Hamburg. Polizei analysiert Verschwinden von 350 Menschen neu. Suche soll effizienter werden. Scharfe Kritik von Ermittlern an Mängeln.

Auf der Internetseite der Hamburger Polizei gibt es unter „Vermisste Personen“ gerade einmal zwei Einträge: Gesucht werden ein 76 Jahre alter Rentner aus Wandsbek und ein 35-jähriger Mann aus Langenhorn, beide seit Kurzem spurlos verschwunden. Für die Ermittler zwei zu klärende Schicksale – aber eine kleine Aufgabe im Vergleich zu den 350 weiteren ungelösten Vermisstenfällen, von denen nun im Präsidium die Rede ist. Die über Jahre und teils Jahrzehnte nicht bearbeitet und sträflich vergessen wurden, wie mehrere Ermittler sagen.

Eine Arbeitsgruppe hat den Bestand der Altfälle gesichtet. Die Beamten sollen dafür sorgen, dass die Abläufe bei der Polizei verbessert werden und die Angehörigen von Vermissten Klarheit finden. Bei den betroffenen Vermissten soll es sich nahezu ausschließlich um Erwachsene handeln. Dies hängt laut Beamten auch mit der Schnelligkeit in solchen Fällen zusammen.

„Wenn ein Kind vermisst wird, können wir sofort alle Hebel in Bewegung setzen“, sagt Jan Reinecke, Landesvorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Das Verschwinden der zehnjährigen Hilal im Jahr 1999 führte etwa zu der größten Suchaktion der Hamburger Nachkriegsgeschichte. Bei Volljährigen müssen die Angehörigen dagegen teilweise sogar abgewiesen werden, weil es (noch) keinen konkreten Anhaltspunkt auf eine Straftat gibt – und die Vermissten etwa nicht auf Medikamente angewiesen sind. „Erwachsene haben ein Recht, auf Wunsch zu verschwinden. Das macht es für uns als Polizei schwer“, so Reinecke.

Ehemaliger Soko-Chef wies auf Missstände hin

Wenn ein Verfahren eingeleitet wird, landet es bislang auf dem Schreibtisch eines regional ermittelnden Beamten des Landeskriminalamtes. Dieser soll in der Theorie für eine Spurensicherung sorgen, die Daten in lokalen Datenbanken pflegen und mit einer bundesweiten Zentraldatei abgleichen. Nur haben sich in der Praxis über Jahre offenbar schwere Versäumnisse ergeben.

„Es gab zwischenzeitlich Hunderte Menschen, die zwar noch zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben waren, aber in anderen Datenbanken nicht auftauchten“, sagt ein Beamter. Er vermutet, dass unter den 90 in Hamburg gefundenen unbekannten Toten der letzten Jahrzehnte auch Personen von der Vermisstenliste stehen. Auch ein Polizeisprecher wollte das auf Nachfrage nicht ausschließen, da bei vielen Vermissten eine DNA-Spur für den Abgleich fehle.

Der inzwischen abgesetzte Chef der Soko „Cold Cases“, Steven Baack, hielt bereits im Frühjahr 2017 drastische Änderungen für notwendig – das belegen interne Dokumente, die dem Abendblatt vorliegen. Baacks Recherchen zufolge soll in einer Mehrheit der Verfahren kaum intensiv recherchiert worden sein. Ein Polizeisprecher bestätigte, dass nur in zehn Prozent der Fälle eine DNA-Spur oder Zahnabdruck ermittelt wurde. Dies liege aber auch daran, dass ein Teil der Vermissten mutmaßlich bei Naturkastastrophen oder Unfällen auf See starben und deshalb keine Leiche gefunden wurde.

BKA: 50 Prozent der Fälle innerhalb einer Woche aufgeklärt.

Wie es von anderen Ermittlern heißt, werde im Alltag auch aus Erfahrung nicht immer mit größtem Aufwand ermittelt. „Der Normalfall ist eindeutig so, dass der oder die Vermisste quicklebendig ist und sich bald von selbst meldet“, so ein Beamter. Nach Angaben des Bundeskriminalamts werden 50 Prozent der Vermisstenfälle bereits innerhalb einer Woche nach dem Verschwinden aufgeklärt. Innerhalb eines Monats werden 80 Prozent der Schicksale geklärt – lediglich nach drei Prozent der Betroffenen muss länger als ein Jahr gesucht werden.

"Vermisst! Wir suchen Hilal Ercan" ist am 27.01.2018 in Hamburg an einem Einkaufszentrum in Lurup zu sehen. Sie soll am Ort des Verschwindens der 1999 zehn Jahre alten Hilal mögliche Zeugen ermutigen, sich mit Aussagen an die Polizei zu wenden. © picture alliance / Markus Scholz | dpa Picture-Alliance / Markus Scholz

„Die katastrophale Personalsituation im LKA ist hinlänglich bekannt. Man kann den Kollegen ihre Überlastung nicht vorwerfen“, sagt der BDK-Vorsitzende Reinecke. Dass die neu eingehenden Vermisstenfälle bislang nicht zentral bearbeitet würden, berge aber weitere Risiken, heißt es. „Wenn es unter den Vermissten etwa ein halbes Dutzend Frauen gäbe, die alle dieselbe Frisur haben, im selben Alter sind und dasselbe Hobby haben, würden wir dieses Muster sehr wahrscheinlich nicht erkennen“, so ein Ermittler.

Ehemaliger Soko-Chef Baack schlägt Ampelsystem vor

Ein anderer Beamter sagt, dass viele der Handakten zu Einträgen im elektronischen Polizeisystem unvollständig seien oder sogar ganz fehlten. Die Einrichtung eines neuen Sachgebietes im Hamburger Landeskriminalamt ist auch der zentrale Vorschlag der bisherigen Arbeitsgruppe.

Die Polizei legt zudem Hoffnung darauf, dass es seit Mai 2019 möglich ist, auch DNA-Spuren von Angehörigen der Vermissten mit deren Erlaubnis zu nehmen und etwa mit den unbekannten Toten zu vergleichen.

Wie schwierig sich die Aufklärung der alten Fälle trotz eines hohen Aufwandes gestaltet, ist aber auch an den Ermittlungen im Fall der vermissten Hilal zu sehen. Nachdem mehrere polizeiliche Grabungen erfolglos blieben, will die Familie des Mädchens einen Hilfsverein gründen, um Geld für Maßnahmen auf eigene Faust zu sammeln. Der Bruder des Mädchens will unter anderem speziell ausgebildete Spürhunde aus dem Ausland holen, um erneut im Volkspark zu suchen. Auch von der Hamburger Polizei heißt es, sie werde in diesem Fall „nicht lockerlassen“.