Hamburg. Der Altkanzler bemerkte die akkuraten Haarschnitte seiner Sicherheitsbeamten – und besuchte Marcus Jürs.
Ob Helmut Schmidt ein mulmiges Gefühl verspürte? Da saß er nun auf dem Sessel direkt am Schaufenster, betrachtete alle möglichen schrägen Aufkleber neben dem Spiegel, hatte den schaukelnden Totenkopf mit Filzhut im Visier, vernahm die Rockmusik im Hintergrund. Die exotischen Wasserpflanzen im gläsernen Zylinder vor seinem Platz gaben ihm Rätsel auf. „Ich bin hier hoffentlich nicht in einer Drogenhöhle gelandet?“, wollte der Altkanzler wissen. Dabei war er der Einzige im Geschäft, der rauchte. Und zwar eine nach der anderen.
Friseurmeister Marcus Jürs, an den Armen markant tätowiert, wusste um den Schalk des namhaften Seniors. Er vermochte die Frage korrekt einzuschätzen: als Melange zwischen Provokation und Scherz. Denn zum Zeitpunkt der Fragestellung kannte Schmidt den Ladeninhaber schon lange. Bei ihm fühlte er sich in erstklassigen Händen. Ein Jahrzehnt war Schmidt Stammgast in diesem Salon. Hin und wieder bat er Jürs zum Haareschneiden nach Hause in Langenhorn. Vor allem vertraute der Staatsmann im Ruhestand ihm das Allerheiligste an: seine Locke. In jüngeren Jahren krönte sie markant das Haupt von „Schmidt Schnauze“. Messerscharf gescheitelt stand dieser seinen Mann. Auch im Alter, als die Tolle weiter nach hinten frisiert werden musste, um zu wirken. Das Prinzip blieb als Markenzeichen zeitlos: längeres Deckhaar, kürzere Konturen.
Faszinierende Facette eines außergewöhnlichen Lebens
Wie Helmut Schmidt an die Adresse Steinstraße 21 kam und warum er ausgerechnet einen „Rockabilly-Friseur“ mit der Dressur seines Haarschnitts betraute, ist eine der faszinierenden Facetten eines außergewöhnlichen Lebens. Der preußische Hanseat Schmidt, bisweilen Oberlehrer der Nation mit Hang zur Pedanterie, verfügte über Großgeist und Gabe, Vorurteile links liegen zu lassen. Seine Persönlichkeit passte in keine Schublade. Sein 101. Geburtstag am Tag vor Heiligabend ist eine gute Gelegenheit, eine Geschichte zu erzählen, die kaum jemand kennt.
Klar, dass dieser Episode dort auf den Grund gegangen wird, wo sie sich mehr als hundertmal ereignete: Auf dem Friseurstuhl ganz links am Schaufenster. Mit Blick in den Spiegel, so und so. Und selbstverständlich legt der 50 Jahre alte Meister ganz real Hand an. Klassische Herrenfriseure alter Schule wie Marcus Jürs haben Seltenheitswert. Ehrensache, dass die Leistung anschließend an Ort und Stelle entlohnt wird. Und zwar so, wie es Hamburgs Ehrenbürger vor seinem Ableben im November 2015 zu handhaben pflegte: bar. Angereichert mit einem anständigen, indes nicht zu üppigen Trinkgeld. Schließlich war der prominente Kunde mal Finanzminister.
Marcus Jürs war erstaunt
Inbegriffen ist die Aussicht auf eine bunte Welt des Rock ‘n‘ Roll – in Form mehrerer Dutzend Aufkleber an der Wand. „Rumble 59“ steht auf einem, „Gib E-Bass keine Chance“ auf einem anderen. Das Credo: Rock ‘n‘ Roll trägt man nicht nur auf dem Kopf, sondern auch im Herzen. Auf einem Schränkchen beeindruckt eine Plastikfigur. Ein komischer Vogel: lässig bis ins Mark, Hosenträger, Hand in der Seitentasche. Und im Hintergrund fetzen Elvis, Johnny & Co. Was mag Helmut Schmidt gedacht haben?
Dabei war das Erstaunen anfangs aufseiten des Friseurs. Marcus Jürs, eine kernige Type mit Selbstbewusstsein, wunderte sich anfangs über zwei freundliche Gäste, die regelmäßig zum Haareschneiden erschienen und sogar im Hochsommer ihre Jacketts anbehielten. Auf Nachfrage zeigten die Herren diskret, was darunter verborgen war. Angesichts der Pistolen war dem Ladeninhaber klar, dass hier keine Gangster, sondern Sicherheitsleute saßen. LKA, BKA oder so. Weitere Fragen stellte er nicht.
Zwei Fußminuten entfernt, in seinem Büro am Speersort, bemerkte „Zeit“-Verleger Helmut Schmidt die akkuraten Frisuren seiner Bodyguards. 2005 war das. Da sich der Laden seines Leibfriseurs in einen Kosmetiksalon verwandelte, war der damals 87-Jährige auf der Suche nach einem neuen. Hinweise auf das extravagante Umfeld im Rahmen von Rockabilly irritierten ihn keineswegs. Wenig später betrat Helmut Schmidt den Salon vis-à-vis von St. Jacobi.
Auch bei Jürs blieb Schmidt beim „Hamburger Du“
„Gib mir mal den Kamm, Herr Jürs“, bat er im „Hamburger Du“ und demonstrierte kurz und knapp, wie eine Frisur seiner Fasson auszusehen habe: messerscharf gezogener Scheitel, Haare und Locke wie aus einem Guss. Am wichtigsten: die Locke nicht zu kurz. Jürs verstand. Schmidt kam wieder, immer wieder. Sechs Sicherheitsleute waren präsent: zwei im Geschäft, zwei vor der Tür, zwei in der gepanzerten Limousine auf der rechten Fahrspur.
Zehn Jahre schritt Marcus Jürs mit Rasiermesser, Schere und Kamm zur Tat. Bis zum Ende. Im Schnitt kam Schmidt alle drei bis vier Wochen, meist dienstagmittags oder donnerstags kurz vor Feierabend – und vor wichtigen Fernsehauftritten auch außerhalb der Reihe. „Herr Schmidt erschien stets auf die Minute pünktlich“, erinnert sich Jürs. Als er einmal eine Viertelstunde zu früh mit seinem Gehstock durch die Tür trat, hielt er sich an die Spielregeln des Geschäfts: im Wartebereich Platz nehmen, Zeitung lesen.
Im Laufe der Jahre kamen sie sich näher
Ein Klönschnacker sei der Altkanzler nicht gewesen. Als Hamburger verfügte Schmidt nicht gerade über sizilianisches Temperament. Betriebstemperatur erreichte er nur allmählich. Im Laufe der Jahre kamen die beiden Hanseaten sich näher. War Vertrauen gewachsen, schenkte Helmut Schmidt Handwerkern und anderen Dienstleistern dauerhafte Treue. Loki verfuhr ebenso. Zudem hatte der Politiker im Ruhestand ein Herz für Selbstständige mit Bodenhaftung. Stabile Charaktere wie Jürs.
Schon Vater Wolfgang stammt vom Fach. Vor bald einem halben Jahrhundert fing dieser in einem kleinen Laden an der Davidstraße an. Später betrieb er Friseurgeschäfte an der Alsterdorfer Straße, in Berne, in Winterhude. Der Name Jürs stand und steht für klassische Haarschneidekunst ohne Schnörkel und Fisimatenten. Traditionelle Technik. Gelernt ist gelernt.
Sohn Marcus ging beim Vater in die Lehre. Stationen in London, Paris sowie an der Barber University in New York rundeten die Ausbildung ab. 2003 übernahm der Friseurmeister das Geschäft Steinstraße 21. Seit 1948 ist dort ein Salon zu Hause. Auf rund 100 Quadratmetern, inmitten des denkmalgeschützten Kontorviertels, befinden sich sechs Arbeitsplätze.
Hier gibt es keine Termine, zumindest eigentlich
Seit 2008 nimmt der zweifache Familienvater ausschließlich Männer als Kunden an. Klassische Schnitte sind seine Spezialität – nach traditioneller Barbiermanier. Auch nach alter Rezeptur neu hergestellte Pomaden und gutes Haarwasser sind wieder in Mode. Zudem machte der Profi für Schnitte der 1930er- bis 1950er-Jahre aus seinem Hobby Rock ‘n‘ Roll eine Tugend. Als „In-Stadt-Friseur“, so der offizielle Geschäftsname, mit besonderer Note braucht sich der Chef über mangelnde Kundschaft nicht zu beklagen.
Zur Seite steht ihm Mitarbeiter Aleksandar. Gelegentlich hilft Vater Wolfgang aus. Termine werden nicht gemacht. „Walk In“ heißt das Prinzip. Wer wartet, kann sich über gute Unterhaltung freuen. In jeder Beziehung. „Herr Schmidt fügte sich unkompliziert ein“, sagt Marcus Jürs. Nach dem informativen Vorgespräch geht’s jetzt zur Sache. Der Meister hat eine braune Lederschürze angelegt, wetzt das Rasiermesser, legt los. Am Haupthaar. Rasuren übernimmt er nicht mehr, Bärte schon.
Große Ära des Rock ‘n‘ Rolls
Durch den Spiegel fällt der Blick auf Poster aus der großen Ära des Rock ‘n‘ Rolls. Die Musik passt. Jürs hat 45.000 Stücke auf seiner Festplatte. Da Helmut Schmidts Hörprobleme im hohen Alter zunahmen, bekam er musikalisch nur wenig mit. Mancher Gast, weiß Jürs, blieb länger im Laden, wenn sich Schmidt die Haare kürzen und die typische Locke legen ließ. Na klar war er eitel. Die knappe halbe Stunde muss immer so etwas wie eine Zeremonie gewesen sein. Am Schluss zahlte Schmidt den gewöhnlichen Tarif: 21 Euro – plus vier Euro Tipp. Wobei Jürs erstaunt war über die Summe, die sein prominenter Besucher an zwei Stellen der Kleidung bei sich trug: „Er hatte immer die Taschen voll.“ Bündelweise Bargeld. Eine EC-Karte oder anderer „neumodischer Krams“ (O-Ton Schmidt) wurde bei ihm nicht gesichtet.
Gelegentlich wurde Jürs zum Haareschneiden in das Doppelhaus am Neubergerweg gebeten. Im Wohnzimmer servierte Loki 2008 Kaffee, derweil ihr Ehemann im Arbeitszimmer im Hochparterre noch beschäftigt war. „Wir haben wunderbar geschnackt“, beschreibt Jürs diesen ersten Privatbesuch. „Frau Schmidt war am normalen Leben interessiert.“ Einmal kam Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier aus dem Hochparterre nach unten: „Sie können jetzt zu ihm kommen.“ Während eines späteren Jobs habe ihn Hausherr Schmidt heimlich um einen Gefallen gebeten: Jürs musste in der Küche drei Zuckerwürfel stibitzen. Diese standen auf der medizinischen Verbotsliste.
Er gab ihm nur einmal die Hand – zum Abschied
Diskretion war für den Friseur seines Vertrauens eine Frage der Ehre. „Und bitte keine Fotos“, bat der Staatsmann. Bis auf ein schnelles Handyfoto im Laden hielten sich alle daran. „Und, Jürs“, habe Schmidt hinzugefügt: „Wenn ich nicht mehr da bin, können Sie alles erzählen. Vorher bitte nicht.“
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Ende Oktober 2015 wurde der Friseurmeister erneut nach Langenhorn beordert. Anders als sonst schnitt er die Haare diesmal nicht in der Sitzecke des Arbeitszimmers, sondern direkt am Schreibtisch. Helmut Schmidt habe Jürs ein Foto aus seiner Soldatenzeit gezeigt: „Mach heute mal bitte kürzer.“ Der Friseur war zu höflich, um nach dem Grund zu fragen. „Dann sehen wir uns in zwei oder drei Wochen wieder im Laden“, sagte Marcus Jürs zum Abschied. „Das kann ich nicht versprechen“, habe Schmidt entgegnet. Dann reichte er seinem Friseur die Hand.
Das war das erste Mal. Und es war das letzte Mal.