Hamburg. Am 7. Oktober soll der erste Verkehr über die neue Wilhelmsburger Reichsstraße rollen. Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Im Minutentakt brummen Baustellenfahrzeuge und Lkw über die Asphaltdecke, Handwerker montieren Leitplanken und Lärmschutzwände. Mit Genugtuung und einer gehörigen Portion Stolz beobachtet Martin Steinkühler das geschäftige Treiben. Sechs Jahre hat der Ingenieur dieses Projekt nun gesteuert, mitunter in Tag- und Nachtschichten: Nun steht die neue 4,6 Kilometer lange Wilhelmsburger Reichsstraße kurz vor der Vollendung.
Am 5. oder 6. Oktober wird mit reichlich Prominenz die Eröffnung gefeiert, am Montag, dem 7. Oktober, soll dann ab 5 Uhr morgens der Verkehr über die neue Trasse rollen. Allerdings werden in den kommenden Monaten vor allem an den Anschlussstellen im Norden und Süden noch Bauarbeiten notwendig sein. „Wir hinterlassen Spuren, das erfüllt einen mit Freude“, sagt Projektleiter Steinkühler von der DEGES (Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH). Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was ist die Idee dieses Projekts?
„Wir bündeln zwei lärmintensive Trassen zu einer“, sagt Steinkühler. Noch trennen die Bahnlinie und die bisherige Wilhelmsburger Reichsstraße rund 400 Meter. Die Trasse verläuft ab Oktober weitgehend an der S- und Fernbahnstrecke. Eine Machbarkeitsstudie im Auftrag der damals zuständigen Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) hatte genau dies bereits 2008 empfohlen. Damit könnten „Verkehrssicherheit, Umweltverträglichkeit sowie städtebauliche Entwicklungsmöglichkeiten nachhaltig verbessert werden“. Zudem gilt die bisherige Trasse als Gefahrenschwerpunkt: Jeden Tag passieren im Schnitt 55.000 Fahrzeuge eine vierspurige Bundesstraße ohne Standstreifen, getrennt durch eine Barriere aus Beton.
Was sagen die Kritiker?
Erbitterten Widerstand leisteten vor allem die Anwohner an der Bahntrasse, die mit dem Bau der Autotrasse nun eine weitere Lärm- und Schadstoffquelle ertragen müssen. Die Initiative „Rechtsschutz Lebensqualität Wilhelmsburg“ rief zu Demonstrationen auf. Ihre Haupteinwände: Das Projekt sei ein Schritt zurück in eine überholte Verkehrspolitik – Ausbau des motorisierten Individualverkehrs statt des öffentlichen Nahverkehrs: „Der Neubau führt zu mehr Verkehr, zu mehr Lärm und zu mehr Schadstoffen.“ Zudem gebe es „katastrophale Sicherheitsmängel“ durch die Bündelung von Gefahrguttransporten auf einer Doppeltrasse. Die Klagen gegen das Projekt wurden abgewiesen. Trotz aller Konflikte spricht der Wilhelmsburger Bundestagsabgeordnete Metin Hakverdi (SPD) von einem „beispielhaften Prozess der Bürgerbeteiligung“ bei diesem Projekt: „Die Gegner konnten auf Kosten der Behörde sogar einen eigenen Gutachter beauftragen.“
Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer des Projekts?
„90 Prozent der Wilhelmsburger werden von der neuen Trasse profitieren“, sagt Verkehrsstaatsrat Andreas Rieckhof (SPD). Als größter Gewinner gilt der Inselpark, entstanden 2013 aus der Internationalen Gartenschau (igs). Noch durchschneidet die Reichsstraße den Park, auch Heimstätte des Basketballbundesliga-Aufsteigers Towers, in einen Ost- und Westteil. Nach dem Rückbau der Trasse wird der Park um weitere fünf Hektar wachsen, Raum für neue Vegetation, einen sechsten Spielplatz und eine weitere Hundeauslauffläche. Für die Anwohner der neuen Doppeltrasse wurde in aufwendige Lärmschutzmaßnahmen mit fünf Meter hohen Schallschutzwänden investiert. „Es wird für die Anwohner nicht lauter“, verspricht Steinkühler. Dafür wird in den nächsten Wochen auch sogenannter Flüsterasphalt auf die bereits installierte Gussasphaltdecke verlegt. „Dieser offenporige Asphalt senkt den Lärm um fünf, sechs Dezibel“, sagt Steinkühler.
Was waren die größten Herausforderungen beim Bau?
Für Schlagzeilen sorgte im November 2018 der Fund einer 250-Kilogramm-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg, für die Entschärfung mussten 1300 Anwohner ihre Wohnungen verlassen. Verglichen mit der Verlegung von Güterbahnlinien ein fast zu vernachlässigendes Problem für Projektleiter Steinkühler: „Die Koordination mit der Deutschen Bahn war eine echte Herausforderung.“ Als sehr schwierig für den Bau entpuppte sich auch der torfige Untergrund. Allein im Trogbauwerk unter der Brücke Kornweide ließ Steinkühler 40.000 Kubikmeter Beton verbauen.
Wie ist die Kostensituation?
Das Elbphilharmonie-Phänomen – extreme Kostensteigerung gegenüber der Planungsphase – lässt sich auch bei der Wilhelmsburger Reichsstraße beobachten. Als der Senat 2009 die Pläne vorstellte, hieß es in der Bürgerschaftsdrucksache 19/7116 zur Finanzierung einer Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstraße: „Die Bau- und Grundstückserwerbskosten werden mit insgesamt 67,4 Millionen Euro veranschlagt.“ Dies klang sehr günstig. Besonders im Vergleich für einen „verkehrsgerechten Ausbau in der jetzigen Lage“, der mit 57 Millionen Euro kalkuliert wurde.
Kritiker warfen dem damaligen Senat in den vergangenen Jahren immer wieder vor, das Projekt schöngerechnet zu haben, um die Chancen für eine Realisierung zu erhöhen. Mit den Jahren stiegen die Kosten immer weiter. Bereits 2011 war von 136,3 Millionen Euro die Rede. Als Gründe führte der Senat notwendige Lärmschutzmaßnahmen und den schwierigen Baugrund an.
2016 lautete die Kalkulation schließlich 235 Millionen, aktuell wird mit 295 Millionen Euro gerechnet. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Baukosten grundsätzlich in den vergangenen Jahren extrem gestiegen sind. Zudem wurden der Lärmschutz und die Sicherheitstechnik deutlich verbessert. Da es sich um eine Bundesstraße handelt, übernimmt der Bund rund 90 Prozent der Kosten.
Was ist die DEGES?
Hinter der Abkürzung verbirgt sich das Wortungetüm Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH. Die Gesellschaft mit Sitz in Berlin wurde 1991 gegründet, um Verkehrsprojekte nach der Wiedervereinigung zügig zu realisieren. Hamburg trat der DEGES 2007 bei. Sie verantwortet neben der Wilhelmsburger Reichsstraße weitere Großprojekte der Metropolregion, etwa den Ausbau der A 7.
Ist die neue Trasse am Ende doch eine Autobahn?
Auf dem ersten Blick wirkt die neue Strecke mit zwei Fahrspuren und einer Standspur in jeder Richtung wie eine Autobahn. Dennoch bleibt die Wilhelmsburger Reichsstraße eine Bundesstraße mit einem Tempolimit von 80 km/h. Die Trasse ist auch insgesamt einen Meter schmaler, als bei einer Autobahn vorgeschrieben wäre.
Ist der Name noch zeitgemäß?
Bei vielen weckt der Name „Reichsstraße“ Assoziationen an das NS-Regime. Ein Abendblatt-Leser beantragte 2017 bei der Senatskanzlei, auf den Zusatz „Reichs“ für die neue Trasse zu verzichten. In dem ergreifenden Brief schilderte der damals 81-Jährige, wie sehr seine Familie unter dem NS-Regime gelitten habe. Sein Geburtshaus an der damaligen Hindenburgstraße, der heutigen Georg-Wilhelm-Straße in Wilhelmsburg, sei am 18. Juni 1944 bombardiert worden. Seine Mutter und mehrere Nachbarn seien dabei ums Leben gekommen. Er selbst habe als Achtjähriger im Luftschutzkeller überlebt – genau wie sein Vater, als Nazi-Gegner in einem KZ.
„Der Straßenname ist weder kriegs- noch NS-verherrlichend“, antwortete das Bezirksamt Hamburg-Mitte im Auftrag des Senats. Reichsstraße sei ein rein rechtlicher Begriff, der früher Fernstraßen bezeichnet habe, „wie heute die Bundesstraßen in der Bundesrepublik“. Nach historischen Unterlagen sollte die Straße bei der Planung 1930 nach dem früheren Reichspräsidenten Friedrich Ebert (1871–1925) benannt werden, unter dem NS-Regime dann nach Adolf Hitler. Laut Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg & Hafen erhielt die Trasse dann 1949 ihren aktuellen Namen.
Wie viele Wohnungen werden in den neuen Quartieren entstehen?
Mit der alten Wilhelmsburger Reichsstraße verschwindet eine den Stadtteil trennende Barriere. Die städtische Stadtentwicklungsgesellschaft IBA Hamburg will in dem Gebiet zwei neue Quartiere schaffen, ergänzt um das Spreehafenviertel im Norden Wilhelmsburgs. Im Elbinselquartier zwischen Ernst-August-Kanal, Aßmannkanal, Jaffe-Davids-Kanal sowie der Rotenhäuser Straße sollen nach dem Rückbau der alten Trasse 2100 Wohnungen entstehen, im Wilhelmsburger Rathausviertel zwischen Rathauswettern, Drateln-, Rotenhäuser- und Neuenfelder Straße 1600 Wohnungen. Bewusst setzt die IBA Hamburg auf einen Gebäudemix vom Reihenhaus über den typischen Geschosswohnungsbau bis zu Hofhäusern.
„Wir werden lebendige Quartiere entwickeln“, verspricht Projektleiter Christian Hinz: „Die begehrten Wasserlagen werden dabei bewusst nicht privatisiert, sondern bleiben öffentlich zugänglich.“ Die IBA Hamburg wird große Flächen für Sport und Freizeit entwickeln, in den Entwürfen sind auch Standorte für Schulen, Nahversorgung und Kitas vorgesehen. Besonders attraktiv werden die Quartiere durch eine Landschaftsachse zum Inselpark, der von jeder Wohnung fußläufig erreichbar sein wird.
Bei dem neuen Projekt gilt der sogenannte Hamburger Drittelmix (ein Drittel Sozialwohnungen, ein Drittel normale Mietwohnungen und ein Drittel Eigentumswohnungen). Auch Baugemeinschaften sollen bei der Vergabe der Grundstücke zum Zuge kommen. Mit dem Baubeginn wird ab 2021 gerechnet.