Hamburg. Vor 25 Jahren begann der Abriss – trotz Protesten. Eine Erinnerung an eine Festung der Hamburger Fußballgeschichte.
Abpfiff. Als Baggerfahrer Wolfgang Brockmöller den Schutt der maroden Haupttribüne des Sportplatzes an der Rothenbaumchaussee mit der riesigen Schaufel zusammenkarrte, fiel das Wehklagen lautstark aus. Die Protestaktion „Rettet den Rothenbaum“ mit mehr als 25.000 Unterschriften war letztlich im Sande verlaufen. Und seit an einem Septembertag vor 25 Jahren eine Festung Hamburger Fußballhistorie der Abrissbirne zum Opfer fiel, so meinen nicht nur Spötter, ging es mit dem einst ruhmreichen Hamburger SV bergab.
Eine glorreiche Geschichte begann 1910. Am 1. November 1910 pachtete der Hamburger FC 1888, einer von drei Vorgängervereinen des HSV, das Areal in zentraler Lage. Dort entstand ein Sportplatz, der am 10. September 1911 mit einem Spiel gegen Holstein Kiel eingeweiht wurde. 1500 Zuschauer erlebten den Aufbruch in ein von Meisterschaften gekröntes Fußballzeitalter.
Anlage wurde zur „Kampfbahn“ ausgebaut
Mit vereinten Kräften und Stärken in Abwehr wie Sturm ging’s voran. Siege auf dem Rasen lockten zahlende Kundschaft an. Nach und nach wurde die Anlage zur „Kampfbahn“ ausgebaut. Standen anfangs 1800 Sitzplätze auf Bänken direkt am Rasen zur Verfügung, wurde die Kapazität 1937 erweitert: zwei Tribünen mit 1500 überdachten Sitz- und 9500 ebenfalls vor Regen geschützten Stehplätzen. Der Platz am Rothenbaum war seinerzeit die größte vereinseigene Sportarena des Landes. Zäune oder Absperrgitter? Was ist das denn?
Bilder aus der Ära großer Triumphe machten die Runde. Wenn sich Hörfunkreporter vom Hamburger Rothenbaum meldeten, wusste Fußball-Deutschland, wovon die Rede war. Die Kultstätte zwischen Rothenbaumchaussee und der Kirche St. Johannis, zwischen Hallerstraße und Turmweg, war in aller Munde. „Nirgendwo ist das Publikum so temperamentvoll und gnadenlos wie am Rothenbaum“, schrieb die „Sport-Illustrierte“ respektvoll.
Volksnähe hatte einen Namen: HSV
Es passte. Einfach. Das Publikum strömte in Scharen zu den Kicks seines HSV. Viele kamen zu Fuß vom Dammtor-Bahnhof, andere mit der Straßenbahn praktisch vor das Tor. Und wenn sich „Vadder“ Erwin Seeler, der hauptberufliche Ewerführer, sein Sohn Uwe, Charly Dörfel, Jochenfritz Meinke und andere Heroen in roten Hosen und Ringelstutzen nach dem Schlusspfiff zu Fuß den Weg über die Chaussee ins Vereinsheim vis-à-vis bahnten, gab es Schulterklopfen – auch bei Niederlagen. An der Clubtheke spendierten die Vorstandsgranden nach dem Duschen und bisweilen Wundenlecken Brause, Bier – und manchmal auch ’nen Lütten. Volksnähe hatte einen Namen: HSV. Vor allem verfügte der Verein über eine Heimat: Hamburg Rothenbaum. Dem „Löwen-Stammtisch“ im „Bierbrunnen“ gingen weder Getränke noch Gesprächsstoff aus.
Kleine Wunder bleiben unvergessen
Zeitzeugen schwelgen in Erinnerungen an einmalige Erlebnisse. „Auf, ihr Männer“, hallte es unisono über den Platz, wenn die Seelers, Dörfel, Spundflasche und Co. den Sieg im Angriff suchten. Fußballfeste mit Gänsehautfaktor waren an der Tagesordnung. Zwischen dem Neustart 1947 und 1963, dem Umzug in den Altonaer Volkspark, verlor der HSV auf dem für ihn „heiligen“ Rasen nur 20 Heimspiele – fünf davon gegen den uralten Rivalen Werder Bremen und vier gegen den Lokalkonkurrenten FC St. Pauli. Kleine Wunder bleiben unvergessen. So wie ein Anruf des Oberliga-Trainers Günter Mahlmann am 19. Oktober 1960. „Bitte komm nachher vorbei“, teilte der Fußballlehrer dem seinerzeit 19 Jahre alten Amateur Harry Bähre telefonisch mit. „Du spielst.“ Etwas früher als sonst verließ Lehrling Bähre seinen Ausbildungsplatz in einer Firma für Reproduktionstechnik und fuhr mit der Straßenbahn vom Gänsemarkt zur Station Hallerstraße.
Seine Punktspielpremiere im Dress mit der Raute auf der Brust gegen Holstein Kiel krönte der Debütant mit dem Siegtreffer zum Endstand von 1:0. Dafür gab es 50 Mark Siegprämie und Anerkennung sogar der Altmeister. Bähres Nominierung wurde begünstigt von einer Länderspielreise der angestammten Leistungsträger wie Uwe Seeler, Charly Dörfel und Jürgen Werner.
Harry Bähre hat eine Bank und eine Hinweistafel gerettet
Harry Bähre, der bei Gründung der Bundesliga 1963 den Spielerpass mit der Nummer 001 erhielt, kann sich minutiös an diesen grandiosen Mittwoch vor bald 59 Jahren erinnern. Während er heutzutage auf seinen persönlichen Volltreffer der ersten Punktspielstunde zurückblickt, sitzt der aktuell 78-Jährige in seinem Garten in Lokstedt auf einer ganz besonderen Bank: Sportplatz Rothenbaum, Reihe 11, Platz 31–34. Dort befand sich früher der Stammplatz von Erwin Seeler. Bähre rettete Holzbank und Hinweistafel 1994 vor der Entsorgung. Seinen HSV behielt der Sportsmann dauerhaft im Herzen.
Eben dort trafen ihn der Tribünenabriss vor 25 Jahren und die endgültige Stilllegung des Traditionsstadions drei Jahre darauf heftig. „Ein Jammer“, findet er. Damals wie heute. Letztlich hatte es der Verein in Zeiten großer Triumphe versäumt, seine Heimat für die Zukunft zu sichern. Vorschläge, die Anlage unter Denkmalschutz zu stellen, wurden nur halbherzig verfolgt. Nachdem der Nutzungsvertrag für das 1910 gepachtete Areal 1963 abgelaufen war, verlängerte sich die Vereinbarung immer nur um ein Jahr – mit drei Monaten Kündigungsfrist. 1980 zerstörte ein Orkan die Südtribüne. Sie wurde nicht wieder instandgesetzt.
Im August 1994 wurde die Abbruchgenehmigung erteilt
Das letzte Pflichtspiel einer Profimannschaft vor Ort wurde am 19. August 1989 angepfiffen. DFB-Pokal, HSV – Duisburg 2:4. Da weder der finanziell klamme Verein noch die Stadt investierten, verkamen Tribünen wie Stehtraversen immer mehr. Als auch noch der Versicherungsschutz erlosch, war das Risiko untragbar. Schließlich erteilte die Bauprüfungsabteilung des Bezirksamts Eimsbüttel am 25. August 1994 die Abbruchgenehmigung.
„Nächste Woche beginnt ein Stück Hamburg zu sterben“, schrieb das Abendblatt am Tag danach auf der Titelseite. Auf Seite 13, nicht unpassend, wurde der damalige HSV-Schatzmeister Gerhard Flomm zitiert: „Es ist ein Drama. Die Bagger kommen.“ Auf dem 2,5 Hektar umfassenden Grundstück, einem Filetstück in allerbester Lage, entstand das heute bekannte Multifunktionsgebäude aus Stahl und Glas. Neben viel Geld flossen Tränen.
„Ich kann gar nicht glauben, dass der heilige Rothenbaum angetastet wird“, sagte Uwe Seeler. Und „Vadder“ Erwin befand in der ihm eigenen Art: „Dat is bannig traurig. Aber wat wullt du moken?“
Hunke kämpfte zum den Erhalt des Stadions
Einer der Vorkämpfer für den Erhalt der Traditionsanlage war HSV-Präsident Jürgen Hunke (1990–1993). Die von ihm initiierte Aktion „Rettet den Rothenbaum“ stieß nicht nur an der Clubbasis auf Widerhall. Unter dem Strich halfen weder mehr als 25.000 Unterschriften noch ein Protestzelt vor der bedrohten Anlage. „Mir blutet noch heute das Herz, wenn ich das dort errichtete gesichtslose Gebäude und die teuren Luxuswohnungen sehe“, sagt Hunke. Rückblickend sei es aus seiner Sicht unverständlich, warum die Stadt kein langfristiges Erbbaurecht erteilt und den geschichtsträchtigen Sportplatz als Grünanlage erhalten habe.