Hamburg . Der einstige Chef teilt kräftig gegen die eigene Partei aus – inklusive AfD-Verweis. Die SPD-Führung hält er für “überakademisiert“.
Er war Vize-Kanzler, Minister und Parteivorsitzender. Auch nach seinem Rückzug aus dem Bundestag Anfang November hat sein Wort in der SPD nach wie vor Gewicht. Am Donnerstag sprach Sigmar Gabriel (60) auf Einladung der Hamburger „www-stiftung“ (Wissen, Weltethos, Weltzukunft) in der Freien Akademie der Künste über Europa und seine Partei.
„Die SPD hat sich zu einer Partei entwickelt, für die Zukunft eine Zumutung ist“, sagte Gabriel: „In einer SPD-Versammlung steht spätestens nach fünf Minuten einer auf und sagt, wie das unter Willy Brandt war.“ Die große Tradition der Partei sei auch eine Belastung, weil sie sich nach Zeiten zurücksehne, in denen scheinbar alles besser war: „Sie redet mehr über die Vergangenheit als über das, was auf sie zukommt.“
Sozialstaat gilt vielen als überflüssig
Dabei sei die Partei einst „zukunftsgewandt, optimistisch und technologieorientiert“ gewesen. Selbst im Dritten Reich hätten Genossen trotz drohender KZ-Inhaftierung das Lied „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“ gesungen.
Die SPD habe maßgeblich die Sozialstaatsidee geprägt, zugleich eine Emanzipationsidee: „Heute ist der Sozialstaat zu einem Sozialhilfestaat mit fast karitativen Charakter geworden. Die, die ihn brauchen, hassen ihn, weil sie sich dafür nackt machen müssen. Und die, die ihn nicht brauchen, halten ihn für überflüssig und zu teuer.“ Die Aufforderung sich anzustrengen, sei einer Abgewandtheit von der Zukunft gewichen.
"Die Arbeiterpartei ist derzeit die AfD"
Gabriel kritisierte auch, dass ökonomische und soziale Fragen in der SPD nur noch eine untergeordnete Rolle spielen würden. „Stattdessen wurde Politik für Minderheiten gemacht. In der Hoffnung, die Summe der Minderheiten ergibt eine Mehrheit.“
Durch das „Überhandnehmen von Themen wie Schwulenrechte, Gleichstellungsrechte, Migration“ sei die klassische Bindewirkung von Sozialdemokratie an diesen Teil der Gesellschaft verlorengegangen: „Die Arbeiterpartei Deutschlands ist derzeit die AfD.“
Führungsriege voller Akademiker
Für Gabriel leidet die SPD an einem „Verlust der Nervenenden in die Gesellschaft“, die Funktionärsriege sei überakademisiert. „Ich habe meine Partei einmal gefragt, was passiert, wenn in einer Versammlung einer aufschlägt und sagt: ‚Ich bin übrigens Raucher, ich esse gerne Wurst und Fleisch, ich gucke total gerne RTL Soaps, ich fahre All Inclusive nach Mallorca und wenn ich ganz ehrlich bin, an meiner Werkbank hängt ein Playboy.‘ Schmeißt Ihr den sofort raus oder wird der erst Opfer von zehn pädagogischen Erziehungsmaßnahmen?“ In manchen Parteikreisen gelte schon der Besuch einer „Feuerwehrveranstaltung als halbrechtsradikal“.
Lesen Sie auch dieses Dossier:
Gabriel mit Spitze gegen SPD-Kandidatin Esken
Für Gabriel liegt dies auch daran, dass inzwischen zu viele SPD-Politiker über Listen in die Parlamente kommen würden und nicht mehr über gewonnene Wahlkreise: „Deswegen finden Sie die schrägsten Typen bei uns dort, wo wir seit langer Zeit keine Mehrheit mehr haben. Bei uns haben die Leute das Sagen, die die schlechtesten Wahlergebnisse haben.“
In Anspielung auf Saskia Esken, SPD-Kandidatin für den Parteivorsitz, die bei der Bundestagswahl 2017 in ihrem Wahlkreis Calw nur 16,9 Prozent der Erststimmen holte, sagte Gabriel: „Wenn ich jemals in meinem Wahlkreis 16 Prozent geholt hätte, hätte ich mich für die Kandidatur entschuldigt und wäre nie wieder angetreten.“
Beteiligung an Regierung schon verdächtig
Sozialdemokraten ginge es zu oft um Recht haben und nicht um Recht bekommen: „Die Konservativen regieren, weil sie regieren wollen. Für Sozialdemokraten ist die Beteiligung an einer Regierung schon verdächtig. Deshalb spalten sich sozialdemokratische Parteien auch häufiger, je kleiner sie werden, umso eher haben sie Recht.“