo an der Bahrenfelder Straße verschenkte zum Abschied gegen eine kleine Spende die restlichen Tapas aus den Vitrinen.

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Das El Jardin an der Arnoldstraße schreibt: „Unsere Kultur lebt von Menschen auf engem Raum, die Freude am Teilen haben. Wir leben und lieben Nähe. Diese ist uns nun untersagt. Und unsere Tapas-Kultur verliert im öffentlichen Miteinander ihren Glanz.“ Der Clou: Die Inhaber hängen jetzt Rezepte zum Abfotografieren ins Fenster, damit man daheim Gerichte nachkochen kann – zum Auftakt wird erklärt, wie man ein spanisches Kartoffel-Omelett zubereitet. (Peter Wenig)