Die Beschwerden rund um die Wirbelsäule breiten sich epidemisch aus. Woran das liegt, welche neuen Behandlungsmethoden Erfolg versprechen, was die wichtigsten Hamburger Experten tun und welche Übungen man selber machen kann: eine neue Serie von Marc Hasse, Christoph Rybarczyk, Yvonne Weiß und Cornelia Werner.

Volkskomiker Hape Kerkeling hat in seiner Kunstfigur Horst Schlämmer das menschliche Desaster einer Volkskrankheit auf den Punkt gebracht: „Schätzelein, isch habe Rücken.“ Kerkeling, Pardon: Schlämmer schleppte sich sabbernd und nuschelnd durch die Gegend, offensichtlich gezeichnet von einem Leiden, das fast jeder Zuschauer nur allzu gut kennt. Schlämmers Rücken war ein Mega-Erfolg. Selten war die Empathie mit einem Darsteller größer. Zwischen Scherzen und Schmerzen liegt manchmal nur ein pointiert gesetzter Buchstabe.

Es ist ein oft diffuser Schmerz irgendwo zwischen Nacken und Po. Wo er genau sitzt? Schwer zu sagen. Mal kommt er stechend, mal breitflächig drückend. Ab und an strahlt er in die Beine, die Arme – und manchmal auch tief in die Seele. Bei einigen Patienten ist er immer da, bei anderen nur ein Begleiter bestimmter Bewegungen. „Ich habe Rücken“ ist ein knappes Synonym geworden, eine Erklärung oder Entschuldigung für einen Befund, der eigentlich aufwendiger medizinischer Bulletins bedarf.

"Rücken" ist das Leiden des digitalen Zeitalters

Der Satz kommt den Patienten leichter über die Lippen, als es die zahllosen Möglichkeiten erahnen lassen, die verantwortlich sein können dafür, dass es ein Kreuz ist mit dem Kreuz. Dass das Laufen und Hüpfen, mitunter schon das Sitzen, Stehen, Liegen zur Qual werden kann.

„Rücken“ ist das Leiden des digitalen Zeitalters. Sicherlich hatte schon der Homo erectus „Rücken“. Denn aufrecht dem wilden Tier hinterherrasen, den Speer umklammern und im richtigen Moment werfen – das geht auf die Wirbelsäule. Und wie litten erst die Pyramidenerbauer in Ägypten oder die Sänftenträger der römischen Cäsaren! Selbst der Glöckner von Notre-Dame war Rückenpatient, wie wir wissen. Ganz zu schweigen von den Kumpels im Bergbau, Stahlkochern und Fließbandarbeitern des industriellen Zeitalters.

Besonders schlimm, das kristallisiert sich allmählich heraus, trifft es heute diejenigen mit überschaubaren körperlichen Bewegungen: die Computerarbeiter und, ja, wie Horst Schlämmer auch die Journalisten.

Das Sitzen ist das neue Rauchen, heißt es. „Rücken“ ist so etwas wie die Metastase einer streuenden Bewegungsarmut. Krebsartig breitet sich das Leiden aus. Dabei trifft es nicht nur die von Natur aus Schwerfälligen, sondern die „Mover und Shaker“ genauso. Das sind die hyperaktiven Macher, Workaholics mit durchgetakteter Freizeit, Fitness und Aktivferien. Keine gestählte Muskulatur, kein noch so perfekter Body-Mass-Index schützt vor „Rücken“.

Was tun die Ärzte bei "Rücken"? Nichts!

Rückenschmerzen: Das kann der Orthopäde leisten

weitere Videos

    Und so hat sich neben der Armee an Orthopäden, Chirurgen, Radiologen, Physiotherapeuten und sonstigen Reparateuren eine wahre Rücken-Industrie herausgebildet. Irgendwann muss sich jeder Deutsche in ihr Reich begeben. Nicht gefühlt, sondern gemessen. „Fast jeder Mensch leidet mindestens einmal im Leben an Kreuzschmerzen“, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Die Experten haben für alles Statistiken.

    Und was tun die Ärzte, wenn wir zum ersten Mal mit „Rücken“ zu ihnen kommen? Nichts! Und das geben sie uns auch schriftlich. Denn da gibt es die „Nationale VersorgungsLeitlinie Nicht-spezifischer Kreuzschmerz“. Orthopäden und Unfallchirurgen haben sie gerade aktualisiert, wie sie auf ihrem jüngsten Kongress im Oktober verkündeten. „Die beste Therapie bei nicht spezifischen Schmerzen ist Bewegung“, sagt Prof. Dr. Bernd Kladny, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. Heißt: Der Patient muss aktiv werden.

    Ein großes Missverständnis zwischen Heiler und Patient

    Dass die Ärzte leitlinientreu nichts tun, ist natürlich eine böse Übertreibung. Tatsächlich aber haben sie gute Gründe für ihr Vorgehen. Zur ersten Behandlung gehört eine ausführliche Befragung, eine Untersuchung des Körpers und der schmerzhaften Bereiche. Prof. Kladny sagt: „Wir überprüfen gezielt mögliche Warnzeichen, die auf eine abwendbare gefährliche Erkrankung als körperliche Ursache für den Schmerz hindeuten.“ Aber: Bei 85 bis 90 Prozent der Patienten ließen sich diese Warnzeichen nicht finden.

    „Dann brauchen wir auch zunächst keine bildgebende Untersuchung wie Röntgen oder Magnetresonanztomografie“, sagt Kladny. Wenn der Patient sich gar nicht bewegen kann, um die Heilung voranzutreiben, gibt es Schmerzmittel oder Entzündungshemmer. Kladny: „So verschwinden die meisten akuten nicht spezifischen Kreuzschmerzen nach vier bis sechs Wochen auch wieder.“

    Das zu hören mag ein Schock sein für die, die sich mit quälenden Schmerzen in die Praxen oder in die Notaufnahmen der Krankenhäuser schleppen. „Wie? Jetzt wird nicht das große Instrumentarium der modernen Medizin in Bewegung gesetzt, um mich zu heilen?“ Nein, in der Regel nicht. Es ist der Beginn des großen Missverständnisses zwischen Heilern und Patienten bei „Rücken“.

    Der Hamburger Orthopäde Dr. Matthias Soyka meint mit jahrzehntelanger Erfahrung über den Hexenschuss, im Fachjargon „Lumbago“ genannt: Früher habe man eben einfach ein ABC-Pflaster drübergeklebt und gewartet. Ein paar gezielte Übungen – und der Hexenschuss sei bald vergessen. Heute läuft eine ärztliche Maschinerie an. Die Patienten erwarteten das auch.

    "Das ist eine Epidemie"

    Im Frühjahr erscheint nach „Wahnsinn Wartezeit“ bei Ellert & Richter Soykas neues Buch. Er verrät vorab, dass er Rückenschmerz nicht bloß für eine Volkskrankheit hält. „Das ist eine Epidemie.“ Einst hieß es: „Du bist doch viel zu jung für Rückenschmerzen.“ Soyka meint: „Dieser burschikose Umgang war möglicherweise besser und führte zu einer schnelleren Genesung als die Aufgeregtheit von heute.“

    Denn was passiert in der Notaufnahme oder in einer Praxis? „Oftmals wird dort nur ein Medikament verschrieben und der Patient in ein paar Wochen wieder einbestellt. Was soll das?“ Orthopäden von heute seien vorrangig operativ ausgebildet und wüssten mit manueller Therapie und Chirotherapie kaum etwas anzufangen. „Die zu niedrige Honorierung der Praxisärzte und der Zeitfresser Bürokratie sind weitere Gründe dafür, dass heutzutage die Rückenbehandlung in den Praxen im Durchschnitt nicht mehr die Qualität der 70er- und 80er- Jahre erreicht.“

    Was, wenn der „Rücken“ auch nach vier bis sechs Wochen noch immer akut ist? Dann haben Deutschlands führende Orthopäden und Unfallchirurgen die „Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz“ für uns. Geht der Schmerz auch bei Bewegung nicht von allein, solle man „prüfen, ob es nicht doch einer Bildgebung bedarf“. Ein Bild von einem „Rücken“ macht ein Röntgengerät, ein Ultraschall, ein Computertomograf (CT) oder ein Magnetresonanztomograf (MRT), der auch „Kernspin“ genannt wird. Je nachdem, was der Arzt vermutet, werden die Geräte zur „Bildgebung“ hintereinander eingesetzt.

    Hier kommen die Radiologen ins „Rücken“-Spiel. Von ihnen dachte man früher, sie verdienen mit ihren gewaltigen Röhren-Apparaturen das meiste Honorar aller Ärzte und sind doch nur medizinische Fotografen. Das ist längst als Legende entlarvt. Davon abgesehen, dass alle Arztgruppen um schwindende Honorare kämpfen, leisten Radiologen heute Erstaunliches. Auch dank besserer Technik durchleuchten sie quasi mikroskopisch unsere Körper. Sie finden an der Wirbelsäule minimale Schäden, kleinste Verformungen und winzige Tumoren, die man im frühen Stadium noch gut behandeln kann. „Rücken“ ist weit mehr als eine mechanische Krankheitsgeschichte, in die ein Skelett und ein paar Muskeln involviert sind.

    Wenn die "Rücken"-Maschinerie anläuft

    Die „Leitlinie Spezifischer Kreuzschmerz“ sucht nach möglichen organischen Ursachen für das Leiden am Kreuz, wenn es also vielleicht von den Nieren herrührt. Sie fragt nach dem Verschleiß der Wirbelbogengelenke oder der Bandscheiben, nach den Knochenkanälen, nach Wirbelgleiten und den Blockaden, die irgendwo zwischen Knochen, Muskeln und Faszien liegen können. Hier kann der Schmerz seine Ursache haben. Muss aber nicht. Bei älteren Patienten taucht die berüchtigte Spinalkanalstenose auf. Wenn sich die Wirbelsäule durch Verschleiß verändert, kann der Wirbelkanal eingeengt werden. Dadurch entsteht Druck auf die Nerven, die schlechter durchblutet werden. Der Schmerz strahlt in Arme und Beine aus, Lähmungen können die Folge sein.

    Prof. Kladny von der Fachgesellschaft sagt: „Wichtig ist immer, dass der Befund der Bildgebung zusammen mit Vorgeschichte, Symptomen und klinischem Befund des Patienten gewertet wird. Nur dann lässt sich Kreuzschmerz erklären, Bilder allein sagen wenig.“

    Und hier muss der Patient kurz innehalten. Da ist ein Orthopäde, der vielleicht erst „nichts“ macht, nach vier bis sechs Wochen einen Radiologen bemüht. Der bespricht die Bilder und gibt eine Empfehlung ab, die wiederum der Orthopäde nicht teilen muss. Die „Rücken“-Maschinerie rollt weiter mit Physiotherapie, Operation oder dem Zurücküberweisen an den Hausarzt. Eventuell auch mit – nichts. Nirgendwo wird der Patient mit vielen Meinungen so alleingelassen wie hier. „Um Kreuzschmerzen effektiv zu behandeln, braucht es einen klar festgelegten stringenten Plan“, sagt Prof. Dr. Dr. Werner Siebert. Beim Kongress der Orthopäden und Unfallchirurgen im Oktober war er einer der Präsidenten.

    Für 2019 plant der Bund ein neues Behandlungsprogramm

    Bei Volkskrankheiten wie Diabetes oder Asthma zum Beispiel gibt es sogenannte Disease-Management-Programme (DMP). Hier durchlaufen Patienten klare Strukturen. Erstaunlicherweise hat sich die Große Koalition von Union und SPD in Berlin erst im Jahr 2018 darauf geeinigt, dass es das bei „Rücken“ künftig auch geben soll. So steht es im Koalitionsvertrag. Derzeit verhandelt der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) von Ärzten, Krankenkassen, Kliniken, Patientenvertretern und Experten über ein DMP für chronische Rückenerkrankungen. Das kann noch dauern. Vor die Heilung haben die Götter die Bürokratie gesetzt.

    Gesundheitsexperten wie der Bundestagsabgeordnete Alexander Krauß, CDU-Mann wie Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, rechnet mit einem Ergebnis bis Frühjahr 2019. „Der Gemeinsame Bundesausschuss muss hier zügig liefern.“ Erschütternd, dass kein Minister bislang das Thema zur Chefsache gemacht hat. Dabei spielen gerade in der Gesundheitspolitik viele Nullen eine große Rolle. Bei „Rücken“ geht es um Milliarden.

    Immer mehr Frühverrentungen wegen Rückenleiden

    Deutschlands Wirtschaft lahmt, wenn das Kreuz der Arbeitnehmer streikt. Die größte Krankenkasse, die Techniker, sieht drei überragende Gründe für die durchschnittlich 15,1 Fehltage pro Arbeitnehmer im Jahr 2017: Atemwegserkrankungen – also zum Beispiel Husten, Schnupfen, grippale Infekte –, Krankheiten am Bewegungsapparat sowie psychische Leiden, vor allem Depressionen. Bei den Bewegungseinschränkungen klar vorn und deshalb in einem Sonderkapitel des TK-Gesundheitsreports gewürdigt: Rückenschmerzen, vor allem Bandscheiben-Weh. Man kann laut TK davon ausgehen, dass fast jeder zehnte aller Fehltage hierzulande auf „Rücken“ zurückgeht.

    Rund zwölf Prozent aller Deutschen, die krankheitsbedingt vorzeitig in Rente müssen, gehen wegen Muskel- und Skeletterkrankungen. „Rücken“ belastet im Kleinen: Wer früher in Rente muss, erhält auch weniger Altersbezüge. „Rücken“ belastet im Großen: Volkswirtschaftlich ist der „Schaden“ immens. Es fehlt eine Arbeitskraft, die produktiv ist, Geld verdient, Steuern zahlt und in die Rentenkasse noch Beiträge abführt. Wieder einer weniger, der die ohnehin steigende Zahl an Ruheständlern mitfinanzieren kann. „Rücken“ ist am Ende vermutlich sogar ein Billionen-Euro-Problem.

    Fitnesshochburg Hamburg: Ja, aber ...

    In der Fitnesshochburg Hamburg sieht es im Bundesländervergleich besser aus. Wie die Techniker Krankenkasse ermittelt hat, ist die Zahl der Fehltage wegen Rückenerkrankungen nur in Baden-Württemberg und Bayern noch niedriger. 7,9 Prozent rückenbedingte Krankheitstage bedeutet für die Hamburger einen guten Wert im Bundesdurchschnitt (8,8). Wo sieht die Kasse in ihrem gewaltigen Daten-Pool die schlimmsten Treiber von Rücken-Malaisen? Im schlaffen Menschen. Wer sich nicht körperlich regt, steuert auf „Rücken“ zu.

    Dabei beobachtet die TK in ihrer Bewegungsstudie einen „leichten Aufwärtstrend“ hin zu mehr sportlicher Aktivität in Deutschland. Nur noch knapp jeder zweite Deutsche nennt sich Sportmuffel oder Anti-Sportler. In Norddeutschland kann sich demnach jeder Vierte nicht zum Radeln oder Gehen aufraffen und nimmt lieber das Auto oder den Bus. Jeder Zweite im Norden hockt nach Feierabend auf dem Sofa.

    Die Barmer Krankenkasse mit ebenfalls Hunderttausenden Versicherten in Hamburg hat ermittelt, dass jede vierte Frau (24,6 Prozent) und fast jeder fünfte Mann (18,8 Prozent) von Rückenschmerzen betroffen ist. Warum dieser Unterschied? Die Studie mutmaßt – ernsthaft – über Stöckelschuhe und das „einseitige Handtaschentragen“. Das könne zu Haltungsschäden führen. Berufstätige Hamburgerinnen fehlen öfter als Hamburger: 17,5 Ausfalltage pro Jahr im Gegensatz zu 14,8.

    Warum sogar ein Rückenexperte litt

    Barmer-Landesgeschäftsführer Frank Liedtke erklärt das damit, „dass in den Berufen mit generell hohen Krankenständen wie Krankenpflegepersonal, Sozialarbeit und im Verkauf oftmals Frauen beschäftigt sind“.

    Liedtke sagt: „Verständnis für diesen privaten Rollenkonflikt finden sie im Betrieb leider häufig immer noch nicht.“ Die Barmer gesteht aber auch zu: Frauen haben meist ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein als Männer und gehen somit häufiger zum Arzt – 21 Arztkontakte pro Jahr im Vergleich zu 15.

    Manchmal trifft es selbst die Experten: So sagt Prof. Klaus-Michael Braumann, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP), mehr als 90 Prozent der Schmerzen seien auf insuffiziente, schwache Muskeln zurückzuführen. Er selbst litt lange an Rückenschmerzen und konnte kaum stehen. „Ich dachte, ich breche durch“. Als er bei einem Vortrag seine Zuhörer zu mehr Bewegung aufforderte, dachte er sich: Warum mache ich das eigentlich nicht selbst? „Ein klassischer Fall von kognitiver Dissonanz. Ich wusste, was zu tun ist, habe es aber lange vermieden. Und so wie mir geht es vielen“, sagt Braumann.

    Er weiß: Nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung sind ausreichend aktiv, 80 Prozent müssten sich mehr bewegen. „Man könnte sie als ,Kinesiophobiker‘ bezeichnen, Menschen also, die unter der Angst leiden, sich zu bewegen.“

    Haben die Schmerzen einen Leidenden fest im Griff, geht er den „Umweg“ über den Hausarzt oder Orthopäden gar nicht mehr. Nach einer Studie der Krankenkasse DAK kam die Hälfte aller Krankenhauspatienten mit Rückenerkrankungen direkt über die Notaufnahme. Die 220.000 Krankenhausfälle aus dem Jahr 2016 bedeuteten laut DAK einen Anstieg um 80 Prozent in neun Jahren.

    Erst bei Alarmsignalen soll eine Operation erwogen werden

    „Rücken“ gibt es in den Erscheinungsformen „schlimm“ und „ganz schlimm“. Letztere treibt die Zahl der Operationen vor allem an Bandscheiben in Deutschland auf ein weltweites Hoch. Ärzte befinden sich oft im Spannungsfeld von „Ethik und Monetik“, so der gebildete Volksmund. Bedeutet: Eigentlich müssten sie nicht immer operieren. Doch immer öfter bestimmt das Monetäre, der wirtschaftliche Druck auf Praxen und Krankenhäuser, die Empfehlung zur Rücken-OP.

    Nur ein Beispiel aus der Provinz: Im Kreis Fulda fiel durch Abrechnungsdaten ein Krankenhaus auf, das im deutschlandweiten Vergleich extrem häufig Operationen zur Versteifung von Wirbeln (Spondylodese) machte. Auch Bandscheiben wurden in Osthessen extrem oft mit dem Skalpell behandelt, hat der WDR anhand von Patientendaten herausgefunden. Die Bertelsmann Stiftung untermauerte den Befund in einer Studie. Dahinter steckte offenbar ein Einweiserkartell von niedergelassenen Ärzten und Kliniken. Verboten, aber schwer beweisbar.

    Deutschlands Orthopäden empfahlen bei ihrem letzten Kongress den Patienten: Hört auf die Alarmsignale! Das seien Lähmungserscheinungen, Blutvergiftungen und Kontrollverlust über Darm und Blase. Erst dann müsse man über eine Operation mit dem Arzt sprechen. Ansonsten solle man sich an den Dreiklang aus Schmerzmitteln, mehr Bewegung und Physiotherapie halten.

    Die Hamburger TK-Chefin Maren Puttfarcken sagte: „Knapp neun von zehn aller Operationen an der Wirbelsäule sind unnötig. Das zeigt die Auswertung unseres Zweitmeinungsangebots. Bei Rückenbeschwerden sollte eine Operation daher gut überlegt und wirklich nur die letzte Konsequenz sein. Grundsätzlich sollten sich Betroffene vor einem operativen Eingriff an der Wirbelsäule eine zweite Meinung einholen.“ In Hamburg ist die Zahl der vermeintlich unnötigen Operationen laut TK mit 89 Prozent deutlich über dem Bundesdurchschnitt (79).

    Wie hilfreich sind neue Ratgeberbücher wirklich?

    Je mehr Meinungen, je mehr Versuche bei einem Patienten, den Rücken in den Griff zu bekommen, desto schneller schwindet das Vertrauen in die Heiler. Die Krankenkassen setzen dank gewaltiger Ausgaben für Krankenhaus-Operationen auf die Zweitmeinungen. Sogar in den Onlineangeboten werden sie auffällig beworben. Kritische Ärzte fragen sich: „Wenn man alles zweimal macht, dann kostet das auch zweimal.“ Können wir uns „Rücken“ in Zukunft überhaupt noch leisten?

    Neue Ratgeberbücher wie „Deutschland hat Rücken“ von Roland Liebscher-Bracht und der Ärztin Dr. ­Petra Bracht geben große Versprechen ab: Mit ihren Hinweisen und Übungen könnten Patienten ihre Schmerzen innerhalb kurzer Zeit deutlich lindern. Die herkömmliche Medizin habe vor „Rücken“ kapituliert. „Meist sind wir selbst für unsere Rückenschmerzen verantwortlich – ohne es zu wissen“, schreiben die Autoren. Sie gehen auf den Einfluss der Psyche und der Ernährung, nennen gängige Behandlungsmethoden einen „Jahrhundertirrtum“ und Operationen „Kunstfehler“. Das klingt an vielen Stellen esoterisch. Doch wen der Rücken dauerhaft plagt, der klammert sich an einen von vielen Ratschlägen, den er noch nicht ausprobiert hat.

    Sitzbälle sind effektive Hilfen beim Arbeiten am Schreibtisch

    „Sitzen ist für’n Arsch“, hieß mal eine Kampagne der Fans des FC St. Pauli. Ein bemerkenswerter Spruch. Er sollte eigentlich nur den Protest ausdrücken gegen das Verschwinden der Stehplätze. Der Satz ist mehrdeutig. Wer zu viel Zeit auf dem Hintern verbringt, verschwendet sie sinnlos. Die Gefahren des Sitzens haben auch verantwortungsvolle Unternehmen identifiziert, die am Computer arbeitenden Mitarbeitern Stehtische einrichten. Selbst Experten für Arbeitsschutz haben erkannt, dass Sitzbälle aufgrund ihrer Rollfähigkeiten keine gemeingefährliche Bedrohung des Bürolebens sind, sondern effektive Hilfen bei der Prävention von Rückenleiden.

    Und der allgegenwärtige Singsang von „Ich habe Rücken“ ist von zeitgenössischen Rappern aufgegriffen und anders gedeutet worden. Er bedeutet in der Szene so viel wie: „Ich habe Unterstützung, Leute, die mir den Rücken frei halten, die mir den Rücken stärken.“ Die jetzt beginnende Abendblatt-Serie setzt voll auf diese neue Lesart.