Hamburg. Neuer Chefarzt der Albertinen-Geriatrie über den Umgang mit Demenz und die Frage, warum die Babyboomer-Generation gesünder altert.

Seine Besucher begrüßt Prof. Ulrich Thiem gern mit den Worten: „Guten Tag, ich bin der Neue.“ Dabei arbeitet der Spezialist für Gesundheit und Medizin im Alter bereits seit fast einem Jahr als Chefarzt für Geriatrie und Gerontologie im Albertinen Krankenhaus und im Albertinen Haus in Schnelsen. Andererseits ist sein Aufgabengebiet sehr vielfältig. Denn der Mediziner, zuvor Chefarzt in Essen, hat zudem eine Professur am UKE und betreut das Hamburger Pilotprojekt Netzwerk Gesundaktiv, das Senioren den Weg zu einem eigenständigen Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen soll.

Hamburger Abendblatt: Herr Prof. Thiem, bis 2040 wird die Zahl der über 80-Jährigen in Hamburg von 99.000 auf 135.000 steigen, also um mehr als ein Drittel. Was bedeutet das für die Medizin?

Prof. Ulrich Thiem: Damit wird die Zahl der Patienten, die unter mehreren Erkrankungen leiden, zunehmen. Und das ist eine große Herausforderung, da die Therapieziele oft konkurrieren. Mit bestimmten Medikamenten können Sie das Schlaganfallrisiko senken. Gleichzeitig können diese Medikamente aber die Wirkung anderer Wirkstoffe verändern, zum Beispiel verstärken, was zu unerwünschten Wirkungen beim Patienten führen kann. Bei Mehrfacherkrankungen mit Medikamenten so zu behandeln, dass der Betroffene einen klaren Nutzen von der Therapie hat, ihm aber kein Schaden zugefügt wird, das ist eine echte Herausforderung. Und es wird um Kapazitäten gehen. Die stationären Behandlungsmöglichkeiten werden nicht reichen. Auf der anderen Seite wissen wir, dass die meisten Menschen ohnehin lieber ambulant behandelt werden möchten. Das gilt gerade für Senioren. Sie möchten lieber eigenständig in ihren eigenen vier Wänden behandelt werden statt in einem Krankenhaus oder einer Reha-Klinik.

Gerade ältere Menschen nehmen oft sehr viele Medikamente ein. Wann sollte man als Betroffener misstrauisch werden?

Thiem: Es gibt keinen klaren Schwellenwert. Nach einem Herzinfarkt etwa brauchen Sie häufig Betablocker, um die Herzfrequenz zu senken, ACE-Hemmer zur Blutdrucksenkung, Statine, um das Risiko für einen erneuten Infarkt zu senken und ein Medikament zur Hemmung der Blutgerinnung. Ist die Herzerkrankung also Ihr Hauptproblem, dann wird man Ihnen diesen Umfang an Medikamenten wohl empfehlen. Aber es ist wichtig, sich zu informieren. Fragen Sie Ihren Arzt: Sagen Sie, warum nehme ich diese Ta­bletten eigentlich? Wenn es darum geht, Schmerzen zu reduzieren oder die Luftnot bei einer Herzschwäche zu lindern, kann man das den Betroffenen gut vermitteln. Anders liegt der Fall bei Medikamenten, die zur Vorbeugung einer Erkrankung verordnet werden, deren Nutzen man aber nicht unmittelbar merkt. Da sollte man sich immer fragen, ob dies notwendig ist.

Oft weiß der eine Facharzt gar nicht, was der andere Facharzt schon verordnet hat …

Thiem: Das ist in der Tat ein Problem. Deshalb müssen wir die Hausärzte stärken, sie sollten bei allen Therapien den Gesamtblick für Nutzen und Risiken haben. Nehmen wir das Beispiel Knochengesundheit. Alte Menschen haben durch Osteoporose ein hohes Risiko für sturzbedingte Brüche. Daher sind aus der Sicht der Altersmedizin Medikamente zur Stärkung der Knochen wichtig, im Zweifel wichtiger als zum Beispiel ein Cholesterin-Senker. Denn ein Oberschenkelhalsbruch kann eine Abwärtsspirale in Gang setzen, die am Ende in Pflegebedürftigkeit münden kann.

Kann die elektronische Patientenakte, in der Befunde, Therapien und verordnete Medikamente gespeichert werden, helfen?

Thiem: Dies wäre ein echter Gewinn, wenn auf eine solche Akte alle Professionen des Gesundheitswesens zugreifen können und wirklich alle relevanten Informationen enthalten sind. Aber selbst dann bleibt vieles Abwägungssache. Welches Therapieziel ist jetzt das Wichtigste? Das sagen uns die Informationen der elektronischen Patientenakte auch nicht unmittelbar. Da ist es wichtig, dass der Hausarzt der Ansprechpartner bleibt.

Wie wichtig sind soziale Kontakte im Alter?

Thiem: Sehr wichtig. Studien zeigen, dass Menschen, die in einem guten Netzwerk aufgehoben sind und in diesem Netzwerk auch immer wieder mit neuen Aufgaben mit Formen des Lernens zu tun haben, kognitiv stärker sind, also besser wahrnehmen, lernen und erinnern. Vereinsamung kann dagegen Depressionen auslösen. Das Projekt „Hamburger Hausbesuch“ der Freien und Hansestadt Hamburg, bei dem 80-Jährige von speziell geschulten Personen aufgesucht werden, um sie über Hilfs-, Betreuungs- und Freizeitangebote in ihrem Umfeld zu informieren, ist deshalb ein wichtiger Baustein für ein aktives und selbstbestimmtes Altern. Das Albertinen Haus bringt als Fachstelle seine Kompetenz in der Altersmedizin und Altersforschung in das Projekt ein.

Die Zahl der Patienten mit einer Demenz in Krankenhäusern wird weiter wachsen. Darunter gibt es auch Patienten, die verwirrt sind, sich Kanülen herausreißen oder nachts auf der Station herumirren. Wie müssen sich Krankenhäuser auf diese Patienten einstellen?

Thiem: Wir brauchen sicherlich spezielle Angebote in der stationären Medizin, die sich mit baulichen Maßnahmen und besonderen therapeutischen Konzepten auf diese Patienten einstellen, aber auch die Angehörigen in die Behandlung stärker mit einbeziehen. Mit einer sogenannten Memory Clinic zur Diagnose und Beratung bei Demenz, einem Bereich für die Behandlung kognitiv eingeschränkter Patienten, Schulungen für hauptamtliche wie ehrenamtlich tätige Mitarbeitende, aber auch in Form einer Beratungsstelle Demenz sowie modernen Wohnformen für dementiell Erkrankte stellen wir uns der Herausforderung. Aber nicht jeder Patient mit einer Demenz sorgt für große Probleme im Klinikalltag. Mit den richtigen Konzepten kann man vieles managen. Generell brauchen wir mehr Expertise im Umgang mit diesen Patienten. Es muss auch andere Wege geben als Psychopharmaka.

Viele Bewohner in Pflegeeinrichtungen haben vor Stürzen große Angst. Sie fürchten, dass sie sich nach einem Bruch gar nicht bewegen können. Also schränken sie ihre Bewegungen stark ein, um ja nichts zu riskieren.

Thiem: Die Wissenschaft beschäftigt sich seit ein paar Jahren intensiver mit dieser Sturzangst. Es gibt extreme Fälle, in denen Senioren ihr Zimmer aus Furcht vor einem Sturz gar nicht mehr verlassen. Dabei ist körperliche Aktivität sehr wichtig. Es macht einen massiven Unterschied, ob sich der Bewohner einer Pflegeeinrichtung an einem schönen Herbsttag noch auf die Bank vor dem Eingang setzen kann, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen, oder ob er nur in seinem Sessel hockt. Die Risikoabwägung zwischen einem Sturzrisiko und mehr Lebensqualität bleibt schwierig. Aber ich würde immer eher zu Aktivität raten.

Aber ein Bruch bedeutet ein hohes Risiko.

Thiem: Das ist richtig. Alle Frakturen sind bei älteren Menschen nach wie vor mit einer hohen Sterblichkeit verbunden. Aber Statistik kann auch trügen. Nach den ersten 30 Tagen einer Fraktur-Versorgung ist die Sterblichkeit nur wenig höher als das allgemeine Operationsrisiko in der betreffenden Altersklasse. Die OP-Techniken haben sich in den vergangenen Jahren enorm verbessert. Entsprechend groß ist die Chance, wieder mobil zu werden. Die Sterblichkeit im Jahr nach der OP liegt allerdings zwischen 20 und 25 Prozent. Dies liegt aber daran, dass diese Patienten häufig mehrere schwere Krankheiten haben. Wichtig ist daher eine sofortige und interdisziplinäre Versorgung durch Unfallchirurgen und Geriater, die bei uns in einem zertifizierten Alters-Traumazentrum erfolgt.

Wie sehen Sie Rollatoren? Sorgen sie für Mobilität? Oder schwindet durch sie der Gleichgewichtssinn?

Thiem: Es gibt eine gute Studie, die Patienten mit einem schweren Lungenleiden wissenschaftlich begleitet hat. Die Erkenntnis war, dass sich mit einem Rollator die zurückgelegte Strecke pro Tag massiv erhöht. Das hat mit der Behandlung der Lungenerkrankung offenbar nichts zu tun, denn der Rollator beeinflusst ja nicht meine Lungenfunktion. Es hat vermutlich eher mit dem Sicherheitsgefühl der Betroffenen zu tun. Ein großes Pro­blem ist allerdings, dass Rollatoren oft nicht gut eingestellt sind. Die Patienten beugen sich dann zu weit vor, haben ihren Körperschwerpunkt nicht mehr in der Mitte.

Was halten Sie von Hüft-Protektoren, also von Hosen mit speziellen Polstern, die vor einem Hüftbruch schützen sollen?

Thiem: Nach Studien sinkt das Risiko einer Hüftfraktur beim Tragen einer solchen Hose um 30 bis 40 Prozent. Aber diese Hosen müssen sehr gut sitzen, damit die Polster nicht verrutschen. Sie an- und wieder auszuziehen, ist für Senioren übrigens nicht einfach Damit wird der Gang zur Toilette für viele schwierig. Daher werden solche Hosen oft nicht genutzt.

Stimmt es, dass die Bewohner in Pflegeeinrichtungen in den Betten gepflegt werden, also viel zu wenig animiert werden, sich zu bewegen?

Thiem: Ich halte das für ein Vorurteil. Die Zeit der reinen Satt- und Sauber-Pflege ist vorbei. Inzwischen gibt es in Heimen entsprechende Programme. Aber das müssen wir ausbauen, dafür muss die Gesellschaft die entsprechenden finanziellen Mittel zur Verfügung stellen. Wir verbinden beispielsweise den Aufenthalt in der Kurzzeitpflege mit der Versorgung in unserer geriatrischen Tagesklinik. Jeder Mensch, der sich nicht mehr daheim versorgen kann, hat ein Recht darauf, dass man sich in der Pflegeeinrichtung angemessen um ihn kümmert. Und dabei geht es auch um körperliche Aktivitäten. Ein alter Mensch, der zehn Tage im Bett liegt, verliert so viel Muskelmasse, dass er danach womöglich nicht mehr gehen kann.

Was passiert, wenn die Baby-Boomer-Generation in ein hohes Alter kommt? Wird sie mit 80 Jahren gesünder sein als die heutige Generation der 80-Jährigen?

Thiem: Das ist definitiv so. Nehmen wir etwa Demenz. Die Zahl der Neuerkrankungen ist über die Altersgruppen hinweg rückläufig. Ein heute 80-Jähriger hat ein geringeres Demenz-Risiko als ein 80-Jähriger vor zehn Jahren. Alzheimer hat neben genetischen Faktoren eben auch Risikofaktoren wie Rauchen oder Bluthochdruck. Und hier hat sich unser Lebensstil positiv verändert. Dennoch wird die Zahl der Demenzerkrankungen insgesamt wachsen, weil die Lebenserwartung steigt. Grundsätzlich liegt es in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, etwas für seine Gesundheit im Alter zu tun. Deshalb legen wir im Albertinen Haus einen Schwerpunkt auf die Gesundheitsförderung und Prävention. Nicht zuletzt sind wir koordinierende Stelle des Projektes „Netzwerks Gesundaktiv“ der Techniker Krankenkasse und weiterer Partner, das zum Ziel hat, den teilnehmenden Menschen im Eimsbüttel auch im hohen Alter lange ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen. Das umfasst Hilfen und Betreuung bis hin zu technischer Unterstützung in Form eines speziellen Tablet-Computers.

Was sollte man neben körperlichen und geistigen Aktivitäten noch tun, um möglichst lange gesund zu bleiben?

Thiem: Sich einsetzen für andere, ist eine sehr gute Idee. Wer sich ehrenamtlich engagiert, etwa in Kindergärten hilft, in Schulen vorliest oder alte Menschen begleitet, hilft nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch sich selbst. Soziale Interaktion hält fit. Sie müssen Termine einhalten, sich auf Ortswechsel einstellen. Das ist allemal besser, als sich in den Fernsehsessel zu verabschieden.

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Fast alle Heimbewohner würden lieber in ihrer vertrauten Umgebung sterben als in der Anonymität eines Krankenhauses. Dennoch werden viele in ihrer letzten Lebensphase noch als Notfall in ein Krankenhaus transportiert.

Thiem: Vermutlich läuft nicht immer alles optimal. Aber das ist auch ein schwieriges Thema, weil hier nicht allein medizinische, sondern auch rechtliche Fragen eine Rolle spielen, die mit einer eindeutig formulierten Patientenverfügung deutlich einfacher zu beantworten wären. Pflegekräfte, ja mitunter sogar Angehörige, wissen oftmals nicht um die Wünsche eines Sterbenden in der letzten Lebensphase. Deshalb ist es so wichtig, offensiv darüber zu reden, dass unser Leben begrenzt ist und rechtzeitig Vorsorge zu treffen. Setzen wir noch alles ein, was die Medizin zu bieten hat? Oder lindern wir Beschwerden, nehmen die Schmerzen und begleiten den Menschen in seiner letzten Lebensphase? Mein Eindruck ist, dass sich sowohl in den Kliniken wie auch den Pflegeeinrichtungen in den vergangenen Jahren mehr und mehr eine Palliativkultur entwickelt hat, die einem Menschen, der sterben wird, eine große Hilfe ist.