Hamburg. Experten erklären, warum bereits im Mutterleib alle Weichen gestellt werden und in welchen Branchen Menschen benachteiligt werden.

Frauen verdienen in Deutschland noch immer weniger Geld als Männer. Der durchschnittliche Bruttoverdienst bei Frauen liegt bei 17,09 pro Stunde, bei Männern 21,60 Euro. Das ist nur ein Beispiel von mangelnder Gerechtigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei sollten doch alle Menschen gleiche Chanchen haben – oder? Darüber debattieren der Erziehungswissenschaftler Thomas Trautmann und die Ökonomin Elisabeth Bublitz, beide von der Universität Hamburg.

In der Natur ist es einfach: Zwei Bäume wachsen nebeneinander, der stärkere setzt sich durch. Warum braucht es Chancengleichheit bei den Menschen?

Trautmann: Der Baum ist kein Mensch, der Mensch ist aber ein soziales Wesen. Wir sollten an dieser Stelle den Begriff der Chancengerechtigkeit mitdenken. Es ist das gleiche Recht auf die Entfaltung, jedoch ungleicher Anlagen. Da wir denkende, sozial handelnde Individuen sind, erkennen wir, dass wir immer ungleiche Anlagen haben. Es gibt keine Chancengleichheit für einen, der 4,5 Dioptrien hat und in der Schule in der letzten Reihe sitzt.

Wäre das Konzept der Natur nicht besser: Der Stärkere setzt sich durch?

Bublitz: Wenn ich das Bild der Bäume vor mir sehe, frage ich mich: Sind die Bäume so gepflanzt, dass sie an Wasser kommen – dass die Rahmenbedingungen stimmen und sie dieselben Wachstumschancen haben? Auf uns Menschen übertragen bedeutet das, gleiche Startbedingungen zu haben um Ziele zu erreichen, aber nicht, dass alle diese Ziele erreichen müssen.

Gibt es Länder auf der Welt, wo das gut oder nicht gut funktioniert?

Trautmann: Ich möchte ein Stück zurückgehen: Es gibt einen Bereich, wo die Chancengleichheit scheinbar ausgeschaltet ist – und zwar beim Leistungssport. Dort gewinnt der Stärkere, der Schnellere.

Bublitz: Wir haben gleichzeitig auch die Paralympics. Da versucht man, den im Leistungssport sonst benachteiligten Personen durch die Zuordnung in unterschiedliche Behinderungskategorien und Startklassen faire Chancen zu geben.

Trautmann: Was interessant ist: Die Chinesen haben kein Zeichen für Nachteilsausgleich. Das heißt: Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit nach nicht im Denken vorhanden. Deshalb wird dort in den Kaderbiografien sehr viel Biologismus gelebt. Dabei gilt das Recht des Stärkeren und Potenteren.

Wann kam das Thema der Chancengleichheit in die öffentliche Debatte?

Trautmann: Die Salamanca-Erklärung ist eine Zäsur: Sie besagt, dass alle Kinder ein Recht auf Bildung haben. Wenn wir an die Nachkriegszeit denken, gab es zunächst allerdings wichtigere Aufgaben, als über Chancengleichheit zu sprechen. Meine These ist: Als das Bruttosozialprodukt wieder eine hinreichende Größe hatte, war mehr Zeit und Raum, über Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit nachzudenken.

Wer waren damals die politischen Akteure?

Trautmann: Von der Ökonomie her war es Karl Schiller, der mit seiner konzertierten Aktion eine der materiellen Grundlagen im Nachkriegsdeutschland dafür geschaffen hat. Dann spielten die 68er-Akteure eine Rolle und das Ziel, Arbeiterkinder an die Universitäten zu bringen. Und nicht zuletzt Alice Schwarzer und die Frauenbewegung. Nach 1990 die Aufnahme der jungen Länder: In der DDR arbeiteten fast alle Frauen.

Bublitz: Auch Bürgerrechtsbewegungen spielten eine Rolle – genauso wie Frauenrechtsbewegungen, die sich z. B. für das allgemeine Wahlrecht und gesellschaftliche Partizipation einsetzten. Was wir jetzt mit Chancengerechtigkeit benennen, hatte damals einen anderen Namen oder themenbezogenen Fokus.

Wie würden Sie, Frau Bublitz, als Ökonomin Chancengerechtigkeit definieren?

Bublitz: Gerechtigkeit ist für mich ein Begriff, der ein wertendes Urteil darüber trifft, was fair ist. Als Ökonomin gehe ich aber nicht normativ vor, sondern analysiere den Status quo dahingehend, ob wir Gleichheit haben oder nicht. In unserer Fachdisziplin gab es einen Wandel: Zunächst ging es um Ergebnisgleichheit, erreichen beispielsweise Personen denselben Bildungsabschluss. Heute fragen wir: Haben Personen denselben Zugang zum Bildungsmarkt. Das ist ein Wechsel von Ergebnisgleichheit zu Chancengleichheit.

Und wie wird Chancengleichheit realisiert?

Trautmann: Es beginnt eigentlich schon im Mutterleib. Die Mutter ist autark verantwortlich für das Kind. Die Bücher, so könnte man meinen, sind geschrieben, wenn das Kind auf die Welt kommt. Und dann kommt das erste Lebensjahr: Da macht das Kind riesige Entwicklungssprünge. Das Gehirn übernimmt zunehmend die Kontrolle. Entscheidend ist zum Beispiel: Wie oft interagieren die Mutter, der Vater mit dem Kind? Wie oft ermutigte die Mutter, der Vater das Kind?

Welche schweren Fehler können Eltern machen?

Trautmann: Wenig Kontakte keine Angebote. Darüber hinaus: rauchen, Alkohol trinken, Drogen. Kommunikation, Nähe – das ist das Wichtigste, was ein frisch auf die Welt gekommenes Kind braucht. Und Ermutigung in allem.

Wird in dieser Gesellschaft genug für die frühkindliche Förderung getan?

Trautmann: In der ehemaligen DDR galten Kindergärtnerinnen als sogenannte Weißkittelberufe. Kandidatinnen mussten einen sehr guten Notendurchschnitt haben. Heute bin ich manchmal erschrocken, wie unspezifisch die Zugangsmöglichkeiten für den Beruf des Erziehers geworden sind.

Was ist notwendig?

Trautmann: Die Erzieher*innen-Ausbildung bedarf einer gründlichen Reform. Sie ist zu oberflächlich. Es muss wieder mehr Spezialisten für bestimmte Altersgruppen geben.

Hat jemand, der auch aus einem finanziell gut gestellten Elternhaus kommt, bessere Perspektiven in der Schule als ein Migrantenkind?

Bublitz: Das Bildungsniveau beeinflusst maßgeblich das Einkommen, jedoch gibt es auch einen generationsübergreifenden Zusammenhang. Wenn die Eltern viel verdient haben, dann gelingt das den Kindern auch eher. Die Aufgabe bleibt, dass Kinder aus bildungsfernen, niedrigeren Einkommensschichten einen Uni-Abschluss schaffen.

Ihre Eltern sind Akademiker. Welche Vorteile hat das für Sie gebracht?

Bublitz: Das hat auf jeden Fall geholfen, den Blick für die Berufsoption eines Studiums zu haben. Wir wurden aber nie in eine Richtung gedrängt.

Trautmann: Ich bin in Thüringen aufgewachsen. Meine Eltern waren aus der sogenannten „Intelligenz“. Sie galten als „Schicht“. Arbeiterkinder an die Universität – dort wurde das auf die Fahnen geschrieben. Ich bin als „Schicht-Kind“ sozusagen mit durchgerutscht. Wenn Kinder freigelassen werden mit dem Bewusstsein, wir glauben an dich, das ist vielleicht das Wichtigste, was Eltern ihren Sprösslingen mitgeben können.

Haben Kitas und Schulen heute Lobbyisten?

Trautmann: Wie lange haben wir Zeit, das auszuführen? Kurz: Es kann für Kinder und Heranwachsende nie genug getan werden. Punkt, lange Pause! Es wird vieles getan, auch in Hamburg, der Stiftungshauptstadt in Deutschland. Wir dürfen aber nicht verharren, in dem, was wir bereits tun. Wir müssen um jedes einzelne Individuum kämpfen. Und wir müssen uns davon verabschieden, die Leute in Gruppen einzuteilen.

Welche Akteure außer den Stiftungen können zu Lobbyisten werden?

Bublitz: So konkret ist das für mich gar nicht benennbar. Die verschiedenen Organisationen, zu denen nicht zuletzt auch die Universität mit ihrer Forschung gehören, müssen sich ergänzen. Chancengleichheit benötigt passende institutionelle Rahmenbedingungen.

Trautmann: Die Stiftung Mercator hat einmal ausgerechnet, wie lange man mit der Summe aller Aufwendungen von Bildungsstiftungen tatsächlich „Schule“ finanzieren könnte: Es reichte gerade mal für Deutschlands Unterricht an einem einzigen Vormittag. Das sind im Vergleich also homöopathische Dosen. Aber wir brauchen auch diese Dosis unbedingt.

In welchen Branchen werden Menschen finanziell benachteiligt?

Bublitz: Wir haben das Einkommen von Sozialberufen mit dem von Berufen mit gleichwertigen Tätigkeiten verglichen. Es bestehen große Gehaltsunterschiede, d. h. Sozialberufe werden niedriger entlohnt. In einer Laborsituation haben wir zudem festgestellt, dass die Bereitschaft, für soziale Tätigkeiten mehr zu bezahlen, zwar vorhanden ist, aber dass die betroffenen Personen mit der Höhe der Ausgleichszahlungen nicht zufrieden sind.

Wie kann das anders werden?

Bublitz: Wir brauchen den Staat, der einspringt und Anreize schafft.

Die Unterschiede in der Gehaltsstruktur von Männern und Frauen spielen auch eine Rolle.

Bublitz: Genau. Wenn wir die unbereinigte Gehaltslücke anschauen, liegt sie statistischen Angaben zufolge bundesweit im Durchschnitt bei 21 Prozent. Der durchschnittliche Bruttoverdienst bei Frauen liegt bei 17,09 pro Stunde, bei Männern 21,60 Euro. Die Gehaltslücke ist zum Beispiel strukturell bedingt. Es kann eine Industrie geben, die gut zahlt und in der Männer überproportional vertreten sind. Vielleicht sind Frauen freiwillig in eine Niedriglohnbranche gegangen, weil dort Teilzeitarbeit leichter möglich ist. Es existiert aber weiter eine Lohnlücke, die sich damit nicht erklären lässt.

In welchen Berufen ist die Lücke besonders groß?

Bublitz: Untersuchungen des DIW zeigen, dass die größten Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen in Berufen mit einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis bestehen, zum Beispiel liegt der Unterschied im Bereich Unternehmensorganisation und -strategie oder dem Rechnungswesen, Controlling und der Revision bei 34 bzw. 35 Prozent. In Berufen mit einem hohen Frauenanteil wie der Arzt- und Praxishilfe sowie in Pflegeberufen liegt die Lohnlücke bei unter fünf Prozent.

Ist Deutschland wirklich ein Land der Chancengleichheit?

Bublitz: In Bezug auf die Gehaltslücke zwischen Männern und Frauen gibt es auf jeden Fall Länder, in denen die Gehaltslücke geringer ist als in Deutschland, zum Beispiel Belgien oder Norwegen.

Auf globaler Ebene ist Chancengleichheit Luxus. Es zählt doch das Recht des Stärkeren, siehe Donald Trump – oder?

Trautmann: Soziale Systeme können sich Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit leisten, wenn die Ökonomie mitspielt. Darüber hinaus aus ihrer Kultur, ihrem Budget und ihrem sozialen Zusammenhalt her. Der Rest ist sozialer Biologismus.