Hamburg. Auf der beliebten Linie 62 können immer mehr Passagiere nicht mitgenommen werden. Hadag fährt an der Kapazitätsgrenze.
Es ist immer wieder das gleiche Bild am Fähranleger auf Finkenwerder: Wenn sich Karsten Sasse am Nachmittag auf den Heimweg von seiner Arbeitsstelle macht, dann drängen sich dutzende Passagiere vor der Hadag-Fähre der Linie 62. Stoßen und Schubsen sei an der Tagesordnung, erzählt der 41 Jahre alte Ingenieur entnervt, der täglich mit der Fähre über die Elbe pendelt. "Das Schiff kommt auf Finkenwerder oft schon voll besetzt mit Ausflüglern an, von denen nur wenige aussteigen. Wer dann nicht drängelt, wird gar nicht mitgenommen", sagt Sasse.
Am Dienstag platzte dem Ingenieur nun endgültig der Kragen: "Trotz des großen Andrangs hatte die Hadag nur eine ihrer kleinen Fähren eingesetzt. Zusammen mit einer älteren, gehbehinderten Dame und vielen anderen Fahrgästen bin ich einfach am Anleger zurückgelassen worden", so der Ingenieur. Er musste auf das nächste Schiff warten. "Dadurch bin ich viel zu spät zu einem Physiotherapie-Termin in der Stadt gekommen." Insgesamt dreimal sei ihm dies im September und Oktober schon passiert.
1962-mal wurden Fahrgäste stehen gelassen
Es ist nicht nur Karsten Sasse allein, der von den überfüllten Fähren genervt ist. Laut einer Statistik der Hadag, die dem Abendblatt exklusiv vorliegt, gab es in diesem Jahr bis zum 15. Oktober schon 1962 sogenannte Besetztmeldungen in der gesamten Flotte. Diese Meldungen setzen die Schiffsführer immer dann ab, wenn die Fähren die maximale Kapazität erreicht haben und daher noch wartende Passagiere an Land zurückgelassen werden müssen.
Das Gros der Meldungen entfiel dabei auf die beliebte Linie 62, die zwischen Finkenwerder und den Landungsbrücken verkehrt. 191 mal blieben dort allein im September Fahrgäste zurück, im Oktober waren es bisher schon 54 Fälle.
Zahl seit 2017 mehr als verdoppelt
Zum Vergleich: 2017 mussten Hadag-Fähren bis Mitte Oktober nur 757-mal Passagiere wegen drohender Überfüllung zurücklassen. 2018 schnellte die Zahl dann auf 1509 in die Höhe – fast eine Verdopplung. Dies hing nach den Worten von Hadag-Vorstand Tobias Haack unter anderem mit dem sehr guten Wetter zusammen, das mehr Touristen und Ausflügler als sonst auf die Fähren lockte. Zudem seien die Schiffsführer angewiesen worden, noch genauer auf die Besetzung der Fähren zu achten und eher zu früh als zu spät eine Besetztmeldung abzugeben, so Haack.
Doch diese Aspekte erklären nur zum Teil, warum es zu dem massiven Anstieg an besetzten Fähren gekommen ist und dieser Trend noch immer anhält. Die Zahl der Passagiere insgesamt hat sich im ersten Halbjahr 2019 nämlich gerade mal um 1,5 Prozent erhöht. "Wir freuen uns natürlich über ein gutes Fahrgastwachstum, aber wir operieren mittlerweile auch an unserer Kapazitätsgrenze", sagt der Hadag-Chef. Die Zuwächse hätten einen Punkt erreicht, an dem die Schiffe zu bestimmten Zeiten einfach voll seien.
Zehnminutentakt nur in manchen Fällen
Nach Ansicht von Pendler Karsten Sasse werden manche Schiffe von der Hadag aber auch nicht effizient genug eingesetzt. "Da verkehren dann die kleinen Modelle auf der überfüllten Linie 62 und auf der Linie 64 sind die größeren Fähren fast leer unterwegs", empört er sich. Darüber hinaus würde es aus seiner Sicht sehr helfen, wenn die Fähren der Linie 62 zumindest in den Stoßzeiten grundsätzlich im Zehnminutentakt fahren könnten.
Tatsächlich fährt die Hadag zwischen März und Oktober aber im 15- oder im 30-Minuten-Takt und schaltet nur an Wochenenden zwischen 11 und 18 Uhr "nachfrageorientiert" auf einen Takt von "circa alle zehn Minuten" um, wie es im Fahrplan heißt. "Aufgrund der hohen Nachfrage setzen wir auf der Linie 62 seit diesem Jahr schon ein zusätzliches Schiff ein", sagt Hadag-Vorstand Haack. Ein höherer Takt sei mit der derzeitigen Schiffskapazität aber nicht möglich.
Mehr Personal würde Kapazität erhöhen
Die Hadag-Flotte besteht derzeit aus insgesamt 26 Schiffen, zwei neue abgasärmere und leisere Modelle, die "Elbphilharmonie" und die "Kehrwieder", wurden in den vergangenen Jahren in Betrieb genommen. Zugleich befindet sich allerdings ein Modell seit Monaten in Reparatur. Im Februar war ein Containerschiff vor Blankenese in die "Finkenwerder" hineingefahren.
Eine relativ einfache Möglichkeit, die Kapazitäten zu erhöhen, wäre auch, mit mehr Personal über die Elbe zu schippern. Ein Teil der Hadag-Fähren ist nämlich auf eine Kapazität von bis zu 400 Personen ausgelegt, gefahren wird aber oft nur mit 250 Fahrgästen. "Bis zu 400 Menschen dürfen wir aufgrund der geltenden Sicherheitsrichtlinien nur befördern, wenn drei Mann Besatzung an Bord sind", sagt Haack. "Ist der Schiffsführer allein, ist bei 250 Personen Schluss." Mit einer dreiköpfigen Besatzung zu fahren, ist laut Haack aber in vielen Fällen ineffizient. "Die zwei zusätzlichen Männer werden nur bei Notfällen benötigt und haben sonst an Bord nicht viel zu tun."
Hochbahn hält Busse in Reserve
Mit dem Problem der Überfüllung ist die Hadag grundsätzlich nicht allein. Auch in Bussen und Bahnen der Hansestadt kommt es täglich zu massivem Gedränge. "Es gibt natürlich auch bei uns Fälle, in denen Fahrgäste nicht mitgenommen werden können oder Passagiere aufgrund der Überfüllung eines Zuges oder eines Busses lieber auf den nächsten warten", sagt der Sprecher der Hamburger Hochbahn, Christoph Kreienbaum. "Eine Statistik darüber gibt es aber nicht."
In der Regel werde umgehend nachgesteuert, wenn etwa Busfahrer auf "Paradelinien" eine Überfüllung meldeten. "Wir haben extra sogenannte B-Wagen, die in Reserve gehalten werden und bei Bedarf zusätzlich auf die Strecke geschickt werden", so Kreienbaum.
Überfüllte Bahnen auch auf Sylt-Strecke
Zu überfüllten Zügen kommt es auch regelmäßig bei der Deutschen Bahn. Im Regionalverkehr etwa nach Sylt oder in Richtung Ostsee twittert der Konzern regelmäßig, dass aufgrund von zu vielen Fahrgästen eine Mitnahme nicht mehr garantiert werden könne. Eine Statistik für den Regionalverkehr oder die S-Bahn gibt es aber auch hier nicht.
Für Karsten Sasse hatte der ganze Ärger am Anleger Finkenwerder zumindest noch etwas Gutes: Um wenigstens im zweiten Anlauf mit auf die Fähre zu kommen, bahnte er sich am Dienstag mit seinem Fahrrad einen Weg durch die Wartenden und nahm dabei auch noch die ältere Dame, die mit ihm zurückgeblieben war, quasi ins Schlepptau. "Die Dame war so dankbar, dass sie mir auf der Fähre noch einen Apfel geschenkt hat", erzählt er.