Hamburg. Vor 60 Jahren landete zum ersten Mal eine Düsen-Verkehrsmaschine in Fuhlsbüttel. Die Boeing 707 wurde als Sensation gefeiert.
Das Wetter ist heiter, der Himmel über Fuhlsbüttel nur leicht bewölkt. Am Flughafen schauen Tausende gespannt nach oben. Es ist ein großer Tag für ihre Stadt. Denn an diesem Sonnabend, dem 12. Oktober 1959, wird Hamburg an die neueste Entwicklung der modernen Luftfahrt angeschlossen: den Düsenflugverkehr.
Zum ersten Mal soll auf der Piste das neue Superflugzeug landen, über das alle seit zwei Jahren reden: Die Boeing 707 „Intercontinental“ der US-Fluggesellschaft Pan American World Airways, kurz PanAm, ist die weltweit erste Passagiermaschine mit Düsenantrieb, und auch die erste, die ohne Zwischenstopp den Atlantik überquert hat.
Als das riesige Flugzeug aus dem Himmel herabschießt und auf die Landepiste aufsetzt, beginnt auch für Deutschland eine neue Ära. Mit dem sensationellen Spitzenprodukt aus der Boeing-Fabrik im nordamerikanischen Seattle rückt die Welt näher zusammen. Nach den „gehobenen Ständen“, so ein Kommentar, nutzen nun auch „weniger begüterte Zeitgenossen“ das legendäre Luftgefährt. Das Fliegen wird für viel mehr Menschen als bisher erschwinglich, und der Massentourismus erlebt die erste Hochblüte.
In 17 Stunden schon in Tokio
Die Reise nach New York dauert als Ritt auf der Düse nur noch acht statt bis dahin 17 Stunden. In 17 Stunden wiederum ist man schon in Tokio. Und: Der vierstrahlige Tiefdecker mit Schmalrumpf nimmt 180 Passagiere mit – doppelt so viele wie die größten Propellerflugzeuge. Das wird bei den Preisen bemerkbar: Der Preis fürs Rückflugticket sinkt um 500 Mark auf nur noch 1703 Mark.
Außerdem macht die neue Technologie die Luftreise angenehmer. Viele Zwischenlandungen entfallen, und mit Flughöhen von elf bis zwölf Kilometern lässt die Boeing 707 alle Wetterturbulenzen weit unter sich. „Kaum zu glauben, dass man in einem Flugzeug sitzt“, staunen die ersten Passagiere. Die Piloten, die in der „Operation Paperjet“ schon seit 1956 im Simulator Transatlantikflüge in Höhen von über 10.000 Metern üben, vergleichen den Umstieg mit dem Wechsel von einem VW-Käfer in einen Porsche.
Riesige Menschenmenge
Noch größer ist die Begeisterung der Hamburger, als auch die Lufthansa die Boeing 707 erwirbt und am 2. März 1960 in Fuhlsbüttel vorstellt: Die allererste Lufthansa-Boeing 707 erhält die Kennung D-ABOB und soll auf den Namen „Hamburg“ getauft werden. Als der Wunderjet aus dem diesmal diesigen Himmel herabstößt, begrüßt ihn der Flughafen mit heulenden Sirenen. Bei der Landung notiert ein Zeitungsreporter: „Alles spitzte die Ohren, aber man hörte kaum etwas.“
Auf dem Rollfeld lässt sich eine riesige Menschenmenge auch von vorsorglich aufgestellten Schildern mit Warnungen wie „Achtung vor dem heißen Gasschweif“ und „Vorsicht vor dem Sog am Lufteintritt“ nicht bremsen.
Der Zweite Bürgermeister maß die Lautstärke der Turbinen
Lufthansa-Kapitän Werner Utter berauscht sich an der modernen Technik: „Die Macht der Motoren und die ganzen Maße der Maschine vermitteln den Eindruck, als würde man mit wenigen und leichten Handgriffen über einen Computer ein riesiges Industriewerk steuern.“ Außerdem erweist sich die jüngste Boeing bald auch als eins der sichersten Flugzeuge der Welt. Eine Lufthansa-707 etwa kann trotz zweier brennender Triebwerke unbeschadet landen. Eine andere Maschine bleibt auch dann noch flugfähig, als ihr bei einer Kollision in der Luft ein Drittel der Tragfläche abgerissen wird.
Der Bordservice wird dem Ansprüchen der neuen Zeit angepasst. Den Stewardessen schneidert der Berliner Modeschöpfer Heinz Oestergaard eine Uniform im klassisch-gediegenen Stil auf die Mannequinfiguren. Und Hamburgs Zweiter Bürgermeister Edgar Engelhard (FDP) sorgt persönlich dafür, dass es zum ersten Mal in der Geschichte des Fliegens über den Wolken Bier vom Fass gibt.
Auch zum Dämmerschoppen serviert der „Chef de Cabine“ den Gästen der deutschen Renommierlinie eher Deftiges: Steinhäger, Schwarzbrot und Schinken vom Schinkenbock, als willkommene Alternative zu Hummer, Kaviar und Bachforellen.
Doch noch im selben Jahr beginnen die Proteste der Lärmschützer: Denn ganz so leise wie in der ersten Euphorie behauptet ist der neue Jet dann doch nicht. Wieder greift Engelhard, der auch im Aufsichtsrat der Flughafen Hamburg GmbH sitzt, persönlich ein: Er lässt einen Lärm-Messwagen auf die Piste rollen und prüft mit Bausenator Rudolf Büch (SPD) 100 Meter vor den heulenden Turbinen die Werte. Mit 85 Dezibel ist das Rolls-Royce-Triebwerk zwar wesentlich lauter als die alten Turbopropmotoren, doch der Liberale hat passenden Trost bereit: Durch die höhere Geschwindigkeit sei das neue Flugzeug dafür auch wesentlich schneller außer Hörweite …
Die rostende „Hamburg“ wurde nach Afrika verkauft
Bis Anfang der 1980er-Jahre geht das noch leidlich gut, dann aber macht der technische Fortschritt die Boeing 707 zum lärmenden Ladenhüter: Die Nachfolger sind bis zu 80 Prozent leiser und schlucken außerdem 35 Prozent weniger Kerosin. Wie immer in solchen Fällen macht die US-Luftfahrtbehörde den Anfang. Sie verpasst der Boeing 707 zum 1. Januar 1985 ein landesweites Startverbot. Ein Jahr später darf das Flugzeug auch in Europa nur noch mit Sondergenehmigung abheben.
Schon am Silvestertag 1984 geht dem ersten Jet der Geschichte zum letzten Mal über Deutschland die Düse: Mit einem Rundflug von der Nordsee zu den Alpen verabschiedet sich das verdiente Pionierflugzeug für Langstrecken aus der Bundesrepublik, aber nicht etwa in die wohlverdiente Rente, sondern in die Dritte Welt, wo ihre Schwächen sehr viel milder beurteilt werden.
Die Lufthansa-Boeing 707 „Hamburg“ aber wird bereits 1976 verkauft. Grund: Korrosion. Die Rostlaube mit dem Kranichsymbol verschwindet in zwielichtige Dienste nach Afrika. Gerüchte wollen von Waffenschiebereien wissen.
Das letzte Exemplar einer Boeing707 in Hamburg wird 1999 vom Flughafen für einen symbolischen Euro als Museumsflugzeug erworben. Es trägt die Kennung D-ABOD und ist bei Tagen der offenen Tür zu besichtigen, aber auch zwischendurch immer mal wieder ein Hingucker: Im August vergangenen Jahres etwa machte der Oldtimer als Filmkulisse in „Rocca verändert die Welt“ bella figura.