Hamburg. Einst wohnten hier Chefärzte und Pastoren der Alsterdorfer Anstalten. Jetzt soll das Anwesen Platz machen für sieben Stadthäuser.
Die Lage? „Traumhaft.“ Der Garten? „Liebevoll angelegt, hier lassen sich herrliche Sonnenstunden genießen.“ Das Gebäude? „Prächtig, ein herrschaftliches Beamtenwohnhaus.“ Das Versprechen: „Beim Betreten des Hauses verspürt man bereits den Charme jener Zeit.“ Im September 2018 bot ein bekannter Hamburger Makler das Anwesen an der Alsterdorfer Straße in einem 21-seitigen Exposé mit dem Titel „Herrschaftliches Familienidyll“ an. Und ein Interessent, der sich die Villa anschauen durfte, sagt heute noch: „Wirklich ein Traum. Wir hätten direkt einziehen können.“ Küche, Elektrik, Heizung, Fenster, Bäder, Leitungen – alles tipptopp dank einer umfassenden Renovierung von 2008. Der Kauf scheiterte am Preis, 1,75 Millionen Euro zuzüglich einer Courtage von fast 110.000 Euro waren dann doch zu viel.
Zweieinhalb Jahre später versperrt ein Bauzaun den Zugang zur 1905 erbauten Gründerzeit-Villa mit einer Wohnfläche von 294 Quadratmetern. Und alles spricht dafür, dass demnächst Bagger dem „wunderschönen Treppenhaus“, den „hohen Decken“ sowie den „bodentiefen Fenstern“ den Garaus machen werden. Stattdessen sollen auf dem Grundstück an der Ecke zur kleinen Straße Kiefernhain sieben Stadthäuser entstehen, allesamt dreigeschossig mit Staffelgeschoss. Der Käufer, die Tomczak Bauträger GmbH, hat kein Interesse an der Villa, sondern nur an dem Grundstück. Gegen den Abriss kämpft nun eine Bürgerinitiative, gegründet von Anwohnern. Sie sehen den Charakter ihres Quartiers in akuter Gefahr.
Herausforderungen einen wachsenden Stadt
Man kann diese Geschichte indes auch aus einer anderen Perspektive erzählen. Aus der Sicht einer solventen Familie mit, sagen wir, drei Kindern, die seit Jahren ein Haus in Hamburg sucht. Genau in einer solchen Gegend. Mit einer Wohnfläche von 180 Quadratmetern. In einem gewachsenen Viertel mit guten Schulen und Kitas. Und einer U-Bahn-Station in unmittelbarer Nähe, mit der man binnen 15 Minuten den Jungfernstieg erreicht. Das Grundstück, 1328 Quadratmeter groß, zuvor von einer Familie bewohnt, könnte bei Bezug von sieben Fünf-Personen-Haushalten zur Heimat für 35 kleine und große Menschen werden. Bei einem geschätzten Preis von rund einer Million Euro wäre ein solches Stadthaus zwar alles andere als ein Schnäppchen. Aber das Grundstück wäre ohne Frage entschieden besser ausgenutzt.
Wie unter einem Brennglas zeigen sich hier in Alsterdorf die Herausforderungen der wachsenden Stadt: Wie weit darf man gehen für das städtisches Ziel, jedes Jahr 10.000 Wohnungen zu bauen? Wie viel Schutz verdienen Gebäude? Ist das drohende Aus für die Villa ein weiterer Beleg für das Gebaren der Freien und Abrissstadt Hamburg? Oder ist es am Ende schlicht ökologischer, gewachsene Viertel weiter zu verdichten? Statt den Flächenfraß wie in Oberbillwerder voranzutreiben, wo in den nächsten Jahren auf der grünen Wiese 5000 bis 7000 neue Wohnungen gebaut werden sollen.
Über Jahrzehnte war die Villa ein repräsentatives Domizil
Kaum jemand erlebt diesen Konflikt so hautnah wie Kristina Sassenscheidt, Geschäftsführerin des Hamburger Denkmalvereins. Ihr Verein zeigt auf der Internetseite in der Rubrik „Verluste“ zahlreiche Gebäude, die Baggern zum Opfer fielen. Darunter Hochhäuser wie die City-Höfe am Johanneswall oder das Deutschlandhaus am Gänsemarkt, aber eben auch ein Villen-Ensemble an der Alster und eine Stadtvilla am Mittelweg. Kristina Sassenscheidt sagt: „Gebäude sind das steingewordene Gedächtnis einer Stadt, und sie erzählen die Geschichte der Bewohner, der Kunst, der Wirtschaft, der Technik oder auch des Verkehrs.“ Deshalb seien sie „unverzichtbarer Bestandteil jeder Identität der Stadt und für jeden Einzelnen wichtige persönliche Erinnerungsorte und Heimat“.
Heimat. Erinnerungsort. Geschichte. Für diese Villa trifft der Dreiklang perfekt zu. Über Jahrzehnte war sie das repräsentative Domizil für die Chefärzte der Alsterdorfer Anstalten. In den 1930er-Jahren wohnte dort auch der Psychiater Gerhard Kreyenberg, der im Nazi-Regime Karriere machte und als Anstaltschef grausame Zwangssterilisationen ohne Narkose von Menschen mit Behinderung verantwortete und zuließ, dass Hunderte Anstaltsbewohner in Vernichtungslager geschickt wurden. Nach dem Krieg wohnten dort Pastoren, in den 1990er-Jahren Menschen mit einer Behinderung in Wohngruppen. Immer wieder gab es Umbauten. Dann entstanden die Pläne für den Alsterdorfer Marktplatz als Herz der Stiftung Alsterdorf, das Unternehmen gab im Gegenzug das Erbbaugrundstück auf der anderen Seite der Sengelmannstraße auf. Auf diesem Areal entstanden die „Gartenvillen Alsterdorf“: 28 Doppelhäuser mit Gemeinschaftsgärten.
Warum die Villa keinen Denkmalschutz genießt
Nur die alte Villa blieb von allen Plänen unberührt und wechselte Mitte der 2000er-Jahre für einen Kaufpreis von unter 600.000 Euro den Besitzer – gemessen an den heutigen Marktpreisen absurd günstig. Der neue Eigentümer investierte im großen Stil, baute sogar eine Einliegerwohnung.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass zahlreichen Umbauten nun dazu führen, dass die Villa abgerissen werden darf. In einer Mail des Denkmalschutzamtes, die dem Abendblatt vorliegt, heißt es: „Das Haus hat schon äußerlich zu viele Veränderungen erfahren, als dass es noch als Denkmal gewertet werden könnte. So sind nicht nur alle Fenster und Türen erneuert, es hat auch zur Straße und zur Rückseite überdimensionierte Gauben erhalten, an der Rückseite wurden zudem Fenster zu Fenstertüren erweitert. Offenbar ist das Gebäude zudem mindestens in Teilen neu und ohne Rücksicht auf historische Oberflächen verputzt worden.“ Das Schreiben schließt mit diesem Satz: „Ich bedaure, dass hier ein historisches Gebäude weichen soll, doch kann ich eine Einstufung als Denkmal nicht vertreten.“
Bauantrag noch in der Prüfung
Gesetzt auf eben diese Einstufung hatte die Anwohnerinitiative, die den Abriss verhindern will. Nunmehr hoffen die Anwohner auf den für Baugenehmigungen zuständigen Bezirk Nord. In einem neunseitigen Schreiben hat die Initiative ihre Bedenken aufgelistet. Dabei geht es um den gefährdeten Charakter des Kiefernhains als verkehrsberuhigte Spielstraße, um fehlende Parkplätze, um das städtebauliche Konzept ihres Quartiers. Hier verweist die Initiative auf den Entwicklungsplan, noch immer im Internet auf der Seite www.hamburg.de zu finden. Dort heißt es: „Die gründerzeitliche Villa in der Alsterdorfer Straße Nr. 386 konnte konzeptionell berücksichtigt werden und bleibt erhalten.“
Kann sie nun einfach weg? „Der Abbruch eines alten Gebäudes ist oftmals bedauerlich, kann jedoch nicht immer durch die Bezirksämter verhindert werden. Im Falle Alsterdorfer Straße 386 gelten kein Denkmalschutz und keine städtebauliche Erhaltensverordnung, die gegen einen Abbruch sprächen“, sagt der neue Bezirksamtschef Michael Werner-Boelz (Grüne). Aber er fügt an: „Allerdings ist auch noch keine Entscheidung zum Bauantrag gefallen, da sich dieser noch in der Prüfung befindet.“
Charakter als Spielstraße erhalten
Nach Abendblatt-Informationen beschäftigen sich die Prüfer intensiv mit der geplanten Größe des Stadthäuser-Ensembles. Denn genau hier wird es juristisch kompliziert. Laut Bauplan von 1955 ist exakt an dieser Stelle der Alsterdorfer Straße zwar eine dreigeschossige Bauweise plus Staffelgeschoss erlaubt, während in der unmittelbaren Nachbarschaft nur zweigeschossig gebaut werden darf. Doch aus Sicht der Anwohner-Initiative ist diese 65 Jahre alte Regelung juristisch gesehen mit Blick auf das gesamte heutige Quartier „funktionslos“, also nicht mehr gültig.
Henning Witt, Prokurist und Gesellschafter des Bauträgers Tomczak sieht dagegen „baurechtlich keine Problem“. Auf Abendblatt-Anfrage sagt er: „Der Bebauungsplan erlaubt an dieser Stelle ausdrücklich eine dreigeschossige Bauweise plus Staffel.“ Zudem werden sich aus seiner Sicht die „geplanten Stadthäuser definitiv in die Bebauung am Kiefernhain einfügen“, das Ensemble harmoniere mit den Neubauten in der Straße. Und er fügt an: „Laut Baurecht hätten wir 50 Prozent des Grundstücks bebauen dürfen, wir nutzen aber nur 40 Prozent. Auf dieser Fläche wäre auch ein Bau von 20 oder 24 Wohnungen möglich gewesen.“ Auch den Charakter der Spielstraße werde der Kiefernhain nicht verlieren, die Zunahme des Autoverkehrs sei „minimal“. Und sein Unternehmen verstehe sein Handwerk: „Wir sind ein erfahrener Bauträger, haben insgesamt rund 1000 Wohneinheiten realisiert.“ Und gerade Stadthäuser seien bei Familien außerordentlich begehrt.
Denkmalverein fordert Abgabe auf graue Energie
Auch Kristina Sassenscheidt hält es für wichtig, dass Wohnraum in Hamburg geschaffen wird: „Aber man muss dafür nicht zwangsläufig funktionierende Gebäude abreißen. Durch kluge Konzepte wie Nachverdichtung, Aufstockung oder Umbau lässt sich die Flächennutzung optimieren.“ Gerade gründerzeitliche Villen könnten häufig sehr gut von mehreren Wohnparteien genutzt werden, der Ausbau von Keller und Dachgeschoss könne zusätzliche Wohnfläche erschließen. Ihr Appell: „Hamburgs Qualitäten dürfen und müssen nicht der Quantität im Wohnungsbau geopfert werden.“ Die Bezirke sollten „viel häufiger auf das Instrument Städtebauliche Erhaltungsverordnung setzen, um prägende Gebäude, Straßenzüge oder ganze Quartiere vor Veränderungen zu schützen.“
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Sassenscheidt verweist zudem auf die sogenannte graue Energie, also die Energiemenge, die ein Produkt in seiner Lebenszeit benötigt – angefangen von der Herstellung über den Transport bis zur Entsorgung. Die Denkmalschützerin plädiert für eine entsprechende steuerliche Abgabe, damit „die Ressourcen-Verschwendung von Abrissen in die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung eingepreist wird“.
Und was passiert nun mit der alten Villa? Nun, vorerst wird sie stehen bleiben. Denn der Bauherr will aus einem naheliegenden Grund erst abreißen, wenn ihm die Baugenehmigung vorliegt: „Alles andere macht keinen Sinn. Wird die Zeitspanne zwischen Abriss und Neubau zu groß, würden wir riskieren, dass die Baugrube mit Wasser vollläuft.“