Hamburg. Vor 40 Jahren wurde der durchgehende Tunnel der S-Bahn eröffnet. Erinnerungen an ein Stück Verkehrsgeschichte.
Das „Maulwurfswerk“ führt in die „Unterwelt“, wo die Vehikel aus dem „gebrochenen Verkehr“ nicht mehr „Köpf machen“ müssen, sondern gleich hinter der „Bahn-Buche“ im „Loch von Altona“ landen. Von dort rollen „Flüsterzüge“ über „Gummiteppiche“ durch die „Milliardenröhre“.
Kaum ein anderes Großprojekt wird im eher nüchternen Hamburg von Politik und Medien so poetisch besungen wie der S-Bahn-Schlauch in den Unterbauch der Stadt. Kaum ein anderes Großprojekt auch stößt erst auf so viel Kritik und dann doch auf so viel Zustimmung wie die City-S-Bahn durch den zweitlängsten Tunnel im Norden der Republik.
Noch bei der Eröffnung vor 40 Jahren unken selbst Ehrengäste, der teure Tiefbau hätte doch gar nicht nötig getan. Außerdem verlagere er die Fahrgastströme nur, statt neue „Beförderungsfälle“ zu kreieren. Doch die Skeptiker führen ein wirkungsloses Nachhutgefecht: Heute ist ein großstadtgerechter ÖPNV ohne den Bypass durch das Herz der Stadt gar nicht mehr zu denken.
Eine Zeit hochfliegender Pläne
Den Verkehrschirurgen aus Senat, Baubehörde und Bundesbahndirektion wird das schon Anfang der 1960er-Jahre klar. Damals gibt es nur zwei S-Bahn-Linien. Sie teilen sich die Gleise der Verbindungsbahn zwischen Hauptbahnhof und Altonaer Bahnhof mit dem Fernverkehr. Bald rollt alle zweieinhalb Minuten ein Zug über die Lombardsbrücke. Die Sicherheitstechnik schreibt einen Mindestabstand von eineinhalb Minuten vor, und deshalb schafft jede kleine Abweichung vom Fahrplan große Probleme.
Außerdem fährt die S-Bahn auf den alten Wallanlagen im Bogen um die Innenstadt herum. Wer in die City will, muss auf Busse oder in die U-Bahn umsteigen. Experten sprechen von „gebrochenem Verkehr“. Vielen Fahrgästen gefällt das nicht, und sie nehmen lieber das Auto. Die neue Linie aber macht aus der Kurve eine Gerade. Sie hält dort, wo die Geschäfte, Ämter, Arbeitsplätze sind: Jungfernstieg, Stadthausbrücke, Landungsbrücken, Reeperbahn, Königstraße. Damit wird sie zur neuen Lebensader der Handelsmetropole.
Die 1960er-Jahre sind eine Zeit hochfliegender Pläne. 1966 will die Neue Heimat in St. Georg ein gigantisches „Alsterzentrum“ bauen, mit Wohnraum für 20.000 Menschen in fünf bis zu 200 Meter hohen Wolkenkratzern. Auf der Esplanade ist eine Hochstraße geplant. Aus beiden Projekten wird nichts. Den Verkehr ordnen stattdessen, eine Nummer kleiner, am Hauptbahnhof der Wallringtunnel und in Altona die erste Fußgängerzone.
Alle vier Monate mussten Fahrer umlernen
Mit dem ersten Rammschlag für die City-S-Bahn am 14. Oktober 1967 wälzt sich ein riesiger Wurm aus Kränen und Spundwänden hinter einer gewaltigen Schildvortriebsmaschine durch die Binnenalster zum Jungfernstieg. Dort wartet eine besonders knifflige Aufgabe: Unter dem Boulevard kreuzt die S-Bahn gleich zwei U-Bahn-Linien. Oben fährt die U 1, unten die U 2. Und genau da wird nun der neue S-Bahn-Steig gebaut.
Das Resultat ist grandios. In der Schalterhalle unter dem Rathausmarkt öffnen Panoramascheiben einen faszinierenden Blick über die Kleine Alster auf das Architektur-Juwel Alsterarkaden. Den 200 Meter langen Bahnsteig sichern sechs Fluttore. „Hamburg oder Venedig?“, fragt ein begeisterter Berichterstatter.
Auch die Endpunkte fordern technische Höchstleistungen. An der Haupthalle des Hauptbahnhofs bekommt die S-Bahn einen zweigleisigen Tunnelbahnhof. In Altona muss wegen Einsturzgefahr sogar das gesamte Empfangsgebäude abgerissen werden. Die S-Bahn-Station wird ins zweite Kellergeschoss verlegt – bei laufendem Betrieb, die Züge müssen ohne Pause fahren.
Knifflige Abfangkonstruktion
Die Ingenieure tüfteln nicht nur ausgedehnte Brücken-, Rampen- und Tunnelanlagen aus, sondern auch ständig wechselnde „Bauzustände“: Bis zu 20-mal müssen die S-Bahn-Gleise verschoben, angehoben oder verschwenkt werden. Jedes Mal werden neue Weichenverbindungen und damit Änderungen der Signaltechnik nötig. Alle vier Monate müssen die Fahrer umlernen.
Das „Loch von Altona“ unter dem Bahnhofplatz, der Museumstraße und dem Platz der Republik wird die komplizierteste Großbaustelle seit Jahrzehnten. Der gesamte Jungfernstieg ließe sich darin versenken. Am Rand bewahrt eine knifflige Abfangkonstruktion den Nordostflügel der Bundesbahndirektion davor, in die Grube zu sausen. In dem aufwendig gesicherten Gebäude sitzt auch Präsident Kuno Mohr. „Der Chef über Abgründen!“, witzelt ein Reporter.
Nicht etwa nur dem Präsidentenbüro, mehr noch der Natur gilt schon damals die Sorge der Planer. Am Altonaer Rathaus muss ein 100 Jahre alter Tunnel der Hafenbahn unterfahren werden. Ebenso alt ist eine Buche gleich nebenan. Die Ingenieure sichern die Wurzeln und ziehen einen Drainagegraben. Die Kosten von 40.000 D-Mark machen die „Bahn-Buche“ zu einem der teuersten Bäume der Stadt. Später gibt es für die Züge, die in Altona „Köpf machen“, also die Fahrtrichtungen wechseln, nur noch zwei Gleise an Behelfsbahnsteigen. Das verlangt Sekundenarbeit von den Fahrplanstrategen.
13 Millionen mehr Fahrgäste im ersten Jahr
Ebenso spektakulär sind die Arbeiten an den Stationen. An der Stadthausbrücke baut Hamburg mit Bundeshilfe einen neuen Bunker: Die Zivilschutz-Mehrzweckanlage Michaelisstraße kann im Fall eines Atombombenangriffs 4500 Menschen zwei Wochen lang versorgen. Der Tiefbunker am Spielbudenplatz für 5000 Menschen steht schon seit 1942, wird jetzt aber mit dem Bau der Haltestelle Reeperbahn mit Bundesmitteln auf den neuesten Stand gebracht.
Ärger mit Anwohnern gibt es nur auf St. Pauli und in Altona: Seltsamerweise stören die Züge, die durch den Untergrund rattern, dort am meisten, obwohl die Tunnel gerade dort am tiefsten sind. Die Ingenieure legen für 900.000 D-Mark Gummimatten unter die Schwellen, und die „Flüsterzüge“ lassen die Beschwerden alsbald verstummen.
Die Strecke vom Hauptbahnhof zu den Landungsbrücken kostet 501 Millionen Mark, die Fortsetzung zum Altonaer Bahnhof 550 Millionen. Das klingt heute wie aus einem Märchen. Noch dazu wird das Projekt ein halbes Jahr früher fertig als geplant. Das gibt’s heute auch nicht mehr oft. Der HVV aber steigert seine Fahrgastzahlen gleich im ersten Jahr der City-S-Bahn von 142 auf 155 Millionen.