Das Inferno von Paris zeigt etliche Parallelen zu einer Tragödie um den Michel vor 113 Jahren.

Wenn ein vertrautes Bauwerk plötzlich zu verschwinden droht, scheint die Zeit stillzustehen. Man traut seinen Augen nicht, betrachtet fassungslos das Geschehen und empfindet eine Trauer fast wie beim Abschied von einem geliebten Menschen. Das haben die Bewohner von Paris am Abend des 15. April beim Brand von Notre-Dame erleben müssen – und mit ihnen Menschen in der ganzen Welt. Es gibt Bauwerke, mit denen sich Identität verbindet und bei deren Verlust der Alltag aus den Fugen gerät. Die Bilder brennen sich tief ins kollektive Gedächtnis ein, und noch nach Jahrzehnten wissen die Zeitzeugen, wie sie den Tag erlebt haben. Anfang des 20. Jahrhunderts ereignete sich auch in Hamburg eine solche Tragödie.

Der 3. Juli 1906 war ein brütend heißer Frühsommertag. Bereits seit dem Morgen arbeiteten zwei Klempner im Turm von St. Michaelis. Da einige der Kupferplatten der Turmverschalung Witterungsschäden aufwiesen, mussten sie ausgebessert werden. Um die Ränder verfalzen zu können, erhitzten die Handwerker die Kupferplatten mit Lötlampen. Während sie mit der offenen Flamme hantierten, erhitzte sich eine geteerte Pappe, die sie unter die glühende Kupferplatte geschoben hatte. Das sich dabei entwickelnde Teergas entzündete sich und setzte die Holzverschalung des Turms innerhalb kürzester Zeit in Brand. Als die Dachdecker das bemerkten, versuchten sie die Flammen mit dem bereitstehenden Löschgerät zu bekämpfen, mussten aber kurz darauf einsehen, nichts mehr ausrichten zu können.

Um 14 Uhr wurde der Brandgeruch wahrgenommen

Etwa 15 Meter oberhalb des Brandherdes befand sich der Wächterboden, wo Carl Beurle seinen Dienst tat. Als Angehöriger der Hamburger Feuerwehr war es seine Aufgabe, das umliegende Stadtgebiet zu beobachten und Brände möglichst frühzeitig zu erkennen und zu melden. Seit Kurzem stand ihm ein Morsetelegraf mit Verbindung zur Hauptfeuerwache zur Verfügung.

Nachdem Beurle sich am Vormittag erstmals im Leben hatte fotografieren lassen, als Erinnerung an seine langsam zu Ende gehende Dienstzeit als Turmwächter, stieg er kurz vor 14 Uhr die Treppe zum Michelturm hinauf, um seinen Nachmittagsdienst anzutreten. Direkt oberhalb des Wächterbodens befand sich das Uhrengeschoss, wo zur selben Zeit ein Uhrmacher und ein Mechaniker beschäftigt waren. Über das, was in den folgenden Minuten geschah, gibt es verschiedene Versionen. Nach einer Überlieferung soll der Uhrmacher etwa um 14 Uhr Brandgeruch wahrgenommen und dies dem Turmwächter mitgeteilt haben. Beurle habe ihn jedoch mit dem Hinweis auf die Klemperarbeit beruhigt. Daraufhin sei der Uhrmacher wieder in das darüber liegende Uhrengeschoss gestiegen, wo ihm aber bereits Rauch entgegenschlug. Gemeinsam mit dem Mechaniker, der sich im Turm gut auskannte, sei ihm nur noch mit knapper Not die Flucht nach unten gelungen.

Der tapfere Turmwächter konnte sich nicht mehr retten

Nach einer anderen Version hatten die beiden Dachdecker Beurle, den Uhrmacher und den Mechaniker – die einzigen im Turm anwesenden Personen – zu Hilfe gerufen, um den Brand zu ersticken. Nachdem sich das als unmöglich erwiesen hatte, flohen alle – außer Beurle. Statt nach unten zu rennen, stieg er eilig die Treppe hinauf zu seinem Morsegerät auf dem Wächterboden.

Sicher ist, dass er um 14.22 Uhr zur Hauptwache am Schweinemarkt morste: „Hier im Turm Großfeuer“. Er selbst hatte keine Chance mehr, den Flammen zu entkommen. Auf seiner Plattform befand sich zwar eine flaschenzugähnliche Rettungsvorrichtung, mit der er sich auf das Kirchendach hätte abseilen können, doch das Seil hatte schon Feuer gefangen. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: „Als er schließlich keinen Ausweg mehr sah, legte er sich weit über die Fensterbrüstung und winkte, mit beiden Händen den Helm schwenkend, seinen Angehörigen die letzten Grüße zu. Die acht hinterlassenen Kinder hatten Mühe, die schwergeprüfte Frau, die den Anfang des Feuers von ihrer Wohnung aus genau verfolgen konnte, vom Fenster fortzubringen, damit ihr wenigstens dieser schauerliche Anblick erspart blieb. Plötzlich hielten die Schwankungen inne, und er verschwand im Hintergrund. Seitdem weiß man nichts mehr von ihm.“

Als die Feuerwehr kurz vor 14.30 Uhr mit drei Löschzügen zur Stelle war, konnte sie nichts mehr ausrichten. Statt die Kirche zu retten, ging es nur noch darum, die Ausbreitung des Feuers – und damit einen neuen verheerenden Stadtbrand – zu verhindern. Dabei war höchste Eile geboten, denn schon kurz nach 14.30 Uhr begannen Teile des Turms sowie die gewaltigen Uhrzeiger herunterzustürzen. Nachdem sich die teilweise schon geschmolzenen Kupferplatten gelöst hatten und abgestürzt waren, wurde die brennende Holzkonstruktion des Turmes sichtbar.

Sechs Jahre später war das Wahrzeichen wieder aufgebaut

Die damaligen Bilder erinnern an die Fotos des brennenden Vierungsturms von Notre-Dame, dessen Holzkonstruktion ebenfalls in den Flammen sichtbar war. Wie am vergangenen Montag in Paris, hatte sich am 3. Juli 1906 auch eine große Menge eingefunden. Auf den Straßen, an den Fenstern und sogar auf den Dächern der umliegenden Häuser standen Menschen und verfolgten fassungslos das Geschehen. Zeitweise hatte die Polizei Mühe, die Menge vom unmittelbaren Gefahrenbereich fernzuhalten. Manch einer wird an das Jahr 1750 gedacht haben, als die Michaeliskirche schon einmal abgebrannt war.

Der Polizeifotograf Hugo Schröter hatte seine Kamera auf einem Dach südöstlich des Michels aufgestellt. Gegen 15.10 Uhr – als sich der Turm zu neigen begann und vor den Augen der entsetzten Menge in sich zusammensackte, um auf das Kirchenschiff zu stürzen – drückte er auf den Auslöser und schuf damit ein beeindruckendes Bilddokument.

Der Moment, in dem Turm einstürzte: Das Bild des Polizeifotografen Hugo Schröter wurde auch als Postkarte gedruckt.
Der Moment, in dem Turm einstürzte: Das Bild des Polizeifotografen Hugo Schröter wurde auch als Postkarte gedruckt. © akg-images | akg-images

Währenddessen waren Helfer dabei, unter Lebensgefahr alte Handschriften, Bücher, das Abendmahls- und Taufgerät, Leuchter und sogar den schweren Marmortaufstein aus der brennenden Kirche zu retten. Glücklicherweise wurde auch der Gotteskasten, den Michel-Baumeister Ernst Georg Sonnin gestiftet hatte, gerettet, viele andere Kunstwerke wie das große Altargemälde von Johann Heinrich Tischbein gingen jedoch verloren.

Gegen 16 Uhr durfte niemand mehr in der Kirche sein. Dann dauerte es noch einmal 40 Minuten, bis die Feuerwehr das Geschehen unter Kontrolle hatte. Bald darauf standen nur noch rauchende Trümmer. Dass der Brand der Michaeliskirche außer dem Turmwächter Carl ­Beurle nur noch ein zweites Opfer – in einem ebenfalls ausgebrannten Nachbarhaus – forderte, ist einer Reihe glücklicher Umstände zu danken: Zum einen waren das die günstigen Windverhältnisse und die frühe Entdeckung des Brandes. Auch das couragierte Verhalten der Verantwortlichen und der effiziente Einsatz der Feuerwehr haben noch Schlimmeres verhütet.

Wiederaufbau des Michels dauerte sechs Jahre

Nur einen Tag später, am 4. Juli 1906, trat die Bürgerschaft zusammen. Unter dem Beifall der Abgeordneten sagte Parlamentspräsident Julius Engel: „Die Michaeliskirche muss da, wo sie gestanden hat, und so, wie sie gestanden hat, sobald wie möglich neu errichtet werden, damit der mächtige, die Stadt überragende Turm auch künftigen Geschlechtern wieder als Wahrzeichen der Stadt erscheine.“

Der Wiederaufbau des Michels nahm etwas mehr als sechs Jahre in Anspruch. Die feierliche Weihe fand am 19. Oktober 1912 statt. Die Rekonstruktion von Notre-Dame soll sogar noch schneller gehen: Präsident Emmanuel Macron sprach von fünf Jahren.