Hamburg. Der Orthopäde Dr. Matthias Soyka über Rückenschmerzen, Mythen bei Sportverletzungen und sehr spezielle Patienten.

Als die Patientin zu Dr. Matthias Soyka ins Untersuchungszimmer kam, war die Lage schnell klar. Nur die Frau wollte es nicht wahrhaben. Beim Tennis war sie umgeknickt. „Es wird schon nichts sein“, sagte sie zu dem Bergedorfer Orthopäden und Sportmediziner. Nur kurz auf den Fuß gucken. Mal abklären, diese Geschichte. Soyka sagte dem Abendblatt: „Ich konnte schon durch die Strümpfe sehen, dass sie sich Innen- und Außenknöchel gebrochen hatte. Das Röntgenbild bestätigte die Diagnose, sie musste operierte werden.“

Von „Wird schon nichts sein“ bis zu „Da ist bestimmt was gebrochen“ reicht das Spektrum der Patienten-Wahrnehmung von Schmerz, wenn die Psyche unsere Verletzungen beeinflusst. Da sind die Bagatellisierer und die Hypochonder. Auch nach Jahrzehnten als Arzt und Schmerztherapeut ist Soyka immer wieder verblüfft, wie Patienten mit ihren Malaisen bei ihm buchstäblich „auftreten“.

Fuß gebrochen: Das hätte die Patientin selbst diagnostizieren können

Die Frau mit dem gebrochenen Fuß wollte schnell auf den Tenniscourt zurück. Dabei war sie selbst vom medizinischen Fach. „Sie hätte eigentlich die Diagnose selbst stellen können. Aber ihr unbedingter Wunsch, dass nichts gebrochen sein sollte, verhinderte, dass sie ihr Wissen nutzte und senkte allerdings auch ihren Schmerz.“

Nach „Wahnsinn Wartezeit“ hat Soyka wieder ein Buch geschrieben: „Dein Rückenretter bist du selbst“. Es enthält sinnvolle Übungen und die Antworten auf die drängendsten Fragen der Patienten mit „Rücken“, die diese sich zuerst selbst stellen sollten, ehe sie 112 wählen oder 116 117 oder in die Notaufnahme eines Krankenhauses humpeln. Oder– noch schlimmer – zu Hause unlustig drauflosgoogeln. „Suchmaschinen-Panik“ nennen Experten diese Psycho-Attacke.

Manch Bandscheibenvorfall fällt erst im MRT auf

Und wieder bricht Soyka mit Mythen um den Schmerz und seine Erscheinungsformen. Die Beschwerden auf null drücken? Das sei nicht wirklich machbar. Aber nicht jeder Muskelkater von der Gartenarbeit sei gleich ein Notfall. Allerdings: Manch Bandscheibenvorfall fällt erst bei der Magnetresonanztomografie (MRT) in der Röhre auf. Umgekehrt müsse man sich auch als Arzt eingestehen: „Diese Untersuchung war jetzt überflüssig.“ Als Arzt weiß man offenbar selten genau, ob jetzt das ganz große Besteck hermuss oder ein aufmunternder Satz reicht.

Der Knochen- und Muskel-Patient lebt in einem Kosmos voller Halbwahrheiten. Fußballprofis und ihre nicht immer rein wissenschaftlich unterlegten medizinischen Abteilungen geben den Takt vor. Bänderriss am Fuß? Sechs Wochen Pause. „Ballack-Wade“? Ein Spiel aussetzen. Kreuzbandriss im Knie? Nach sechs bis acht Monaten geht wieder Champions League. So denken auch Hunderttausende Hobbysportler in Hamburg. Viele von ihnen schlagen bei Soyka auf.

Bänderriss, Kreuzbandruptur und "Ballack-Wade"

Bänderrisse wurden früher operiert. Soyka sagt: „Nachdem eine Studie Anfang der neunziger Jahre überzeugend nachwies, dass die Bänderrisse sehr gut mit einer funktionellen Schiene behandelt werden können, ist die Therapie fast immer konservativ.“ Aber er warnt: „Die jungen Assistenzärzte sind heute oftmals nicht mehr so aufmerksam gegenüber der Diagnose Bänderriss – jetzt wird er häufiger übersehen und dann auch nicht mit einer Schiene behandelt.“

Die „Ballack-Wade“ – nun ja – das ist vermutlich eine psychische Geschichte. Mehrmals vor großen Spielen vor allem bei der Nationalmannschaft hatte deren Ex-Kapitän Michael Ballack ein Zwicken an der Wade. Er verpasste unter anderem das Eröffnungsspiel der WM 2006 in München. Danach: ein reines Sommermärchen.

Aber ein Riss des Kreuzbandes im Knie ist für Fußballer wie Skifahrer eine erhebliche Verletzung. Soyka meint: „Nach einer Kreuzbandplastik sollte man nicht vor einem Jahr wieder Fußball oder Handball spielen. Ich würde sogar eher zwei Jahre warten.“ Vielen sei nicht klar, dass sie mit einer Kreuzbandruptur auf einer Seite auch ein höheres Risiko für einen Riss am anderen Knie und für einen erneuten Riss am operierten Knie haben. „Das gilt vor allem für Frauen, die bezogen auf die Sportstunden ein etwa siebenmal höheres Risiko haben, sich ihr Kreuzband zu reißen als Männer.“

Diclofenac wird bei Schmerzen schnell verschrieben

Gerade im Profifußball ist auch der Druck größer, schnell auf den Platz zurückzukehren. Da werden die Reha-Zeiten zusammengestaucht. Und wenn’s zwickt, ist schnell ein Schmerzmittel zur Stelle. Der ehemalige Profi des FC St. Pauli und von Werder Bremen, Ivan Klasnic, weiß ein Lied davon zu singen. Er bekam in Bremen über einen langen Zeitraum Diclofenac gegen die Schmerzen. Am Ende musste er sich mehrmals einer Nierentransplantation unterziehen.

Auch die Sportler in Freizeitligen hassen die Zwangspausen. Selbst bei den Amateuren herrsche eine „Alles muss sofort passieren“-Mentalität. Diese Zalando-Erwartung von unmittelbarer „Lieferung“ der medizinischen Leistung sei gegen die Naturgesetze, sagt Soyka. „Die moderne Medizin kann Strukturen zum Beispiel durch Nähte wieder zusammenfügen, damit das Ergebnis möglichst perfekt wird – die Heilungszeit einer Wunde oder eines Knochenbruchs ist aber immer noch genauso lang wie in der Steinzeit. Die Zellen wachsen nicht schneller, nur weil man wieder auf den Platz will.“

Soykas Kollege Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (FC Bayern München und Nationalmannschaft) und der Star-Physiotherapeut Klaus Eder haben jüngst im „Spiegel“ beklagt, dass viele moderne Heiler Fußballer oft nur nach den „Bildern“ behandeln, also nach dem, was sie auf den Aufnahmen von Verletzungen sehen. Jede zweite MRT-Diagnose sei falsch. Das bemängelt Soyka im Kern ebenfalls. „Muskelverletzungen werden bei Hobbysportlern vermutlich wirklich zu häufig nicht richtig gesehen und behandelt.“

Knorpelschaden im Knie: oft übertherapiert

Ebenso würden Knorpelschäden am Kniegelenk mit MRT-Diagnostik möglicherweise zu häufig diagnostiziert und öfters „operativ übertherapiert“. Allerdings: „Mit dem MRT lassen sich sehr gut Knochenmarködeme diagnostizieren, das ist eine pathologische Flüssigkeitsansammlung im Knochenmark zum Beispiel in Folge von Prellungen.“ Bevor es das MRT gab, galten diese Patienten als Simulanten.

In Soykas Rückenretter-Buch heißt es zur neuen Volkskrankheit, dass man mit Volksweisen zu den möglicherweise komplexen Beschwerden radikal aufräumen muss. Die alte Idee vom heißen Bad bei Rückenweh gehöre in den Abfluss der Gesundheitslegenden. „Ich kenne eine ganze Reihe von Patienten, die den ärztlichen Notdienst oder in einigen Fällen sogar die Feuerwehr bemühten, um wieder aus der Wanne herauszukommen.“ Wenn heiß, dann Dusche.

Soyka-Fans vermissen im neuen Buch eine Anekdote über die in „Wahnsinn Wartezeit“ ausführlich beschriebene Latte-Macchiato-Patientin Lautsprecher-Schrullenberger. Sie hält die ganze Praxis in Atem mit ihrem medizinischen Halbwissen und Empfehlungen zur Organisation der Behandlung. Die Leser werden sich gedulden müssen. Nicht auszuschließen, dass der Bergedorfer Orthopäde noch einen Arzt-Roman schreibt.

Dr. Matthias Soyka: Dein Rückenretter bist du selbst. Ellert & Richter Verlag, 171 Seiten, 14,95 Euro.

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