Hamburg. Angespannte Lage in vielen Stadtteilen mit steigender Bevölkerungszahl. Kassenärztliche Vereinigung sieht kein Problem.
Auf das Konzept der wachsenden Stadt können sich in Hamburg alle einigen. Ole von Beust (CDU), Bürgermeister von 2001 bis 2010, hatte das Einwohnerwachstum gar zum Leitbild erhoben. Dass dann mehr Wohnungen gebaut werden müssen, mehr Kindergärten und Schulen, ist klar. Was aber ist mit den Kassen-Hausärzten? Ein Plus von mindestens 10.000 Einwohnern verzeichnet Hamburg Jahr für Jahr. Dennoch bleibt die Zahl der Hausärzte nahezu konstant. Das zeigen die Antwort auf eine Große Anfrage der Linksfraktion in der Bürgerschaft sowie Berechnungen des Abendblatts. In vielen Stadtteilen sind Hausärzte für immer mehr Patienten zuständig. Die Folge: volle Wartezimmer.
Beispiel Wilhelmsburg: Dort war 2014 ein Hausarzt rechnerisch für 1309,3 Einwohner zuständig, 2019 musste er sich schon um 1590,2 Wilhelmsburger kümmern. Beispiel Othmarschen: 2014 kamen auf einen Hausarzt 1606,7 Einwohner, fünf Jahre später waren es bereits 2598,5. Die Veränderungen speisen sich aus zwei Quellen. In Othmarschen stieg die Einwohnerzahl kräftig an – von 12.854 auf 15.591. Zugleich sank die Zahl der Hausärzte, die eine Kassenzulassung haben, von acht auf sechs. In Wilhelmsburg gibt es jetzt nur noch 34 Hausärzte, 2014 waren es noch 40. Zugleich stieg die Einwohnerzahl von 52.372 auf 54.068.
Die Ärzteverbände betrachten nur die Gesamtzahl der Ärzte
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hamburg hält diese Stadtteilbetrachtung für nicht angemessen. Jochen Kriens, Sprecher der KV, sagt: „Da es sich bei Stadtteil- und Bezirksgrenzen um willkürliche Grenzziehungen handelt, die von Menschen schlankerhand überschritten werden, bildet generell eine kleinräumige Betrachtung – etwa auf Stadtteilebene – die Versorgungsrealität nicht adäquat ab.“
Die Versorgungsrealität werden für die KV von den summierten Zahlen fürs gesamte Hamburger Stadtgebiet abgebildet. Und danach ist die Hansestadt mit Hausärzten, aber auch mit Fachmediziner überversorgt. Mit anderen Worten: Verschlechterungen im Arzt/Patienten-Verhältnis führen nicht dazu, dass es in Zukunft mehr Hausärzte geben wird. Im Gegenteil: Anfang 2014 zählte die KV in ganz Hamburg 1225 Hausärzte mit Kassenzulassung, 2019 waren es nur noch 1222,55.
Staat hat wenig Einflussmöglichkeiten
An diesen Zahlen wird sich wohl vorerst auch nicht viel ändern. Der Staat hat dort wenig Einflussmöglichkeiten. Zwar arbeiten die KV und die Krankenkassen derzeit an einer neuen Bedarfsplanung für Hamburg, die auf einer neuen, bundesweit geltenden Bedarfsplanrichtlinie zurückgeht. Nach Auskunft der KV wird es dabei einen Zuschlag bei den Psychotherapeuten und bei den Kinderärzten geben – nicht aber bei den Hausärzten.
Das stößt auch in der Gesundheitsbehörde auf Kritik. Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) sagt: „Die ungleiche Verteilung von Arztsitzen ist nicht nur ein Problem zwischen Stadt und Land, sondern macht sich auch in einer insgesamt gut versorgten Stadt wie Hamburg bemerkbar. Bei der Umsetzung der neuen Bedarfsplanungsrichtlinie in Hamburg dringen wir darauf, dass KV und Krankenkassen die Möglichkeiten ausschöpfen, zusätzliche Arztsitze gezielt in schlecht versorgte Stadtteile zu bringen.“
Richtige Verteilung der neuen Sitze
Ähnlich argumentieren die Parteien. Christiane Blömeke, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen Bürgerschaftsfraktion, sagt: „Was nützt die Feststellung, dass Hamburg insgesamt überversorgt ist mit Arztpraxen, wenn in der Realität Ärzte fehlen? Wir brauchen dringend zusätzliche Praxen in vielen Stadtteilen.“ Die Kassenärztliche Vereinigung habe bereits in 2018 vier zusätzliche Kinderarztsitze mit den Kassen ausgehandelt und deren Standorte auch vorgegeben. „Das muss genauso bei weiteren neuen Arztsitzen gelingen. Die Standorte müssen meiner Meinung nach gezielt beworben werden, und die kassenärztliche Vereinigung muss alle Anstrengungen unternehmen, damit die Praxen auch tatsächlich eröffnet werden – und zwar dort, wo bisher zu wenige oder keine sind.“
In diesem Zusammenhang sei es wichtig, dass die Gesundheitsbehörde und die Kassenärztliche Vereinigung an einem Strang zögen und gemeinsam für die richtige Verteilung der neuen Sitze sorgten. „Bei den Hausarzt-Praxen sollte zukünftig verstärkt mit Sonderzulassungen gearbeitet werden, um lokale Unterversorgung zu bekämpfen.“
Politiker fordern Anreize für unterversorgte Stadtteile
Kritik kommt auch von der CDU. Birgit Stöver, die gesundheitspolitische Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion, sagt: „Hamburgs Ärzte leisten hervorragende Arbeit, doch gibt es in der Tat einige Stadtteile, die weniger gut versorgt sind. Gerade bei Fachärzten dauert es oftmals sehr lange, einen Termin zu bekommen. Die Versorgung mit Haus- und Fachärzten muss in ganz Hamburg sichergestellt werden.“
Dazu müssten, so Stöver weiter, über die kassenärztliche Zulassung Anreize für die Ansiedlung in unterversorgten Stadtteilen geschaffen werden. Dies setze eine realistische Bedarfsanalyse vor allem auf Basis der Altersstruktur für alle Stadtteile voraus. „Eine gute Erreichbarkeit von Ärzten mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist dabei besonders wichtig. Das kann dann auch mal im Nachbarstadtteil oder zentrumsnah in Arbeitsplatznähe sein.“
Sylvia Wowretzko, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, sagt, dass der neue Bedarfsplan die Situation weiter verbessern werde. Zudem würden derzeit „innovative Versorgungsmodelle“ erprobt, um den Zugang zum medizinischen Angebot in eher einkommensschwachen Gebieten Hamburgs zu verbessern. „Hier leistet unter anderem der Gesundheitskiosk in Billstedt einen wichtigen Beitrag für eine unkomplizierte und niedrigschwellige Versorgung.“ Der Kiosk bietet Beratung zum Thema Gesundheit an, sucht etwa nach einem geeigneten Arzt und nach Kursen – kostenlos und ohne Termin. SPD und Grüne wollen dieses Angebot ausweiten.