Hamburgs Bischöfin spricht über den Mitgliederschwund der Institution und Täterinnen im Missbrauchsskandal.

In der „Nacht der Kirchen“ wollen die christlichen Gemeinden an diesem Sonnabend besonders einladend sein. Sie locken mit kulturellen und spirituellen Veranstaltungen. Mit dabei ist Hamburgs und Lübecks Bischöfin Kirsten Fehrs. Im Abendblatt-Interview spricht sie darüber, dass die Kirche neue – auch digitale – Räume erschließen sollte. In Zeiten des Mitgliederschwunds und sexueller Missbrauchsskandale in beiden großen Volkskirchen steht die in Dithmarschen geborene Theologin vor allem für eines: Glaubwürdigkeit.

Bischöfin Fehrs, wann versteigern Sie Ihre Predigten bei Ebay – wie ein Pastor aus Ihrem Sprengel in Lohbrügge?

Kirsten Fehrs: Ich fand das eine sehr gute Idee! Viele unserer Pastorinnen und Pastoren erproben neue Gottesdienstformate und haben Erfolg damit. Die Aufmerksamkeit für diese Aktion war ja auch deshalb so groß, weil sich die Menschen direkt angesprochen fühlten.

Die Nordkirchenmitglieder gehen nur zu einem geringen Prozentsatz in die Kirche. Was war Ihre niedrigste Besucherzahl in einem Gottesdienst, den Sie als Bischöfin geleitet haben?

Fehrs: Vielleicht 50 bis 60 Menschen, aber das ist eher selten. Wichtig ist ja vor allem, dass die Menschen etwas für sich mitnehmen können. So war einer der beeindruckendsten Gottesdienste der Eröffnungsgottesdienst beim Kirchentag in Hamburg, den ich mit rund 30.000 Menschen am Sandtorkai feiern durfte. Es ist ja nicht so, dass unsere Gesellschaft kein Interesse an Religion und am göttlichen Segen hätte. Das hat sich auch beim Elb­tauffest im Frühjahr gezeigt mit 500 Menschen, die sich taufen ließen.

Es bedarf also neuer Formate?

Fehrs: Ja, einfach einmal etwas wagen und rausgehen aus den gewohnten Räumen, auch weil viele Menschen uns als Kirche gar nicht mehr kennen und uns mit völlig antiquierten Bildern verbinden.

Sie probieren neue Formate aus, zum Beispiel den Podcast „Blind Date“ mit der Bischöfin beim Abendblatt. Dabei treffen sie eine Stunde lang auf Persönlichkeiten, ohne vorher zu wissen, wer er sein wird. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Fehrs: Was mich fasziniert, ist, dass man mit Menschen intensiver ins Gespräch kommen kann, zum Beispiel mit dem Unternehmer Cord Wöhlke, Bürgermeister Peter Tschentscher und dem Pianisten Joja Wendt. Es geht in diesem Podcast auch immer um die religiöse Facette des Lebens. Mir ist wichtig, dass Kirche in digitale Räume geht – über Facebook, Twitter, Instagram. Damit erreichen wir Menschen, die wir sonst nicht in den Veranstaltungen finden würden.

Trotzdem kommen nicht mehr Leute in die Gottesdienste. Es sind gerade mal vier Prozent der Kirchenmitglieder im Durchschnitt.

Fehrs: Das Abendblatt hat 1965 einen Artikel veröffentlicht – Überschrift „Warum sind Hamburgs Kirchen so leer?“ Darin stand, dass nur ein Prozent der Kirchenmitglieder sonntags in die Kirche geht. Die Klage über geringen Gottesdienstbesuch ist daher wirklich nichts Neues, und sie führt auch nicht weiter.

Abendblatt: Erfolgreicher dagegen ist das Format „Nacht der Kirchen“. Wie viele Besucher erwarten Sie zu dieser ökumenischen Veranstaltung?

Fehrs: Wir rechnen mit mehr als 70.000 Menschen. Alle Kirchen in der Stadt tun sich zusammen und setzen Akzente.

Welche Veranstaltungen empfehlen Sie?

Fehrs: In St. Petri Altona stellen junge Pastorinnen und Pastoren die Kirche von morgen vor, das wird bestimmt interessant. Es gibt einen Diakonie-Rundgang zu den Plätzen der obdachlosen Menschen in der City. Und St. Katharinen veranstaltet neben ihren Singer-Songwriter-Konzerten auch ein Straßenfest auf der Willy-Brandt-Straße.

Ist Ihnen angesichts des Mitgliederrückgangs – derzeit hat die Nordkirche rund zwei Millionen Mitglieder – nicht Bange um die Zukunft dieser Institution?

Fehrs: Nicht grundsätzlich, denn nach unserem Glauben ist es Gott selbst, der die Kirche erhält. Dennoch macht mir natürlich Sorge, dass wir als gesellschaftliche Institution schwächer werden, das gilt ja auch für Parteien, Gewerkschaften und Vereine. Wir brauchen aber Menschen, die sich an Institutionen binden, weil die Gesellschaft sich dadurch auch an Werte bindet.

Ein Thema, was gerade junge Menschen bewegt, ist der Klimawandel. Welchen Stellenwert hat er in den Debatten der Nordkirche?

Fehrs: Die Nordkirche hat schon vor Jahren ein Klimaprogramm aufgelegt. Das reicht vom energetischen Gebäudemanagement bis zur Reduzierung des Plastikmülls und des CO2-Ausstoßes. Beeindruckt bin ich vom Engagement unserer Jugendlichen. Im Oktober findet zum Beispiel eine Jugendklimakonferenz der Nordkirche statt.

Ein weiteres Thema, das Sie seit Beginn Ihrer Amtszeit beschäftigt, ist der sexuelle Missbrauch. Warum engagieren Sie sich so sehr bei der Aufarbeitung und Prävention?

Fehrs: Seit ich mit den Betroffenen, etwa in Ahrensburg, gesprochen habe, ist mir klar: Ich will alles tun, was in meinen Kräften steht, dass so etwas nicht wieder vorkommt und dass wir den Betroffenen Anerkennung zukommen lassen. Es geht dabei nicht nur um den einzelnen Täter oder die Täterin. Wir müssen als Institution Verantwortung übernehmen, denn die Kirche hat nicht dafür gesorgt, dass die Kinder, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen geschützt waren.

Sie sagten eben: die Täterinnen?

Fehrs: Ja, es gab in kirchlichen Heimen auch Täterinnen. Wir haben in Deutschland mehr als 600 Missbrauchsfälle, die bekannt geworden sind. Zwei Drittel davon sind Heimkinder in diakonischen Einrichtungen – vor allem in der Nachkriegszeit bis in die 70er-Jahre hinein. Auch im Kontext der Reformpädagogik haben Täter ihr System in einer Welt etabliert, wo man Freiheit mit Grenzenlosigkeit verwechselt hat. Wir können nicht Kirche sein, wenn wir dieser Gewalt nicht wehren und uns nicht klar an die Seite der Betroffenen stellen. Ich bin dankbar dafür, dass Betroffene uns oft die Hand reichen. Inzwischen hat die evangelische Kirche die notwendigen Präventionsmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt in die Wege geleitet, zum Beispiel mit einem Präventionsgesetz.

Sind neue Fälle in Hamburg bekannt geworden?

Fehrs: Neu bekannt werden vor allem Fälle, die oft jahrzehntelang verschwiegen wurden, wie etwa im Margaretenhort in Harburg. In dieser Einrichtung haben Jugendliche in den 1980er-Jahren Mitbewohner und Mitbewohnerinnen bedrängt und vergewaltigt – und das Aufsichtspersonal hat es geduldet. Darüber hinaus melden sich immer wieder einzelne Betroffene aus Gemeinden und Einrichtungen, denen in der Vergangenheit Gewalt angetan wurde. Dazu gibt es Anlaufstellen in der Nordkirche und auf EKD-Ebene.

Sie sind zufrieden mit dem Erreichten?

Fehrs: Wir sind seit 2010 intensiv mit dem Thema Prävention beschäftigt und senden damit ein wichtiges Signal an die Gesellschaft: Tabuisiert sexuelle Gewalt nicht! Wo das geschieht, haben Täter es leicht und Betroffene schwer.

Ein weiteres Verantwortungsfeld als Bischöfin ist für Sie die Seemannsmission. Sie sind in diesem Jahr die „Stimme der Seeleute“. Was sagen Sie zu den Arbeitsbedingungen an Bord?

Fehrs: Das Leben an Bord ist sehr hart. Manchmal arbeiten nur 22 Leute auf einem riesigen Containerfrachter. Die Liegezeiten sind kurz, die Familie ist weit weg. Ich kenne viele Reedereien, die zahlen ganz anständig für diese schwere Arbeit – andere wiederum nicht.

Wo sitzen die schwarzen Schafe?

Fehrs: Ich habe ein Schiff aus einem EU-Mitgliedsland besucht, da bekam die Besatzung morgens nur einen Espresso und ein Hörnchen. Mehr nicht. Das musste für sechs Stunden reichen.

Was wären Ihre Wünsche an die Reedereien, die sich nicht an die Standards halten?

Fehrs: Der Verband Deutscher Reeder achtet schon darauf, dass die sozialen Standards eingehalten werden. Wichtig ist, dass Missstände im direkten Kontakt mit den Reedereien besprochen und dann abgestellt werden. Ich höre immer wieder von den Seeleuten: Auch eine gut funktionierende Seenotrettung ist für uns wichtig – gerade angesichts schiffbrüchiger Flüchtlinge, deren Rettung aufgrund der hohen Bordwände oft unmöglich ist.

„Nacht der Kirchen“ mit 658 Veranstaltungen

127 Gotteshäuser sind an diesem Sonnabend bis Mitternacht geöffnet. Auftakt für die Nacht der Kirchen ist um 19 Uhr an der Mönckebergstraße mit Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD), der evangelischen Bischöfin Kirsten Fehrs und dem katholischen Erzbischof Stefan Heße. Die Besucher können sich in Hamburg sowie im Umland auf ein kostenloses Kultur- und Religionsprogramm freuen. Das Motto lautet „Herz auf laut“ und bezieht sich auf die Bibelstelle: „Wovon das Herz voll ist, davon spricht der Mund.“ Angeboten werden 658 Veranstaltungen. Alsterschiffe bringen die Besucher kostenlos zu den alsternahen Kirchen.www.ndkhh.de