Hamburg. Zwei Experten legen dar, wie auch nicht behinderte Menschen von einer inklusiven Gesellschaft profitieren.

Wer nicht richtig sehen, sprechen oder laufen kann, steht im Alltag vor Herausforderungen – für Experten stellen aber nicht die Behinderungen der Menschen, sondern der Umgang der Gesellschaft mit ihnen das größte Problem dar. Die Professoren Annika Herrmann und Sven Degenhardt von der Universität Hamburg erklären, wie sich Barrieren mit intelligenter Planung beseitigen lassen – und welche Vorteile das auch Menschen ohne Behinderung bringt.

Hamburger Abendblatt: Wie lassen sich Barrieren überwinden?

Prof. Dr. Sven Degenhardt: Am wichtigsten ist das richtige Bewusstsein dafür, was eine Behinderung überhaupt ist. Wir haben sie über Jahrzehnte den Menschen zugeschrieben und die Betonung darauf gelegt, dass sie zum Beispiel nicht sehen, laufen oder hören können. Im Gegenteil ist es aber die Gesellschaft, die mit diesen Beeinträchtigungen nicht umgehen kann und die Betroffenen deshalb behindert.

Prof. Dr. Annika Herrmann: In der Wissenschaft hat sich die Definition von einer Behinderung bereits eindeutig von einem medizinischen zu einem sozialen und kulturellen Phänomen verschoben. Das ist im allgemeinen Bewusstsein noch nicht angekommen.

Was bedeutet das in der Praxis?

Degenhardt: Wir müssen auf die Möglichkeiten zur Teilhabe schauen. Die Lösung gibt uns die UN-Behindertenrechtskonvention gewissermaßen schon vor: Es darf niemand dadurch diskriminiert werden, dass ihm ein Zugang vorenthalten wird.

Herrmann: Bei Barrierefreiheit liegt erst einmal der Gedanke an Treppen oder Rampen für Rollstuhlfahrer nahe. Tatsächlich ist eine kommunikative Barrierefreiheit genauso wichtig.

Degenhardt: Wie berechtigt der Anspruch auf Teilhabe in allen Lebensbereichen ist, kann man auch im Umkehrschluss sehen. Jeder nicht beeinträchtigte Mensch geht ja zu Recht davon aus, dass er einen Film auch rezipieren und genießen kann, wenn er sich eine Kinokarte kauft. Für Menschen mit Beeinträchtigungen muss das absolut genauso gelten.

Wie weit sind wir als Gesellschaft bei dieser Gleichberechtigung?

Degenhardt: Wir haben uns auf den Weg gemacht, aber es gibt in so gut wie jedem Bereich noch viel Luft nach oben für Verbesserungen. Die USA können uns etwa bei der Überwindung der Barrieren in vielen Bereichen noch ein Vorbild sein. Gehen Sie dort etwa einmal in eine Bar – dann sehen Sie viele Monitore, auf denen ganz unterschiedliches Programm läuft, und im Hintergrund läuft Musik. Das funktioniert, weil es immer Untertitel gibt. Und im ersten Anlauf ist es aus dem Gedanken der Zugänglichkeit für Menschen mit Beeinträchtigungen entstanden – dann hat sich gezeigt, dass es auch für eine große Menge von Menschen komfortabel ist.

Herrmann: Tatsächlich kann die ganze Gesellschaft profitieren. Denn Menschen mit Behinderungen bringen eine andere Perspektive auf die Welt mit, die immer fruchtbar ist. Bei Tauben sind dies zum Beispiel die ausgeprägten visuellen Fähigkeiten, aber auch die Fähigkeit zur Körpersprache. Das kann man beispielsweise auch gezielt in Kursen mit Architekturstudierenden oder in Theaterproduktionen einbringen.

Die Erlebnismuseen „Dialog im Dunkeln“ und „Dialog im Stillen“ haben seit Jahren großen Erfolg in Hamburg. Interesse scheint also vorhanden zu sein.

Degenhardt: Wichtig ist, die Situation der Menschen mit Beeinträchtigungen nicht nur zu simulieren, sondern mit ihnen in Kontakt zu kommen. Diese Gespräche sind das, was nachhaltig ist.

Herrmann: Für mich ist eines der stärksten Argumente für mehr Kommunikation und ein Nachdenken über Barrierefreiheit, dass eine zugängliche Gesellschaft auch eine fröhliche Gesellschaft ist. Allein die Selbstironie und der Humor, den Menschen mit Beeinträchtigungen mitbringen, ist erfrischend.

Was müsste idealerweise zu einer barrierefreien Gesellschaft gehören?

Herrmann: Das fängt ganz sicher mit den baulichen Begebenheiten an, also mit markierten Treppenstufen und Brandschutzsignalen und Türschildern nach dem Zwei-Sinne-Prinzip. Auch Neubauten sind bislang nicht immer barrierefrei gebaut. Bei der kommunikativen Barrierefreiheit geht es um zugängliche Internetseiten, das Angebot von Gebärdensprache und zum Beispiel darum, Symbole zu verwenden, die nachvollziehbar sind.

Degenhardt: Zentral ist ein gewisses Umdenken. Wenn man immer nur die Probleme anguckt, läuft man den Problemen auch immer hinterher. Deutlich besser ist es, vorausschauend zu denken. Und das ist eine Gesamtaufgabe.

Im Einzelfall eine 100-prozentige Barrierefreiheit herzustellen klingt aber zumindest schwierig.

Degenhardt: Richtig, einige Barrieren ergeben ja auch Sinn. Etwa, dass die Plätze im Theater begrenzt sind oder es Straßensperrungen gibt. Diesem Argument, dass es Zugänglichkeit nur selten wirklich unbegrenzt gibt, begegnen wir oft. Das darf aber doch nicht bedeuten, dass man es deswegen gleich sein lässt. Wenn man etwa bei Bauten nicht an Barrierefreiheit denkt, sind das auch Entscheidungen, die für mehrere Jahrzehnte dann buchstäblich in Stein gemeißelt sind.

Hat der Staat den Gedanken bei großen Bauprojekten bereits verinnerlicht?

Degenhardt: Gesetzlich hat Barrierefreiheit bereits genau denselben Stellenwert wie etwa der Brandschutz, und das ist gut so. In der Realität bildet sich das aber nicht immer ab. So wird etwa der neue Berliner Flughafen nicht eröffnet, weil der Brandschutz nicht ausreicht – in der Elbphilharmonie darf man dagegen fleißig über Treppen laufen, die im Sinne der Barrierefreiheit nicht zulässig sind. Und von Barrieren dieser Art sind auch ältere Menschen im Allgemeinen betroffen. Wir sind immer noch dabei, dafür ein Bewusstsein zu schaffen. Die Sanierung des Rathauses ist dagegen ein Beispiel, wie es gehen kann – auch in Verbindung mit dem Denkmalschutz.

Welche Erlebnisse beschäftigen die Betroffenen im Alltag am meisten?

Herrmann: Die Erfahrung ist immer wieder, dass alles begrenzt und im Einzelfall verhandelt wird. Wenn etwa ein Mensch eine bestimmte Veranstaltung in einem bestimmten Gebäude nicht besuchen kann, wird in dem Rahmen Abhilfe geschaffen. Sobald aber die nächste Veranstaltung in einem anderen Gebäude stattfindet, geht es wieder von vorn los. Es wird erwartet, dass die Personen sich selbst um alles kümmern. Das birgt auch ein gewisses Frustpotenzial. Es wäre schon ein ganz wichtiger Schritt, wenn häufiger von vornherein und ohne Nachfrage an Barrierefreiheit gedacht wird.

Beim Thema Inklusion hat die Stadt etwa bei den Schulen viele Prozesse in Gang gesetzt. Gleichzeitig klagen Lehrer darüber, dass es zu wenig Fachkräfte vor Ort gibt – oder sie mit den Beeinträchtigungen der Schüler überfordert sind.

Degenhardt: Ich glaube, auch bei diesem Thema ist ein Blick in andere Länder sinnvoll. Und dort stellt man im Vergleich fest, dass wir eine hervorragende Lehrerbildung und viel fachliches Potenzial haben. Wir sind aber auch gleichzeitig sehr ungeduldig. Und wir sollten wesentlich mehr Varianten ausprobieren, die zwischen den Extremen von strikt getrennten Sonderschulklassen und dem Modell von „einer Klasse für alle“ liegen. Im Ausland werden etwa Kinder mit Beeinträchtigungen zwar im Klassenverbund mit den anderen Kindern unterrichtet, aber belegen nicht alle Fächer. Das ist völlig angemessen, weil der Bildungsbedarf oft unterschiedlich ist.

Herrmann: Es braucht auch eine gewisse Zeit, bis die Inklusion in Schulen Ergebnisse liefert und die Vorteile sichtbar werden. Es gibt Umfragen, etwa von „Aktion Mensch“, dass das Potenzial bereits jetzt erkannt wird. Man darf nie vergessen, dass es bei Schule auch nicht nur um Fachwissen, sondern zum Beispiel um Sozialkompetenz geht. Die wird in einem barrierefreien und inklusiven Umfeld deutlich gefördert.

Auf dem Arbeitsmarkt gilt dagegen der Leistungsgedanke. Gibt es eine gute Bereitschaft der Unternehmen, mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu arbeiten?

Degenhardt: Wir haben zumindest auch dort ein klares Rechtssystem und klare Regeln, wie Arbeitsplätze gestaltet werden müssen. Es gibt aber auch noch große Diskussionsfelder, etwa Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Sie ermöglichen, dass auch Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen eine Beschäftigung haben, die nah an ihren Möglichkeiten ist. Auf der anderen Seite erhalten sie kein richtiges Gehalt und sind nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Inklusion auf dem Ar­beitsmarkt ist auch eine gesellschaftliche und politische Frage: Was kann ich Un­ternehmen vorschreiben, wie sozial soll unsere soziale Marktwirtschaft tatsächlich sein? Auch dem müssen wir uns stellen. Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen liegt bei zwölf Prozent; das kann uns nicht zufriedenstellen.

Herrmann: Dies kommt stark auch auf die individuellen Bedarfe und Fähigkeiten an. An unserem Institut als universitärer Arbeitgeber ist es beispielsweise natürlich so, dass taube Menschen schon viele Fähigkeiten mitbringen, die wir im Team auch benötigen und besonders schätzen. Wir definieren uns gerade über diese gleichberechtigte Zusammenarbeit. Das ist eventuell nicht überall so einfach, aber möglich.

Hilft der rasante technische Fortschritt, Barrieren zu überwinden?

Degenhardt: Prinzipiell durchaus. Das ist aber auch eine Frage der Umsetzung. So kann auch eine Sprachausgabe nicht beschreiben, wie ein Foto im Internet aussieht, wenn es keinen richtigen Alternativtext gibt. Dieser Prozess, Inhalte besser zu erklären und die Darstellung zu hinterfragen, kann auch inhaltlich sehr wertvoll sein. Wenn man etwa in einem wissenschaftlichen Beitrag merkt, dass man drei DIN-A4-Seiten an Text bräuchte, um eine Abbildung zu erklären, weiß man, dass die Grafik offenbar gar nicht sinnvoll ist – auch wenn man sie mit den Augen erkennen kann. Außerdem geht es um die Verbreitung von Medien.

Was meinen Sie?

Degenhardt: Wenn man heutzutage eine CD oder eine Schallplatte kauft, ist meistens bereits ein digitaler Download inklusive. Warum wird das nicht auch an anderer Stelle umgesetzt? Die Gesellschaft und jeder Konsument gewinnt doch, wenn etwa ein Buch immer möglichst als gedruckte Ausgabe, als Hörbuch und als E-Paper verfügbar ist. Ein Mensch ohne Behinderung kann sich das Kochbuch, das er sich gekauft hat, dann bequem vorlesen lassen, während er am Herd steht. Und Menschen, die wegen ihrer Beeinträchtigungen auf eine bestimmte Darstellung angewiesen sind, müssen dafür keinen riesigen Aufwand mehr betreiben.

Erfolge beim Thema Barrierefreiheit werden meist auch von der Politik hervorgehoben. Sehen Sie eine Gefahr, dass sich zu früh eine Zufriedenheit einstellt?

Herrmann: Ich glaube, wenn man das Bewusstsein für das Thema verinnerlicht und einen wachen Blick hat, merkt man immer wieder schnell, dass noch etwas fehlt. Letztlich sind dann der Staat und Institutionen, aber auch jeder einzelne gefordert, das im Blick zu behalten.

Degenhardt: In vielen Bereichen ist das Thema präsent. Und eine Zufriedenheit ist auch legitim, wenn sie nicht dazu führt, dass wir uns dabei in den Sessel der Untätigkeit zurückbegeben. Die Differenz zwischen der Verlautbarung und der Umsetzung im Handeln muss bei der Barrierefreiheit noch geschlossen werden – das ist sehr ähnlich wie beim Umweltschutz. Wir sollten als Gesellschaft gemeinsam dafür sorgen, dass wir Geschwindigkeit aufnehmen.​