Hamburg. Vor 100 Jahren brachen in Hamburg Proteste aus, weil ein Fleischfabrikant auch tote Hunde und Ratten verarbeitet haben soll.
Am Morgen des 23. Juni 1919, dem Beginn eines sonnigen Montags, hält der Fuhrmann Rüssau vor der Fleischwarenfabrik Heil & Co in der Kleinen Reichenstraße 6 in Altona. Er wuchtet Fässer mit verdorbenen Fleischabfällen auf den Wagen, um sie nach Ochsenwerder zu bringen, wo die Bauern sie als Dung verwendeten. Als beim Beladen versehentlich eines der Fässer umkippt und zerbricht, ergießt sich ein stinkender gelblicher Brei auf die Straße. „Eine breiige, undefinierbare Masse“, schrieb der „Hamburger Correspondent“ später.
Einige Arbeiter, die zufällig in der Nähe stehen, wollen genauer wissen, was da so krachend auf die Straße geknallt ist und nun so übel riecht. Jacob Heil, der Fabrikbesitzer, genoss ohnehin keinen guten Ruf in der Stadt. Er hatte lange in der Lederindustrie gearbeitet. Und als die Not in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkriegs groß war, begann Heil damit, preiswerte Nahrungsmittel herzustellen. Und zwar Sülze, so billig wie möglich. Gelee aus Ochsenmäulern, Ochsenkopf- und Kalbskopfhäuten. Seine „Heilsche Delicatess-Sülze“ pries er mit den Worten an: „Sülze von größtem Nährwert und delikatem Geschmack.“
Die Menge der Neugierigen, die schnell auf 150 Bürger anwächst, glaubt, dass in der Fabrik Tierkadaver zu Sülze verarbeitet wurden. Als ein Arbeiter beim Blick in die Fässer ruft: „Hurra, da haben wir ja einen Hundekopf!“, stürmen die Menschen das Gelände. Dort finden sie weitere Kadaver von Ratten, Hunden und Katzen. Von einem „Haufen von Fellen und Häuten“, die „mit einer Schimmelschicht überzogen waren“, ist später in einem Gerichtsurteil die Rede. Zuvor aber hat der Ekel-Eklat die Stadt beinahe in den Abgrund gestürzt.
Die Lage spitzt sich immer mehr zu. „Bald waren 1000 Menschen in der Fabrik und davor auf der Straße“, schreibt der Historiker Sven Philipski, „die Stimmung war aggressiv.“ Die Menschen verprügeln Jacob Heil und rufen: „Wenn die Behörde uns nicht helfen kann, dann helfen wir uns selber.“ Sie packen den verletzten Heil, fahren ihn zum Rathausmarkt und werfen ihn von der Schleusenbrücke in die Alster.
Es ist der Beginn der Hamburger „Sülze-Unruhen“, die neun Tage dauern werden. Der Erste Weltkrieg war erst sechs Monate vorher beendet worden. Die Revolution hatte in Hamburg mit der Wahl zur Bürgerschaft am 16. März und dem Übergang der politischen Macht vom Arbeiter- und Soldatenrat auf Bürgerschaft und Senat ihren formellen Abschluss gefunden. Für die Menschen waren die unruhigen Zeiten keineswegs vorbei. In der Bevölkerung gab es große radikale Gruppierungen, es herrschten noch immer Hunger und Not. Ein idealer Nährboden für Aufruhr und Gewalt.
Täglich starben 800 Menschen an den Folgen des Hungers
Der Zorn treibt die Bevölkerung auf die Barrikaden. Die Nachricht, dass in der Fleischfabrik Hunde, Katzen und Ratten zu Sülze verarbeitet wurden, verbreitet sich rasend schnell. Was folgt, sind die heftigsten Hungerproteste, die Hamburg je gesehen hat. „Immer wilder schrie die Masse, immer rasender tobte sie und wollte ihre Opfer haben“, berichtete ein Augenzeuge.
„Die neun Tage des Ekels“ (Verlag acabus, 11 Euro) hat der Hamburger Autor Karsten Flohr seine Novelle über die dramatischen „Sülze-Unruhen“ betitelt. „Am meisten überrascht war ich bei der Recherche zum Thema von den himmelschreienden Ungerechtigkeiten bei der Lebensmittelverteilung an die hungernde Bevölkerung“, sagt er. „Das ging ja schon seit 1916 so, wo mit Unterstützung korrupter Beamter der Schwarzmarkt florierte. Die Lebensmittelmarken reichten hinten und vorn nicht aus, 1918 starben in Hamburg täglich (!) 800 Menschen an den Folgen von Hungerkrankheiten, vor allem Kinder.“ Das sei der Nährboden für Betrüger wie die „Heil’sche Sülzefabrik“ gewesen, die für drei Mark das Pfund ihren Ekelfraß anboten. Flohr: „Für viele Familien war das die Überlebensgrundlage. Als das dann aufflog, war das revolutionäre Potenzial groß – viel größer als im Herbst 1918, als die Arbeiterräte versuchten, nach sowjetischem Vorbild Nachkriegsdeutschland zu formen.“
In den folgenden Tagen breiteten sich die Unruhen auf die gesamte Stadt aus. Nachdem am Vortag Polizisten den Fabrikanten Heil aus der Alster gefischt und ins Rathaus gebracht hatten, versuchte die Menge bereits, das Gebäude zu stürmen. Ein Kriminalinspektor versprach „die strengste Untersuchung“. Aufgebrachte Bürger stürmten weitere Fleischwarenfabriken. Mitarbeiter wurden auf die Straße gezerrt, auf den Rathausmarkt geschleppt, wo ein „Pranger“ für Beschuldigte aufgestellt worden war. Fenster des Rathauses wurden mit Steinen eingeschmissen, Arbeiter versuchten, in das Gebäude einzudringen.
Am Abend des 24. Juni rief der Senat in seiner Not das bei der Arbeiterschaft verhasste Freiwilligenbataillon aus Bahrenfeld zu Hilfe. Als die 600 Männer mit ihren Stahlhelmen und Maschinengewehren anrückten, eskalierte die Situation. Es kam zu Schießereien, eine Handgranate explodierte, die ganze Nacht wurde gekämpft. Die traurige Bilanz: ein Toter, 15 Verletzte. Überall in der Stadt wurden Läden geplündert und Autos angezündet. Später stürmten die Arbeiter das Rathaus, erbeuteten dort gelagerte Waffen und nahmen einige Bahrenfelder gefangen. 14 der freiwilligen Kämpfer kamen ums Leben.
Nach einer Woche marschierte die Reichswehr ein
Weil der völlig überforderte Senat die Lage nicht in den Griff bekam, erteilte der zuständige Minister Gustav Noske (SPD) am 27. Juni der Reichswehr den Befehl, in Hamburg einzumarschieren. Am 1. Juli rückten rund 10.000 Mann Reichswehr- und Freikorpstruppen unter dem Kommando des Generals Paul von Lettow-Vorbeck in die Stadt ein. Mit äußerster Brutalität wurde der Aufstand niedergeknüppelt, Arbeiter und Funktionäre verhaftet, Menschen niedergeschossen, die nicht schnell genug von der Straße verschwanden. In vielen Vierteln galt die „Schnelljustiz“. Am Ende waren 80 Tote zu beklagen.
„Die Sülze-Unruhen stellten den Abschluss der ,Revolution‘ dar. Danach war Hamburg bis Ende 1919 eine Militärdiktatur unter der Knute vom ,Afrika-General‘ Lettow-Vorbeck“, sagt Karsten Flohr. Die „Erzählerin“ in seiner Novelle, die Kriegerwitwe Elfriede Schwerdtfeger, ist übrigens fiktiv. Sie beobachtet von ihrem Fensterplatz in der Kleinen Reichenstraße, wo die Aufstände begannen, die Geschehnisse. „Das, was sie schildert“, sagt Flohr, „ist bis ins Detail echt, ich brauchte gar nichts hinzuzuerfinden. Was sich in diesen neun Tagen vom 23. Juni bis zum 1. Juli abspielte, ist eigentlich filmreif, es enthält alles an Dramatik und Emotionen, was es dafür bräuchte.“
Im Oktober 1919 wurde Jacob Heil zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung und einer Geldstrafe von 1000 Reichsmark verurteilt. Der Sachverständige, Staatstierarzt Dr. Weber, hatte bestätigt, dass die von Heil verwendeten Sülze-Rohstoffe „stinkig und faulig waren sowie Maden enthielten“.