Hamburg. Beim Anflug auf den Airport Hamburg ist es fast zum Zusammenstoß von zwei Flugzeugen gekommen. Eine unterschätzte Gefahr?
Es war ein sonniger Tag, nur wenige Wolken waren am Himmel, erinnert sich Segelflugpilotin Anne-Sophie Polz, wenn sie an den Tag denkt, an dem es über Schleswig-Holstein fast zur Katastrophe gekommen wäre. „Plötzlich tauchte neben mir ein großer Schriftzug 'Lufthansa' auf, in etwa 40 bis 60 Metern Entfernung", sagt Polz im Politmagazin "Panorama 3" des NDR Fernsehens.
Die erst 17 Jahre alte Pilotin war am 23. Juli dieses Jahres gegen 12.30 Uhr zu einem Segelflug in Lübeck-Blankensee gestartet. Trotz ihres jungen Alters ist Anne-Sophie Polz bereits eine erfahrene Pilotin. Am 16. Juli 2016, drei Jahre vor dem Beinahe-Unfall, bekam Polz erstmals vom Tower des Flughafens Lübeck-Blankensee die Starterlaubnis für ihren ersten Alleinflug. Zahlreiche Flugstunden über Norddeutschland hat die Segelflugpilotin seitdem absolviert.
Doch an diesem Dienstag im Sommer 2019 erstarrt Polz vor Schreck, als der Airbus A 321 schräg unter ihr wie aus dem Nichts auftaucht. Beide Flugzeuge verfehlen sich um wenige Meter. Die mit 175 Menschen besetzte Lufthansa-Maschine ist im Anflug auf den Hamburger Flughafen. Nach gut vier Stunden Flug landet Polz ihre Rolladen-Schneider LS 4 wieder sicher auf der Landebahn in Lübeck.
Segelflugzeug taucht nicht auf dem Radar auf
Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) geht in einem vorläufigen Untersuchungsbericht davon aus, dass sich sowohl die Segelfliegerin als auch der Lufthansa-Pilot in dem betreffenden Luftraum aufhalten durften. Beide Flugzeuge hatten sich offenbar jedoch aufgrund unterschiedlicher Warnsysteme zuvor nicht wahrnehmen können.
Das Segelflugzeug konnte zudem aufgrund fehlender technischer Ausstattung weder von der Lufthansa-Maschine noch vom Fluglotsen auf dem Radar erkannt werden. Ein Lufthansa-Sprecher teilte hierzu mit, man unterstütze bei solchen Vorfällen im Flugbetrieb die Untersuchungsarbeit der zuständigen Stellen, möchte dem Ergebnis aber nicht vorgreifen. Ferner teilt die Lufthansa auf Abendblatt-Anfrage mit: "Mit Interesse entnehmen wir allerdings mancher Veröffentlichung, dass niemandem in beiden Cockpits ein Fehlverhalten attestiert wird."
Beinahzusammenstoß ist kein Einzelfall
Laut dem NDR, dem die Zahlen der BFU vorliegen, ist der Vorfall zwischen Hamburg und Lübeck kein Einzelfall: In den vergangenen vier Jahren kam es im Luftraum über Deutschland zu mehr als 170 potenziell gefährlichen Annäherungen von Luftfahrzeugen. Allein dieses Jahr gab es 45 Zwischenfälle. Dabei handelt es sich größtenteils um Alarme von Kollisionswarnsystemen, die Verkehrspiloten zur sofortigen Kursänderung auffordern. In anderen Fällen wurden gefährliche Annäherungen und Beinahezusammenstöße von den Piloten beobachtet, ohne dass sie zuvor gewarnt worden wären.
Luftfahrtexperten gehen davon aus, dass die Zahlen noch höher sind, weil Meldungen auch bei andere für die Luftfahrt zuständige Behörden eingehen. Zudem gebe es eine erhebliche Dunkelziffer nicht gemeldeter Zwischenfälle.
Die Gründe für gefährliche Annäherungen seien vielfältig: immer mehr Flugbewegungen, inkompatible Kollisionswarnsysteme großer und kleiner Flugzeuge, fehlende Funktechnik bei Privatfliegern, aber auch Verkehrspiloten, die aufgrund des Zeitdrucks Abkürzungen durch mit Segelfliegern gemeinsam genutzte Lufträume nehmen.
Experten warnen vor unterschätzer Gefahr
Deswegen bestehe insbesondere im sogenannten gemischten Luftraum eine große Gefahr – also in Zonen, die von großen wie kleinen Flugzeugen genutzt werden und in der Nähe von Flughäfen liegen. So gab es im Jahr 2018 alleine in Nordrhein-Westfalen im Umfeld der Flughäfen Weeze und Paderborn in mindestens acht Fällen Annäherungen zwischen Verkehrsflugzeugen und Segelfliegern. In einzelnen Fällen mussten die Passagiermaschinen ausweichen, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
Wissenwertes zum Hamburger Flughafen:
- Der Hamburg Airport hat zwei Terminals und liegt 8,5 Kilometer nordwestlich der Stadtmitte
- Er wurde 1911 angelegt und ist der älteste und fünftgrößte Flughafen in Deutschland
- Seit 2016 wird der Flughaften auch Hamburg Airport Helmut Schmidt genannt
- Er umfasst inzwischen eine Fläche von 570 Hektar
- Rund 60 Airlines fliegen derzeit den Hamburger Flughafen an (Stand: Dezember 2019)
Christoph Strümpfel vom Institut für Luft- und Raumfahrt der TU Berlin sieht als einen wichtigen Grund für solche Zwischenfälle den zunehmenden Flugverkehr: „Der deutsche Luftraum ist einer der meistfrequentierten Lufträume in Europa.“ Man setze gerade in gemischten Lufträumen, wo Verkehrsflugzeuge mit Privatfliegern zusammenträfen, auf das fliegerische Prinzip „Sehen und ausweichen“, das aber nicht selten an seine Grenzen komme. Strümpfel sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, hier strengere Regeln zu erlassen.
Felix Gottwald von der Vereinigung Cockpit (VC) hält die Gefahr einer Kollision zwischen einer Passagiermaschine mit einem kleineren Flugzeug für absolut realistisch: „Es erstaunt mich schon, dass da noch nichts passiert ist, weil wir genügend Berichte haben, wo es eben ganz knapp war, wo Flugzeuge nur per Zufall aneinander vorbeigeflogen sind. Das hätte auch krachen können. Von daher ist es nur eine Frage, wann so etwas passiert, und nicht ob.“
Lufthansa sieht den Gesetzgeber in der Pflicht
Herbert Märtin vom Deutschen Segelflugverband (DSV) kritisiert die Verkehrspiloten, die aus Zeitdruck immer häufiger auch auf gemischte Lufträume auswichen, obwohl ihnen sichere, kontrollierte Lufträume zur Verfügung stünden: „Gewisse Aufholeffekte im Flugplan der Airlines dürfen nicht auf Kosten der Sicherheit gehen, indem der für den kommerziellen Luftverkehr geschützte Luftraum verlassen wird.“
Ob auch bei dem Vorfall am 23. Juli zwischen Hamburg und Lübeck der Lufthansapilot auf den gemischten Luftraum ausgewichen ist, lässt die Lufthansa unbeantwortet. Ein Sprecher teilt gegenüber dem Abendblatt lediglich mit: "Mit einigem Erstaunen nehmen wir die zitierte These des Segelflugverbands zur Kenntnis." Offen bleibt auch die Frage, ob die Lufthansa Konsequenzen aus dem Vorfall gezogen hat. Laut dem Unternehmen müsse das Thema mit der Flugsicherung diskutiert werden "und grundsätzlich – was die Gliederung des Luftraums angeht – mit dem Gesetzgeber", so der Sprecher.
Bei Anne-Sophie Polz sorgte der Vorfall zwar für einen großen Schreck, dennoch ist ihre Leidenschaft fürs Fliegen ungebrochen. Von klein auf interessiert sich Polz für Flugzeuge. Ihre Eltern, die Mutter Lehrerin, der Vater Zahnarzt, erinnern sich daran, wie ihre Tochter bei den ersten Schritten mit 15 Monaten ihre Ärmchen gen Himmel zu den Flugzeugen ausgestreckt habe. Somit ist es auch ihr größter Traum, Pilotin der großen Passagierflugzeuge zu werden.
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Nur vier Tage nach dem Vorfall im Juli setze sich Anne-Sophie Polz wieder in einen Segelflieger. Gedanken darüber, was sie bei einem Zusammenstoß hätte tun können, hat sie sich dennnoch gemacht. "Ich hätte die Chance, auszusteigen und den Fallschirm zu nutzen", sagt sie. Doch wie könnten Zusammenstöße überhaupt verhindert werden?
DFS: Transponder-Pflicht schadet der Flugsicherheit
Der Deutsche Segelflugverband setzt gerade mit Blick auf die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G auf technische Neuerungen, „die hier weitere Verbesserungen schaffen werden“, so Herbert Märtin.
Eine von der BFU bereits vor zwei Jahren geforderte Pflicht zur Ausrüstung aller Luftfahrzeuge mit sogenannten Transpondern, also Sendern, die die Position und den Kurs eines Flugzeuges ausstrahlen, wird von den meisten Experten jedoch kritisch gesehen. Die Deutsche Flugsicherung (DFS) hatte Anfang 2019 durch eine Simulation festgestellt, dass dies zu einer Überlastung der Funkfrequenzen führen würde und der Flugsicherheit eher schade.
Das Bundesverkehrsministerium teilte auf Anfrage mit, dass es die Thematik derzeit zusammen mit Experten untersuche: „Als Teil der Flugsicherheitsarbeit werden die relevanten Punkte für eine mögliche Umsetzung identifiziert und betrachtet.“ Eine konkrete Anfrage zu den BFU-Zahlen ließ das Ministerium zunächst unbeantwortet.