Hamburg/Stutthof. 93-Jähriger war SS-Mann im KZ Stutthof bei Danzig. Er ist wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen angeklagt. Prozess startet heute.
Der Tod war allgegenwärtig. All diese Menschen, von schwerster Arbeit geschwächt, ausgemergelt, erschöpft, krank und zu einem Dasein in widrigsten hygienischen Verhältnissen gezwungen. Dem Tod hatten sie kaum noch etwas entgegenzusetzen, viele überhaupt nichts mehr. Er hatte ein leichtes Spiel.
Bruno D. hat sicherlich oft gesehen, wie der Tod zuschlug, damals im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Als sehr junger Mann war der SS-Schütze in der 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns in dem von den Nationalsozialisten errichteten Internierungslager unter anderem auf den Wachtürmen eingesetzt, das Gewehr stets einsatzbereit dabei. Außerdem gingen die Wachleute rund ums Lager auf Patrouille. Sie sollten von ihrer Waffe Gebrauch machen beim Verdacht, dass jemand fliehen wolle. Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, Revolten, Befreiungsversuche und das Hineinschmuggeln von Lebensmitteln zu verhindern.
KZ Stutthof: Bruno D. war ein "Rädchen in der Mordmaschinerie"
Vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945 versah Bruno D. als damals 17-Jähriger beziehungsweise 18-Jähriger in Stutthof seinen Dienst. Und damit habe er geholfen, das Vernichtungslager am Laufen zu halten; er sei ein „Rädchen in der Mordmaschinerie“ gewesen, die das KZ Stutthof war, heißt es in der Anklage, wegen derer sich der Mann nun vor Gericht verantworten muss — 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Bruno D. ist heute 93 Jahre alt. Der Prozess gegen ihn beginnt heute.
Enkel der Nebenklägerin äußert sich
Unmittelbar vor Beginn des Prozesses gegen Bruno D. hat sich der Enkel der Nebenklägerin Judy Meisel zum Verfahren geäußert. Er halte es für gerechtfertigt, dass der 93-Jährige trotz seines hohen Alters vor Gericht kommt, sagte der New Yorker Filmemacher Ben Cohen der „Welt“. „Er hat bei einem der schrecklichsten Menschheitsverbrechen mitgewirkt, das es jemals gegeben hat, und dafür muss er Verantwortung übernehmen.“
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Mann Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor. 5000 davon, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft, Nana Frombach, seien durch „Herbeiführung und Aufrechterhaltung lebensfeindlicher Bedingungen“ verübt worden. „Demnach wurden die Häftlinge unter widrigsten Umständen sich selbst überlassen, ohne ausreichend Nahrung und Wasser und ohne medizinische Versorgung und unter schlimmsten hygienischen Verhältnissen, sodass sie im Endeffekt zu Tausenden gestorben sind“, so Frombach. 200 weitere seien durch Vergasung gestorben, 30 durch Tötung in einer Genickschussanlage.
Zwangsarbeit, Hunger und Misshandlungen bestimmten den Alltag im KZ
Bruno D. habe „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“, wirft ihm die Anklage vor, die sich auf Zeugenaussagen, Dokumente und Gutachten von Historikern stützt. Laut einem Gutachten eines Experten sicherten die Wachleute auch die ankommenden Transporte, geleiteten die Häftlinge zur Arbeit und hielten die Gefangenen in Schach, wenn es zu den berüchtigten Selektionen und zum Abtransport in Vernichtungslager kam.
In Stutthof gehörte es zum System, die Häftlinge auf schnellstem Weg zum Zusammenbruch zu bringen. Zwangsarbeit, Hunger und Misshandlungen bestimmten den Alltag von Anfang an. SS-Ärzte töteten kranke und entkräftete Häftlinge durch Gift- oder Benzinspritzen ins Herz. Im Sommer 1944 wurden die Internierten auch in einer Gaskammer ermordet, mit Zyklon B.
Die Opferzahl in Stutthof wird auf 65.000 geschätzt
In dem im Jahr 1939 von den Nationalsozialisten errichteten Internierungslager für Polen, Juden und politische Gegner waren bis zum Kriegsende insgesamt rund 110.000 Menschen eingesperrt; die Mehrzahl von ihnen starben an Krankheiten oder Hunger, oder sie wurden ermordet. Allein nach dem Ausbruch einer Fleckfieberepidemie im November 1944 starben Tausende Menschen. Die Opferzahl in Stutthof wird auf insgesamt 65.000 geschätzt.
Wenn der Rauch aufstieg von den beiden Öfen des Krematoriums, dann war das vom Wachturm aus zu sehen, auf denen Bruno D. auch seinen Dienst versah. Auch die Baracken waren von dort im Blickfeld, die Elektrozäune, die das Lager begrenzten, die Gaskammern und die Gefangenen, die unter widrigsten Umständen lebten und schwerste Arbeit verrichten mussten, die nur dünne Suppe bekamen und sich teilweise zu viert eine Pritsche teilen mussten.
Bruno D. fühle sich der Beihilfe zum Mord nicht schuldig
Bruno D. hat in Vernehmungen eingeräumt, zur Wachmannschaft in Stutthof gehört zu haben. Er sprach von ausgemergelten Menschen, die er gesehen habe. Und er gab auch zu, Hunderte Leichen gesehen zu haben. Zu den Morden in der Gaskammer, in der bis zu 150 Menschen gleichzeitig einen qualvollen Erstickungstod starben, sagte er: „Ich hab da mal von ferne diese Schreie gehört.“
Schuldig der Beihilfe zum Mord fühle er sich nicht. Er habe dort im Lager seinen Dienst verrichtet und sich nicht seiner Aufgabe verweigern können, war der Tenor seiner Aussage. Allerdings: Er hätte eine Alternative gehabt. Er hätte sich wohl freiwillig an die Front melden können, statt auf den Türmen des Vernichtungslagers zu stehen und Häftlinge zu bewachen.
Prozess findet vor Jugendgericht statt
Der Prozess gegen Bruno D. könnte der letzte dieser Art sein. Viele der möglichen Beschuldigten sind bereits verstorben oder mittlerweile über 90 Jahre alt – und häufig nicht mehr gesund. Ein Verfahren gegen einen 94-jährigen ehemaligen SS-Wachmann vor dem Landgericht Münster musste im März ohne Urteil beendet werden, weil der hochbetagte Angeklagte unter anderem wegen einer Herzerkrankung nicht mehr verhandlungsfähig war.
Und auch die Gesundheit von Bruno D. ist angegriffen. Deshalb wird an jedem Prozesstag voraussichtlich maximal zwei Stunden verhandelt werden. In dieser Zeit wird sich der alte Mann den Vorwürfen stellen müssen – und er wird sich einigen Überlebenden des Lagers gegenüber sehen, die das Gericht als Nebenkläger zugelassen hat. Weil der Angeklagte zur Tatzeit noch Jugendlicher beziehungsweise Heranwachsender war, findet der Prozess vor einer Jugendkammer des Landgerichts statt. Bis kurz vor Weihnachten sind Termine festgelegt.