Hamburg. Umweltsenator glaubt, dass ein gigantischer Damm vor Flutkatastrophe schützen würde – falls Klimawandel nicht gestoppt wird.
Hochwasserschutz ist wie ein Schneckenrennen. Nach der Hamburger Flutkatastrophe von 1962, bei der 315 Menschen starben, wurden über Jahre hinweg die Deiche und Schutzmauern verstärkt. Mit Erfolg: 14 Jahre später richtete die Sturmflut von 1976, die deutlich höher war, vergleichsweise geringe materielle Schäden an. Und: Niemand ertrank.
Aber das Schneckenrennen, das in Hamburg über Leben und Tod entscheidet, geht weiter. Und es wird immer schwieriger, es zu gewinnen. Denn die Wasserstände der Elbe steigen – wegen des Klimawandels, aber auch wegen der Elbvertiefung, mit der die Stadt den Hafen retten will. Im September sagte Umweltweltsenator Jens Kerstan (Grüne): „Wir müssen unsere Deiche weiter erhöhen. Doch ein Drittel Hamburgs werden wir vor Pegelanstiegen von vier Metern nicht durch Deiche schützen können, dafür fehlt uns die Fläche. Wollen wir nicht ein Drittel der Stadt aufgeben, werden wir in der Elbmündung ein Sperrwerk bauen müssen.“
Hamburger Gebiete südlich der Elbe durch Hochwasser besonders gefährdet
Vier Meter Anstieg in den kommenden 250 Jahren – dieses Worst-Case-Szenario (Annahme für den schlimmsten Fall) hatte der Weltklimarat in seinem jüngsten Bericht geschildert.
Für Hamburg wäre das eine Katastrophe. Hochwasserrisiko-Karten zeigen schon heute, dass im Fall eines extremen Hochwassers, eines sogenannten Jahrhundertereignisses, besonders die Hamburger Gebiete südlich der Elbe, aber auch Wilhelmsburg und Veddel, Bergedorf sowie die Vier- und Marschlande überflutet werden würden. Auch die an die Binnenalster angrenzenden Stadtteile wären betroffen. Die Hamburger Insel Neuwerk würde komplett in der Nordsee versinken.
Was könnte helfen? Ein Sperrwerk in der Elbe? Ein Sperrwerk in der Elbmündung? Die Idee ist reizvoll. Die Tore des Werkes stehen meistens offen, Schiffe können passieren. Nur bei einer Sturmflut werden sie geschlossen.
Neu ist diese Idee nicht. Hamburgs Hochwasserexperten haben sich schon vor Jahrzehnten mit dem Thema beschäftigt. 1985 hatte der Senat eine „Unabhängige Kommission Sturmfluten“ einberufen, die sich eingehend mit verschiedenen Möglichkeiten des Hochwasserschutzes beschäftigte. Ähnliche Kommissionen hatte es auch schon früher gegeben.
Kommission empfiehlt Sperrwerk in Finkenwerder oder Brokdorf
1989 wurde der Abschlussbericht vorgelegt. Ein immer wiederkehrender Satz fällt auf: „Angesichts der zu beobachtenden Entwicklung ist die bisherige Bemessung der Hochwasserschutzanlagen in Hamburg als nicht mehr ausreichend anzusehen.“ Die Aussagen der Vorgänger-Kommissionen seien „überholt“. Der Bemessungswasserstand müsse angehoben werden – für Hamburg-St. Pauli von 6,70 Metern über Normalnull auf 7,30 Meter. Als Bemessungswasserstand bezeichnet man den höchsten aus langjähriger Beobachtung ermittelten Hochwasserstand.
Wie kommt man mit den gestiegenen Wasserständen klar? Kurzfristig, empfahl die Kommission, müssten die Deiche erhöht werden. Langfristig müsse ein Sperrwerk her – entweder im Raum Finkenwerder oder in Höhe von Brokdorf. Beide könnten innerhalb von 25 bis 30 Jahren gebaut werden.
Schadet ein Sperrwerk dem Hafen?
Die Kommission hatte es sich mit der Entscheidung nicht leicht gemacht. Die Vertreter der Parteien, der Hafenwirtschaft und der Gewerkschaften lehnten die Lösung vehement ab. Sie befürchteten, ein Sperrwerk könnte die Schifffahrt behindern und damit dem Hafen schaden. Nur mit einer Stimme Mehrheit kam die Sperrwerksempfehlung durch.
Experten vom Strom- und Hafenbau, einer Unterabteilung der Wirtschaftsbehörde, hatten da schon durchgerechnet, was ein Sperrwerk in Höhe Finkenwerder kosten würde: Rund 2,5 Milliarden Mark (rund 1,25 Milliarden Euro). 27 Meter hoch müsste es sein, die Durchfahrtsbreite wurde mit 400 Metern berechnet. Ein Sperrwerk in Höhe Brokdorf wurde auf drei Milliarden Mark taxiert.
EU berücksichtigt Klimawandel bei Bewertung von Hochwasserrisiken
Gut 20 Jahre später war dann schon wieder alles anders. Denn die EU hatte 2007 eine Richtlinie über die Bewertung von Hochwasserrisiken erlassen. Dabei sollte nun ausdrücklich auch der Klimawandel berücksichtigt werden. Im Ergebnis musste Hamburg seine Bemessungswasserstände erneut anheben. Für St. Pauli ging es von 7,30 Metern über Normalnull auf 8,10 Meter.
Von einem Sperrwerksbau war nun nicht mehr die Rede. Der geplante Standort Finkenwerder kam nicht mehr in Betracht. Dort war zwischenzeitlich das Finkenwerder Loch zugeschüttet und das Airbus-Gelände erweitert worden. Auch von einem Sperrwerk in Höhe Brokdorf nahm der Senat Abstand. In einem Bericht zum Hochwasserschutz hieß es 2012: „Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden nur dann einen Nutzen von einem Sperrwerk haben, wenn es im Bereich der Elbmündung angeordnet wird.“
Ohnehin schütze eine „mit Deichen verbundene Schleuse in der Nordsee vor der Elbmündung“ besser vor einem beschleunigten Meerespegelanstieg. Vorteil: Diese Option halte den Zugang zum Hamburger Hafen offen. „Ein erster Meinungsaustausch mit Vertretern der Europäischen Kommission fand im Oktober 2010 statt“, heißt es in dem Bericht.
Ein Deich mit Schleuse wäre mehrere Kilometer lang
Dieser erste war offenbar auch der letzte Meinungsaustausch. Ein Deich mit Schleuse in der Nordsee müsste mehrere Kilometer lang sein – ein gigantischer Bau, der nicht recht in die Zeit passen will. Die Folgen für die Umwelt wären wohl erheblich. Denn Naturschutzverbände kritisieren das Vorhaben scharf. Paul Schmidt, der stellvertretende Landesvorsitzende des BUND, sagt: „Die Idee eines Sperrwerks ist völlig absurd.“
Wenn die Stadt ernsthaft Sorge habe, dass der Meeresspiegel für sie zum Problem werden könne, müsse sie zuallererst die Elbvertiefung stoppen. „Sie darf nicht die Sicherheit der Menschen gegen die Interessen der Hafenwirtschaft ausspielen.“ Bereits die letzten Elbvertiefungen hätten für eine deutlichen Anstieg des Pegels in Hamburg gesorgt.
Gefährliche Veränderungen der Fließgeschwindigkeit des Stromes
Das Forum Tideelbe, das sich für den Erhalt der Flusses und seiner Lebensräume einsetzt, sieht das ähnlich. Das Gremium hatte unlängst über Bauten in der Elbmündung beraten, die den Tidehub abschwächen könnten. Es ging nicht um ein Sperrwerk, sondern um einen Damm. Er sollte verhindern, dass mit der Flut immer wieder Schwebstoffe in die Elbe hineingespült werden, die dann mit Baggern aus dem Flussbett geholt und anschließend in der Nordsee abgekippt werden müssen.
Der Damm, der den Mündungstrichter einengt, führt allerdings zu gefährlichen Veränderungen der Fließgeschwindigkeit des Stromes – mit unabsehbaren Folgen für die Natur. Für ein Sperrwerk oder einen Deich mit Schleuse würde Ähnliches gelten.
Umweltsenator Kerstan: Entschieden handeln, um Meeresanstieg zu begrenzen
Also doch kein gigantisches Bauwerk in der Nordsee? Kerstan bleibt bei seiner Äußerung, ergänzt sie aber. „Hamburg selbst hat die Fragen eines Sperrwerkes für die Zeit nach dem bis 2050 laufenden Bauprogramm als potenzielle Alternative aufgebracht, wenn jetzt nicht entschieden gehandelt wird, um den Meeresanstieg zu begrenzen.
Unsere Stadt wird ihre Anstrengungen zur Begrenzung des Klimawandels verstärken, das ist sicher. Aber selbstverständlich gilt es, die Option Sperrwerk für ein zukünftiges Deichbauprogramm ab 2050 mit den Nachbarländern gemeinsam zu prüfen.“ Das Schneckenrennen geht offenbar weiter.