Ottensen. 30 Jahre lang versorgte Inge Elhs auf ihrem Privatgrundstück Stadttauben. Zuletzt sollen es fast 400 gewesen sein.

Dass es hier reichlich zu holen gab, hatten die Stadttauben über Jahre gelernt. Wenn Inge Elhs mit dem prall gefüllten Eimer in den Garten kam, warteten sie schon in den Bäumen und auf dem Dach des denkmalgeschützten Hauses an der Zeißstraße in Hamburg.

Bis vor Kurzem streute die Rentnerin hier kiloweise Mais und Weizen aus, täglich zweimal. Kaum lagen die Körner auf dem Boden, stürzten sich Hunderte Tauben auf sie. Nach gut zehn Minuten, sagt Inge Elhs, seien sie gesättigt davongeflattert. Am nächsten Tag begann das Spiel von vorne – so wie immer in den vergangenen 15 Jahren.

Füttern verboten: Es droht ein Zwangsgeld von 250.000 Euro

Doch damit ist jetzt Schluss: Auf die Klage eines Nachbarn hin hat das Amtsgericht Altona der Tierfreundin die Taubenspeisung untersagt. Hält sie sich nicht an das Verbot, droht ihr ein Zwangsgeld von bis zu 250.000 Euro.

Das Urteil erging am 7. Januar, zwei Wochen später steht Inge Elhs, 74 Jahre, in ihrem Garten. Ohne den Futtereimer, sie möchte nichts riskieren. Einige Tauben warten noch immer auf den Dächern und in den Bäumen. Andere suchen am Boden nach Futter, picken hier, picken da, nur finden sie eben keine Körner mehr.

Berufung beim Landgericht eingelegt

Fünf tote, mutmaßlich „verhungerte“ Tauben habe sie schon entdeckt. Sie sei fassungslos. „Es bricht mir das Herz“, sagt die Rentnerin. Gegen das Urteil hat die Oldenburger Rechtsanwältin Sandra Baumann Berufung beim Landgericht eingelegt und eine Aussetzung der Zwangsvollstreckung beantragt. Sie rechnet bald mit einer Entscheidung, ob ihre Mandantin die Tauben weiter füttern darf – oder eben nicht.

Inge Elhs liebt Tiere. In ihrem Gartenhäuschen liegt auf einem Sessel eine Wärmedecke, damit es ihre Katze gemütlich hat. Mit ihrem Engagement für Tauben stößt die 74-Jährige aber nicht immer auf Verständnis. Während ihre weiß-gefiederten Schwestern als Liebesboten verehrt werden, schlägt den grauen, als „geflügelte Ratten“ verunglimpften Stadttauben meist nur Verachtung entgegen. Sie gelten als Schädlinge und Krankheitsüberträger, als lästig, dreckig, gefährlich.

1989 übernahm Inge Elhs 100 Brieftauben

Hamburg hat ihre Fütterung aus Sorge um eine unkontrollierte Vermehrung auf öffentlichem Grund verboten, in anderen Städten werden sie systematisch vergrämt. Dabei ist etwa das Risiko, sich bei der Taube mit einem gefährlichen Erreger anzustecken weit geringer als gemeinhin angenommen, wie es in einem Gutachten des renommierten Robert-Koch-Instituts heißt.

Alles begann 1989, als Inge Elhs nach dem Tod eines Mieters rund 100 Brieftauben übernahm. Sie nisteten damals auf dem Spitzboden ihres Hauses. Als sich Jahre später ein Nachbar beschwerte, weil die Tauben ständig durch die Dachluke rein- und rausflogen, lockte sie die Tiere in den Garten.

400 Euro monatlich für Taubenfutter

15 Jahre fütterte Inge Elhs die Vögel, es wurden immer mehr. Monatlich zahlte sie bis zu 400 Euro, für „echtes Taubenfutter“, wie sie betont. Beschwerden der Nachbarn? „Gab es kaum oder gar nicht“, sagt sie. Schließlich seien weder ihr eigener Garten noch die Balkone oder Dachterrassen umliegender Häuser durch Taubenkot verdreckt worden. „Stadttauben machen nicht dorthin, wo sie fressen“, sagt Elhs.

Zudem flögen sie nach dem Mahl gleich wieder weg. Auch seien die Tiere eher leise: Mit 40 Dezibel lägen die durch das Gurren, Scharren und Flattern verursachten Geräusche etwa auf dem Niveau eines Kühlschranks. Im Juli 2019 klingelte plötzlich die Polizei und verwies auf einen gerichtlichen Beschluss: Sie dürfe die Tauben nicht mehr füttern. „Ab wann?“, fragte Inge Elhs. „Ab sofort“, antworteten die Beamten.

Die Tauben waren längst abhängig von Elhs

Mit dem Verbot ging es ihr nicht gut, sie kam nur mit Schlafmitteln zur Ruhe. Immerzu kreisten ihre Gedanken um die Frage, ob die Vögel ohne ihr Futter überleben würden. In gewisser Weise waren die Tauben längst abhängig von ihr, vielleicht war sie es aber auch von ihnen. Ging sie vor die Tür, nahmen sie gleich die Verfolgung auf. In ihrer Not fraßen die Tiere, gewohnt an die täglichen Gaben, sämtliche Blumen in ihrem Garten.

Den Beschluss im einstweiligen Verfahren hatten die Eheleute Köhler erwirkt. Ihr Haus mit dem Architekten-Büro im Erdgeschoss grenzt direkt an das Grundstück von Inge Elhs. So wie Florian Köhler die Geschichte erzählt, klingt sie ganz anders.

Nachbarn berichten von Taubenkot, der alles verschmutzte

Er berichtet von Taubenkot, der seinen Balkon und die Balkone anderer Bewohner rund um das Grundstück verschmutzte. Von Federn, die permanent über die Fenster und Türen in die Gebäude wehten; von Nachbarn, die auch im Sommer mit geschlossenen Fenstern schlafen mussten; von Taubenkot, der in den Regenrinnen festsaß, sich bei jedem Sturzregen in eine stinkende Brühe verwandelte und bis in den Keller herunterlief.

Am 13. März 2019 fotografierte er vor einer Fütterung die wartenden Vögel und versah jeden einzelnen mit einer Nummer – er zählte exakt 365. Besonders genervt habe ihn das permanente Gurren und Flügelschlagen und Über-dem-Kopf-Kreisen. Der „infernalische Lärm“ habe ihn tagsüber im Büro und abends in der Wohnung gequält. „Wenn ich mich irgendwann entspannen wollte, musste ich ausgehen“, so Köhler.

Und wenn er Freunde zu sich auf den Balkon einlud, hieß es häufig „kommt doch lieber zu uns“. Seine Tochter leide zudem unter einem zähen, trockenen Husten, der nicht verschwinde. Ihr Arzt halte einen Zusammenhang mit den Tauben zumindest für möglich. Er und andere Nachbarn hätten oft das Gespräch mit Inge Elhs gesucht, stets erfolglos. „Wir sind alle Ottensener“, sagt er, „unser Motto ist: leben und leben lassen. Aber das war einfach zu viel.“

Zeitweise legte sie das Futter um 2.30 Uhr nachts aus

Gegen den Beschluss zugunsten der Köhlers legte Elhs Anwältin erfolgreich Widerspruch ein, sodass die Rentnerin Ende August wieder mit dem Eimer in den Garten gehen durfte. Aus Rücksicht auf die Nachbarn verteilte sie das Futter spätnachts, damit die Tauben die Körner im Morgengrauen aufpicken und rasch verschwinden.

Vier Monate ging das so – bis Inge Elhs im sogenannten Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht Altona unterlag. Das Anlocken Hunderter Tauben stelle eine Eigentumsbeeinträchtigung nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch dar, urteilte das Gericht im Januar. Stadttauben würden als belästigend empfunden, vor allem in hoher Zahl, auf einen konkreten Sachschaden komme es nicht mal an.

Leider habe das Gericht darauf verzichtet, die Situation vor Ort in Augenschein zu nehmen, sagt Anwältin Baumann. Auch seien fünf Zeugen nicht gehört worden – Anwohner, die versicherten, dass sie durch die Tauben nicht beeinträchtigt worden seien.

Elhs erhält Zuspruch auf Facebook

Auf Facebook erhält Inge Elhs gerade viel Zuspruch. Damit sie die Kosten für den Rechtsstreit teils abdecken kann, haben Tierfreunde bisher rund 1000 Euro gespendet. Unterstützt wird sie auch von Inge Prestele von den „Hamburger Stadttauben“.

Vor zwei Jahren sorgte der Verein für Aufsehen, indem er einer großen Schädlingsbekämpfungsfirma die Stirn bot. „Dieses Fütterungsverbot ist brutal für die Tauben und für diese sehr engagierte Frau“, sagt Prestele. „Es kann nicht richtig sein, dass sie dazu verurteilt wird, Tauben verhungern zu lassen.“ Wenn die Stadt behaupte, dass Tauben in Hamburg ausreichend Nahrung fänden, liege sie falsch. Vielen Tieren gelinge es nicht, ihren täglichen Futterbedarf von etwa 50 Gramm Körnern zu decken, so Prestele. Sie entwickelten dann Stress und schieden in der Folge nicht weniger, sondern mehr Exkremente aus. Hungerkot eben.

Lebenserwartung der Stadttauben liegt bei maximal drei Jahren

Prestele fordert daher den Bau zusätzlicher Taubenschläge, wie es sie am Hauptbahnhof gibt. So ließen sich die Tiere und die Population besser kontrollieren. Zwar hält die Gesundheitsbehörde Taubenschläge an Brennpunkten für denkbar. Aber: „Die Chancen für ein flächendeckendes Konzept erscheinen gering“, sagt Behördensprecherin Valerie Landau. Es fehle an Standorten. Und wohl auch an Geld für den Unterhalt.

Dabei ist die Großstadt kein gutes Habitat: Die Lebenserwartung von Wildtauben liegt bei zwölf Jahren, die der Stadttauben bei maximal drei Jahren. „Die Fütterung durch die Bevölkerung ist überwiegend nicht artgemäß und erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten“, sagt Landau. Jede Taube produziere bis zu zwölf Kilo Kot im Jahr, die darin enthaltene Harnsäure zerfresse Steine und lasse Metalle rosten. Außerdem können Erreger durch den getrockneten Kot auf den Menschen übertragen werden, etwa Kryptokokken (Pilze).

Elhs fürchtet weiter um die Versehrtheit ihrer Tauben

Nach 30 Jahren Taubenfüttern heißt es für Inge Elhs zumindest vorerst: Abschied nehmen. Deutlich weniger Tauben fliegen inzwischen den amtlich stillgelegten Futterplatz an. Mit den noch verbliebenen könne er gut leben, sagt Nachbar Köhler. Elhs aber fürchtet weiter um die Versehrtheit ihrer Schützlinge. „Es ist einfach fürchterlich“, sagt sie, während zu ihren Füßen eine Taube auf der Suche nach Körnern ins Leere pickt.