Hamburg. In Stefan Krueckens neuem Ankerherz-Buch schildern Seefahrer spannende Erlebnisse – und das frei von Seemannsgarn.
Der Sturm vor der norwegischen Küste drehte auf. Machtvoll. Das Barometer fiel auf 962 Millibar. Orkanstärke zwölf. Sicht: null. „Es war schwierig, den Bug im Chaos aus Wellen und Gischt auszumachen“, erinnert sich Kapitän Michael Nicolaysen an einen üblen Nordseetörn an Bord des Motortankers „Leng“.
Eine Ölplattform in der Nähe maß in diesen Stunden grauenhaften Aufs und Abs 23 Meter hohe Monsterwellen, also etwa von der Dimension eines achtstöckigen Hauses. „Diese riesenhaften Seen gaben einem das Gefühl, in einem großen Aufzug unterwegs zu sein.“
Derweil Käpt’n Nicolaysen diese Erlebnisse aus dem Dezember 1988 als Chef auf der Brücke sachlich wiedergibt, herrscht auf der Elbe vor unseren Augen ein sanfter Seegang. Gut so. Bei der plietschen Bedienung im Lokal „Pantry“ zwischen den Landungsbrücken neun und zehn ordern wir weitere Kaffeepötte.
Der gebürtige Altonaer ist ein bescheidener Mann der dezenten Töne. 22 Jahre war er auf großer Fahrt auf den Weltmeeren unterwegs, anschließend 27 Jahre als Elblotse im Einsatz. Einer wie er hat ganz tief in der Seele enormen Respekt vor Naturgewalten. Demut hat er gelernt.
Kruecken war Reporter namhafter Magazine
Der Seebär Jahrgang 1952 mit aktuellem Wohnsitz in Blankenese spricht über Schiffspassagen zwischen Himmel und Hölle nur selten. „Olle Kamellen“, meinte er meist. Es sei denn, jemand fragt gezielt nach. So wie Stefan Kruecken. Der ehemalige Reporter namhafter Magazine im In- und Ausland steuert seit 2007 gemeinsam mit Ehefrau Julia den Ankerherz Verlag in Hollenstedt vor den Toren Hamburgs.
Das 25. und neueste Werk des Unternehmens mit 16 festen und freien Mitarbeitern wurde am Dienstagabend in der Washington-Bar auf St. Pauli präsentiert. Der Titel ist Programm: „Kapitäne!“. Unter dem Motto „Glaube, Liebe, Hoffnung“ erzählen 20 Fahrensleute ihre besten Geschichten. Reale Ereignisse, kein Seemannsgarn, beim Klabautermann. Gut ein Dutzend Hauptpersonen des Buchs wollten sich die Vorstellung ihrer Kapitel nicht nehmen lassen – bei Fischbrötchen und Flaschenbier.
20 Abenteuer auf See
Die von Verlagsleiter Stefan Kruecken beschriebenen 20 Abenteuer auf hoher See sind verbürgt. Dafür haften die Kapitäne mit ihrem Wort. Trotz mancher Katastrophe haben die lebendig dargestellten Geschichten eine Gemeinsamkeit: Unter dem Strich nahmen sie einen guten Verlauf. Sonst könnten die Kapitäne nicht als Augenzeugen Auskunft gaben. Nicht immer hatte Kruecken leichtes Spiel.
Manchen wortkargen, knorrigen Kaptein musste er ebenso feinfühlig wie diplomatisch zum Reden bewegen. Bei einigen brauchte es Stunden, einmal sogar Tage; andere schnackten freimütig drauflos. Hin und wieder op Platt.
Karl Friedhelm von Staa erlebte schreckliche Stunden
So wie Kapitän Karl Friedhelm von Staa aus Cuxhaven. Er gibt schreckliche Stunden mit dem Trawler „Piteraq“ vor der Ostküste Grönlands zu Protokoll. „Wie ein gewaltiges Gebläse peitscht das Tief kalte Luft über das Inlandeis“, behielt der gebürtige Oberhausener den 17. November 2002 im Gedächtnis. 9.20 Uhr Bordzeit. Plötzlich eine gut und gerne 25 Meter hohe Welle. Ein gewaltiger Knall. Auf der Brücke wird die in Stahl verschraubte Scheibe aus Sicherheitsglas durch den Wasserdruck aus dem Rahmen gerissen.
Sie fliegt am Kapitän vorbei und bohrt sich mit der Seite fausttief in den Stahl der Wand dahinter. „Ich hatte ein solches Glück, dass sie mich verfehlte“, schildert von Staa das Drama. Trockener Zusatz: „Sonst gäbe es diese Geschichte nicht.“ Siehe oben. Vor allem gäbe es dann auch das beeindruckende Titelfoto des aktuellen Buches nicht. Es zeigt den 70-Jährigen sinnierend an der Pier im Hamburger Hafen.
Prügeleien in Havanna, Knast nach Desertation
Ähnlich packend geht es über insgesamt 240 Seiten. Geschildert werden Tatsachen, keine romantischen Märchen. Es geht um Prügeleien in Havanna, um Desertionen auf dem Mississippi. Einer geht für seine Überzeugung ins Gefängnis. Und eine ist die jüngste Frau Deutschlands ganz oben auf der Kapitänsbrücke. Übrigens handelt es sich um eine von gut einem Dutzend Kapitäninnen unter weit mehr als 1000 männlichen Kollegen.
„Kapitäne!“ ist ein zutiefst norddeutsches Buch – mit inhaltlichem Heimathafen Hamburg. Die Geschichten sind wahr, abenteuerlich, vielfältig wie die See“, sagt Autor und Verlagschef Stefan Kruecken. „Und vor allem werfen sie eine Frage auf: Was können wir von alten Kapitänen lernen?“ Die Antwort muss jeder selbst finden. Ankerworte sind Verbindlichkeit, ein verlässlicher Charakter, klare Entscheidungen. „Sobald es um Sekunden geht, hilft eine Diskussion im Stuhlkreis nicht weiter“, weiß Kapitän Michael Nicolaysen aus Erfahrung. Nach seiner Pensionierung 2017 kümmert sich der Hanseat um das 1958 auf der Nobiskrug-Werft in Rendsburg gebaute Museumsschiff „Bleichen“. Es liegt im Hamburger Hansa-Hafen am Bremen Kai.
Buch ist Teil einer Trilogie
Herausgeber und Autor Kruecken, vierfacher Familienvater, setzt mit seinem aktuellen Ankerherz-Werk eine Reihe fort. Zuvor waren „Orkanfahrt“ sowie „Wellenbrecher“ mit starken Reportagen diverser Kapitäne Bestseller. Zusammen wurden mehr als 80.000 Exemplare verkauft. In der Trilogie kommen 68 Kapitäne zu Wort. „Sturmwarnung“, die Biografie des Kapitäns Jürgen Schwandt, fand zudem rund 100.000 Käufer.
Dabei muss es nicht immer um Leben und Tod gehen. Im Schlusskapitel beschreibt der in Altona aufgewachsene Kapitän Jonny Roggendorf „Das schlimmste Schiff der Welt“. Ende der 1950er-Jahre pendelte der Seelenverkäufer „Hinrich Peters“ einer Hamburger Reederei zwischen Finnland und Brake. Details dieses unfassbar schrottreifen Frachters beschreibt Käpt‘n Jonny derart lebendig, dass Lesen eine Lust ist.