Hamburg. Am Sonnabend eröffnet das multimediale Spektakel mit 360-Grad-Projektionen und personalisierten Besucherführungen.

„Bitte hilf uns, bitte rette uns“ wispert es aus den Wänden, über die dunkle Schatten ziehen. Die böse graue Hexe hat der Welt alle Farbe genommen, hat Menschen in Raben verwandelt und düstere Tristesse über das Land gebracht. Kann sie besiegt werden? Können mit der Farbe auch wieder Freude und Glück einziehen? Dafür zu sorgen, obliegt den Besuchern der mulitmedialen Märchenwelten-Ausstellung in der HafenCity, die an diesem Sonnabend für das Publikum geöffnet wird.

Beim Presserundgang gab es am Dienstagvormittag bereits erste Einblicke in eine spektakuläre Schau, bei der die Besucher selbst aktiv werden und so ihr ganz eigenes Märchen erleben. Maximal 30 Personen begeben sich gemeinsam auf das Abenteuer, nachdem zunächst jeder ein persönliches Armband erhalten hat, auf dem unter anderem sein Name, sein Alter und Geschlecht sowie seine Sprache gespeichert sind. Durch den Kontakt zu Leuchtsteinen auf dem Weg, wird die Geschichte individualisiert und fortgeschrieben. Da geht es zunächst in eine verzauberte Bibliothek, danach in ein Rundkino mit sieben Meter hohen Wänden, in dem die virtuelle Reise durch dunkle Wälder und über hohe Berggipfel hinein in ein Schloss führt. Was folgt sind unter anderem ein Schlossgarten und ein großer Wunschbrunnen, der eine wichtige Aufgabe bereit hält. Am Ende dann die Frage aller Fragen: Kannst du der mächtigen Hexe widerstehen? Ihren Bann brechen? Gier, Hass und Neid aus der Welt tilgen?

Neues Märchen entsteht

„Die Sehnsucht nach Märchen ist riesengroß“, erklärte Maria Leonardo Castello, wissenschaftliche Leiterin der Märchenwelten, bei der Vorstellung des Projekts. Dass das Gute gegen das Böse kämpfe und siegreich bleibe, sei nicht nur bei den Brüdern Grimm fest verankert, das treffe auch auf moderne, millionenfach gelesene und im Kino gesehene Märchen wie „Harry Potter“ oder den „Herrn der Ringe“ zu. In der Schau am Bakenhafen werde zwar auf die bekannten Märchen der Brüder Grimm Bezug genommen, aber keines konkret nacherzählt, sondern aus den etwa 200 Grimm-Werken ein ganz neues geschaffen.

Die Trennungslinie zwischen Gut und Böse sei stets das Mitleid, so Leonardo Castello. Märchen erzählten ihre Geschichten „von unten“, von den Schwächsten aus. Ein gutes Beispiel sei etwa „Schneewittchen“, die der Jäger trotz eines entsprechenden Auftrags der bösen Königin nicht töte, sondern sich aus Mitgefühl für die Befehlsverweigerung entscheide.

Diese von Märchen beförderte ethische Grundhaltung sei nicht etwa historisch, sondern hoch aktuell. Die Auseinandersetzung mit Grundwerten, die die Märchen transportieren, ein wichtiges didaktisches Ziel. Nicht umsonst liest der Besucher auf dem Weg zum Ausgang an einer Wand noch den abschließenden Satz „Tragt die Werte in die Welt!“

Auf das Jahr 1350 datiert Leonardo Castello die ersten überlieferten Märchenmotive zurück, 1550 erschien das erste Märchenbuch in Italien, 1810 das erste Märchen der Brüder Grimm – mit großem wissenschaftlichen Anhang, der allerdings, so die Expertin, damals kein großes Interesse fand.

Wunderbare historische Bilderbücher

In den Märchenwelten hingegen wird auch den wissenschaftlichen und musealen Aspekten großzügig Platz eingeräumt. Ist das letzte Abenteuer bestanden, finden sich die Besucher in einer Ausstellung mit zahlreichen seltenen Erstausgaben wieder. Da sind die beiden Bände der „Kinder- und Hausmärchen“ aus den Jahren 1812 bis 1815 (eine Leihgabe der Brüder Grimm-Gesellschaft in Kassel) ebenso zu sehen wie „Grimm’s Deutsches Wörterbuch“ oder ein Originalautograph der Brüder. Auch wunderbare historische Bilderbücher werden gezeigt.

Die Freude über den Abschluss der mehr als zehnmonatigen Bauphase war Märchenwelten-Vorstand Matthias Kammermeier bei der gestrigen Präsentation deutlich anzusehen. Das kleine Team sei an die Grenzen der Belastbarkeit gegangen, erklärte er, aber: „Wir alle sind Gesinnungstäter!“ Das Ergebnis, zu dem auf 3000 Quadratmetern nicht nur die Ausstellung, sondern auch ein Gastrobereich für bis zu 300 Personen und ein Museumsshop gehören, sei alle Anstrengung wert gewesen.

Am Baakenhafen werden nach ersten Schätzungen pro Jahr bis zu 300.000 Besucher wartet, wohl keine utopische Zahl angesichts der Tatsache, dass die Märchen der Brüder Grimm kulturelles Allgemeingut sind und die „Grimmwelt“, die im vergleichsweise kleinen Kassel, einen eher musealen Ansatz verfolgt, nach vier Jahren bereits den 500.000 Besucher begrüßt hat.

Karten vorab buchen

Für den Besuch der „Märchenwelten“ können im Internet Karten vorab gebucht werden, für Kinder wird ein Mindestalter von sechs Jahren empfohlen. Der Standort am Bakenhafen ist temporär, 2023 sollen die Schau an den Strandkai nahe der Elbphilharmonie umziehen.

Ob dann weiterhin aus den düsteren Wänden heraus um Hilfe gefleht oder ein etwas anderes Abenteuer erlebt wird, ist noch nicht klar. Kammermeier kündigte jedenfalls an, dass die Ausstellung inhaltlich ständig weiterentwickelt werde. „Ideen haben wir schon jede Menge.“ Und an möglichen Stoffen herrscht im riesigen Grimm-Universum ja tatsächlich kein Mangel.