Hamburg. In Social Eatery haben auch Langzeitarbeitslose einen Job gefunden. 683 von ihnen wurden mithilfe eines neuen Gesetzes vermittelt.
Ein Freund vieler Worte ist Dirk Parchow nicht. Aber wenn es um seinen neuen Job und die neuen Kollegen in der Social Eatery geht, gerät er geradezu ins Schwärmen. „Das sind alles Pfundskerle“, sagt der 41-Jährige. „Ich bin noch nie irgendwo so vorbehaltlos aufgenommen worden.“
Der gelernte Koch kann das beurteilen, denn er war sechs Jahre lang arbeitslos und hat sich dabei von Beschäftigungs- zu Integrationsmaßnahme gehangelt. „Arbeitslosigkeit heißt ja nicht, dass man zur Beschäftigungslosigkeit verdammt ist“, sagt er. Doch es waren halt keine „richtigen“ Jobs, so mit Vertrag, Vollzeit, angemessener Bezahlung und allem anderen, was sonst noch dazugehört. Anerkennung zum Beispiel.
Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik
Dass er das alles in dem Restaurant an der Langen Reihe gefunden hat, hat mit einem Wortungetüm zu tun, einigen glücklichen Zufällen und einem sehr ungewöhnlichen Projekt. Der Reihe nach. Wie berichtet, wurde Anfang 2019 mit dem Teilhabechancengesetz ein Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik eingeleitet. Statt nur mehr oder weniger sinnvolle Beschäftigungsmaßnahmen zu fördern, ist es seitdem erstmals möglich, ganz reguläre, nach Tarif bezahlte Beschäftigungsverhältnisse mit staatlichem Geld zu unterstützen und so Langzeitarbeitslose direkt wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. „Wir investieren in Arbeit statt in Arbeitslosigkeit“, brachte Arbeitssenatorin Melanie Leonhard (SPD) die neue Strategie auf den Punkt.
Zielgruppe sind Menschen, die älter als 25 Jahre sind und mindestens sechs Jahre arbeitslos waren. Für sie sucht das Jobcenter eine passende Arbeit, für die es bis zu fünf Jahre lang Lohnkostenzuschüsse zahlt: 100 Prozent in den ersten beiden Jahren, 90 Prozent im dritten, 80 im vierten und 70 Prozent im fünften Jahr. Im Idealfall werden die Mitarbeiter dann ganz regulär weiterbeschäftigt. Insgesamt will die Bundesregierung mit dem neuen Gesetz bis zu 150.000 Langzeitarbeitslose in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse vermitteln – vier Milliarden Euro stehen dafür für vier Jahre bereit.
Hohe Anfangsinvestitionen
Auch Andrea Franke, die als Geschäftsführerin der SBB Kompetenz gGmbH unter anderem Umschulungen, Fortbildungen und Coachings für Arbeitslose anbietet, überlegte Anfang 2019, wie man das neue Instrument sinnvoll nutzen könnte. Ein Gastrobetrieb, in dem auch Langzeitarbeitslose eine neue Chance bekommen, schwebte ihr vor. Doch die hohen Anfangsinvestitionen in eine Immobilie, Küche und Ausstattung schreckten sie ab. Sich irgendwo einmieten, das wäre es.
Parallel hatte Arno Müller ähnliche Gedanken, nur umgekehrt. Der Inhaber der Bar Central an der Langen Reihe hatte gerade ein kleines Hotel eröffnet und wollte daher im Restaurant etwas kürzertreten und suchte einen Untermieter, der den Betrieb am Mittag übernehmen könnte. Andrea Franke wurde darauf aufmerksam – und so entstand die Social Eatery. Technisch gesehen ein „Joint Venture“, praktisch aber einfach eine Bar in der Bar, oder genauer: ein Restaurant im Restaurant – in dem auch der Koch Dirk Parchow und ein weiterer ehemals Langzeitarbeitsloser eine Anstellung gefunden haben. Insgesamt vier neue Stellen seien entstanden, so Andrea Franke.
Gehobener Mittagstisch
Seit Mitte Oktober verwandeln nun Dirk Parchow und Kollegen wie Daniela, Jean-Pascal und Küchenchef Peco die eher szenige Bar Central jeden Morgen in die Social Eatery und bieten von 10 bis 14.30 Uhr einen gehobenen Mittagstisch an: Ob „Rote-Bete-Gnocchi, gefüllt mit Walnuss-Mascarponecreme und getrüffeltem Ziegenkäse, liebevoll in Chili-Knoblauch-Limonenbutter geschwenkt“ für neun Euro oder der Grünkohl mit allem Drum und Dran als Saisongericht für 14 Euro – was Dirk und Peco in der Küche zaubern, kann sich sehen lassen. „Wir bauen uns gerade erste Stammkunden auf – das motiviert zusätzlich“, sagte Dirk Parchow. Wenn die letzten Gäste den Laden verlassen haben, wird dieser wieder in die Bar Central verwandelt – so wird etwa die Dekoration geändert, und die Mittagstischangebote auf der Fensterfront werden wieder entfernt. Das ist mittlerweile Routine.
Zur Wahrheit dazu gehört allerdings, dass der Start schwierig war. „In der ersten Woche war gar nichts los, da dachten wir schon, wir müssten bald wieder schließen“, sagt SBB-Chefin Andrea Franke. „Doch dann kamen immer mehr Gäste, und vor Weihnachten war es so voll, dass die Umsätze insgesamt schon über den Erwartungen liegen.“ Rund 450 Euro pro Tag müssten in die Kasse kommen, damit sich das Angebot trägt – das werde hoffentlich bald erreicht. Mittlerweile überlegt sie schon, weitere Restaurants nach dem Modell der Social Eatery zu eröffnen. Und im Frühjahr will sie einen Retter-Supermarkt in der Neuen Mitte Altona eröffnen, in dem Lebensmittel verkauft („gerettet“) werden, deren Mindesthaltbarkeitsdatum kurz vor dem Ablauf steht. Dort sollen mithilfe des Teilhabechancengesetzes acht Langzeitarbeitslose einen Job bekommen.
Jobcenter zieht positive Bilanz
Dirk Parchow und sein Kollege, der an diesem Tag leider krank ist, sind nur zwei Beispiele dafür, was mit dem neuen Gesetz möglich ist. Insgesamt hat das Jobcenter bereits 683 Langzeitarbeitslose auf diesem Weg in Arbeit gebracht – 665 in 2019 und 18 in 2020. Damit wurde das selbst gesteckte Ziel, im ersten Jahr 600 Jobs zu schaffen, erreicht.
Dirk Heyden, Geschäftsführer des Jobcenters team.arbeit.hamburg, ist mit der Bilanz daher zufrieden: „Diesen Menschen bietet sich nach einer sehr langen Zeit der Arbeitslosigkeit eine echte berufliche Perspektive“, sagte er dem Abendblatt. „Durch das Teilhabechancengesetz konnten wir sagen: Wir haben eine richtige Arbeit für dich. Das bedeutet oft auch die Unabhängigkeit von den Hilfeleistungen des Jobcenters. Das freut mich für jeden einzelnen dieser 683 Menschen.“ Diese nachhaltige Strategie wolle er auch 2020 fortsetzen. Heyden betont allerdings auch, dass das neue Gesetz nur ein Baustein von vielen sei: „Das Hamburger Jobcenter hat im Jahr 2019 insgesamt rund 5000 Menschen nach langer Arbeitslosigkeit über verschiedene Wege in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gebracht.“
Es gibt auch Kritik
Doch es gibt auch Kritik. So halten die in der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Arbeit zusammengeschlossenen Träger sozialer Einrichtungen dem Jobcenter vor, dass bislang nur eine Umverteilung von einem Förderinstrument auf ein anderes stattgefunden habe. 600 Plätze im Jahr schaffen zu wollen, sei im Übrigen nicht sehr ambitioniert. Hamburg habe damit im Bundesländer-Vergleich die rote Laterne. „Möglich gewesen wären bis zu 3000 Plätze“, heißt es aus der LAG Arbeit. Und: Die meisten dieser gut 600 Plätze seien gar nicht in der Wirtschaft entstanden, sondern bei sozialen oder öffentlichen Betrieben.
Dirk Parchow ist trotzdem glücklich über die neue Chance und möchte jetzt schnell zurück an seinen Arbeitsplatz in der Küche – am Nachbartisch warten neue Gäste. Was in zwei, drei oder fünf Jahren ist? „Darüber mache ich mir heute keine Gedanken“, sagt er. „Es ist gut, wie es ist.“
Am Freitag, 24. Januar, zieht das Bundesnetzwerk für Arbeit und soziale Teilhabe, ein bundesweiter Zusammenschluss von rund 300 sozialen Beschäftigungsträgern, in Hamburg eine erste Bilanz zum Teilhabechancengesetz. Vertreter aus Praxis, Bundespolitik und Wissenschaft diskutieren von 10.30 bis 16.00 Uhr bei der Alraune gGmbH auf dem Campus Steilshoop (Gropiusring 43). Zugesagt haben unter anderem die Bundestagsabgeordneten Beate Müller-Gemmeke (Grüne), Sabine Zimmermann (Linke), Martin Rosemann (SPD) sowie Professor Stefan Sell von der Hochschule Koblenz und Peter Kupka vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.