Hamburg. Zehn U-Bahn-Linien sollte die Stadt neben S- und Straßenbahnen bekommen. Doch die großen Ideen der 50er-Jahre waren eine Illusion.
Frage: „Falls nun Steilshoop doch eine U-Bahn bekommt – das wird doch wohl der letzte Schnellbahnbau Hamburgs sein. Oder?“ Antwort: „Ja, das sehe ich auch so. Schnellbahnen nach Lurup und Osdorfer Born sind heute kein Thema mehr.“ Gefragt hatte Abendblatt-Redakteur Egbert A. Hoffmann, geantwortet der gerade ernannte neue HVV-Chef Martin Runkel. Das war im Oktober 1986. Der Hamburger Verkehrsverbund hatte mit immer weiter sinkenden Fahrgastzahlen und wachsenden Defiziten zu kämpfen. Und die Hamburger Bevölkerungszahl hatte ihren Tiefpunkt seit Gründung der Bundesrepublik erreicht: Gerade noch 1,57 Millionen Menschen lebten in der Stadt. Und die fuhren am liebsten Auto. Auch weil der öffentliche Nahverkehr ein eher schmuddeliges Image hatte.
Die Zeit der großen Pläne und Versprechungen war jedenfalls definitiv vorbei. Und davon hatte es viele gegeben. Die meisten verschwanden und wurden gebrochen.
Nur wenige Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges war die Stadt von Aufbruchstimmung und Optimismus geprägt. 1951, als sich langsam der Aufschwung abzeichnete, der bald zum Wirtschaftswunder werden sollte, lebten 1,65 Millionen Menschen in Hamburg – 350.000 mehr als nur fünf Jahre zuvor. Die Stadtplaner agierten genauso, wie sie es auch heute noch meist tun: Sie gehen davon aus, dass sich der bestehende Trend fortsetzt. So ging man fest davon aus, dass die Zwei-Millionen-Einwohner-Grenze bald überschritten würde.
Auch das Fernsehen schadete dem öffentlichen Nahverkehr
„Heute sind in der Hansestadt 60.000 Autos angemeldet. Bei 1000 neuen Zulassungen im Monat werden es in spätestens zehn Jahren 180.000 sein“, schrieb das Abendblatt. Um dem gerecht zu werden, dachten Planer wie der spätere Oberbaudirektor Otto Sill in großen Dimensionen. Sein Plan, der 1955 offiziell wurde, sah elf neue Linien vor. „Es waren zehn U-Bahn-Linien und der sogenannte Alsterhalbring, der der heutigen Metrobuslinie 25 entspricht“, erläutert der Hamburger Verkehrsexperte Klaus-Peter Sydow. Außerdem dachte Sill an eine gewaltige Stadtautobahn.
Doch das waren zu ehrgeizige Pläne, die nicht zu finanzieren waren. In den kommenden Jahrzehnten hatte anderes Priorität: vor allem der Wohnungsbau, soziale Infrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser – und der Straßenverkehr. Denn während die Bevölkerung längst nicht so wuchs wie erwartet (der vorläufige Höhepunkt wurde Mitte der 60er-Jahre mit 1,85 Millionen erreicht), nahm der Autoverkehr tatsächlich dramatisch zu. 1961 waren es schon 200.000, zehn Jahre später 460.000 und 1980 dann 566.000 privat zugelassene Pkw. „Als in den 50er-Jahren immer mehr Autos auf die Straßen kamen, sollte Hamburg als autogerechte Stadt ausgebaut werden“, so Sydow. „Und so wurden etliche Parkhäuser gebaut, ebenso die Ost-West-Straße, die Fruchtallee und die Kieler Straße. Rücksicht auf bestehende Wohngebiete wurde im Zweifel nicht genommen.“
Auch als die Einwohnerzahl abnahm, führte das nicht zur Verkehrsentlastung – im Gegenteil. Weil viele Hamburger ins Umland zogen, aber weiter in der Stadt arbeiteten, erreichte das Straßennetz seine Kapazitätsgrenzen.
Dass die Fahrgastzahlen abnahmen, hatte auch unerwartete Gründe. „Als immer mehr Menschen einen eigenen Fernseher hatten, schlug sich das sofort auf die Abendfahrpläne nieder“, so Sydow. „Die damals neue Technik hielt die Menschen zu Hause, die Fahrgastzahlen insgesamt sanken, besonders aber in den Abendstunden.“ Das spürten die Kinos – und die Hochbahn.
„Schnellbahnnetz“ wuchs langsam
Das „Schnellbahnnetz“, wie es offiziell hieß, wuchs nur vergleichsweise langsam. Die U 1 wurde bis 1963 bis Wandsbek-Gartenstadt ausgebaut, so wurde die Verbindung zur alten Walddörferbahn bis Großhansdorf geschaffen. Die U 2 wurde 1966 bis Hagenbecks Tierpark verlängert (Niendorf-Markt und Niendorf Nord kamen erst 1985 bzw. 1991 hinzu). Billstedt wurde 1967 durch die U-Bahn bis Berliner Tor angeschlossen. Die S-Bahn wiederum erhielt zwei neue Strecken: Die Verbindung vom Hauptbahnhof nach Altona durch den City-Tunnel, der 1979 nach zwölf Jahren Bauzeit fertig wurde, sowie 1983 die Trasse nach Harburg.
Die meisten neuen Strecken waren auch ein Ersatz für die Straßenbahn, deren Netz seit den 50er-Jahren immer weiter ausgedünnt wurde, bevor 1978 das endgültige Aus kam. Die Begründung mutet aus heutiger Sicht absurd an: Die Straßenbahn wurde zunehmend als Behinderung für den Autoverkehr angesehen. Ursprünglich deckte das Straßenbahnnetz nahezu die gesamte Stadt ab. „Mit der Eröffnung der Strecke nach Lurup hatte das Netz 1955 seine größte Ausdehnung nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht. Eine Abdeckung, von der das aktuelle ÖPNV-Netz weit entfernt ist“, sagt Verkehrsexperte Sydow. „Für Strecken, die man früher in einem Rutsch fahren konnte, etwa von Lurup bis zum Rathaus, muss man heute teils mehrere Male umsteigen.“
Alle späteren Versuche, die Straßenbahn wieder einzuführen – unter dem neuen Namen Stadtbahn –, scheiterten. Erst wollte Rot-Grün sie bauen, wurde aber 2001 abgewählt. Zehn Jahre später regierte wieder die SPD, wollte aber keine Stadtbahn mehr – die der gerade abgewählte schwarz-grüne Senat zuvor beschlossen hatte ...
Verlierer bei den Planungen
Bei all den U- und S-Bahn-Planungen gehörten vor allem zwei Regionen zu den Verlierern: Bramfeld/Steilshoop und Lurup/Osdorf. Zwar wurden die damals modellhaften Großsiedlungen zügig gebaut, die Verkehrsanbindung aber immer wieder verschoben. Und das, obwohl bereits in dem 1955er-Plan U-Bahnen vorgesehen waren: von Altona bis Bramfeld-Ost und von Lurup zur Sengelmannstraße. Als die Siedlung Osdorfer Born 1972 fertig wurde, nahm der Druck auf die Politik zu. Die Bundesbahn wollte unbedingt eine S-Bahn bauen, was der Senat ablehnte – und stattdessen eine „Insel-U-Bahn“ beschloss.
Die neue U 4 sollte zwischen Altona und Osdorfer Born verkehren, ohne Anschluss an das übrige U-Bahn-Netz. Mit diesem Versprechen ging die SPD in den Bürgerschaftswahlkampf 1974. Doch sie erlitt eine empfindliche Niederlage, verlor zehn Punkte auf 45,0 Prozent und musste mit der FDP koalieren. Bürgermeister Peter Schulz trat zurück und machte Hans-Ulrich Klose (SPD) Platz – und der ließ die U-Bahn-Pläne in der Schublade verschwinden.
Trendwende: Der Nahverkehr erlebt eine Renaissance
Es begannen die Jahrzehnte der „Stadtflucht“, bis eben sogar der Chef des HVV alle Neubauplanungen für tot erklärte. Erst im neuen Jahrtausend begann die Renaissance der Stadt – und des öffentlichen Nahverkehrs. Die (auch Jahrzehnte zuvor versprochene) S-Bahn zum Flughafen wurde endlich gebaut. Und die HafenCity bekam die neue U 4, die heute bis zu den Elbbrücken führt.
Nur Osdorf und Steilshoop warten weiter. Als Ole von Beust 2001 Bürgermeister wurde, stand der Bau der U-Bahn nach Bramfeld mal wieder im Koalitionsvertrag. Doch es geschah nichts. Nun also der nächste Anlauf. Doch können wir eigentlich sicher sein, dass die neue U- und S-Bahn, die heute fast jeder für unverzichtbar hält, sich nicht übermorgen als Fehlplanung herausstellt? „Sicher sein können wir da keinesfalls“, glaubt Professor Wolfgang Maennig, Verkehrsforscher an der Universität Hamburg.
„Die Unsicherheit, wie sich die Bedürfnisse der Menschen zukünftig entwickeln, ist derzeit vielleicht so groß wie noch nie.“ So sei es etwa aus heutiger Sicht nicht klar, wie sich die Städte in Zukunft entwickeln werden, was unter anderem von dem Faktor Zuwanderung abhängig ist. „Findet diese nicht so statt, wie wir es jetzt erwarten, könnten die Städte in Deutschland, und damit auch Hamburg, schrumpfen.“
Vielleicht noch entscheidender sei aber der technische Fortschritt. „Wenn man die aktuellen Entwicklungen konsequent weiterdenkt, dann muss man davon ausgehen, dass die Sharing-Economy weiterwächst und die zwei Kilometer zur nächsten U-Bahn-Station, die heute noch weit erscheinen, in wenigen Jahren leicht überbrückbar sind“, so Maennig weiter. „Wenn, um ein Bespiel zu nennen, 5000 Moias durch die Stadt fahren und man zu- und absteigen kann, wie man möchte, ist der Schienenausbau plötzlich nicht mehr so relevant.“ Dennoch hält Maennig die U-5-Überlegungen für sinnvoll – besonders auch für Touristen: „Menschen, die zum ersten Mal in Hamburg sind, erschließen sich die Stadt meist über das U-Bahn-Netz, nicht aber über Busse oder andere Mobilitätsangebote.“
Sprung über die Elbe
Und auch beim Sprung über die Elbe spielt die U-Bahn aus seiner Sicht eine entscheidende Rolle. Dennoch: „Eine weitestgehend vorhersehbar lineare Entwicklung, wie wir es aus den vergangenen Jahrzehnten kannten, wird es in Zukunft wohl so nicht mehr geben.“ Und so wirkt es manchmal, als ob die Politik mit ihren Vorhaben, die ja so oft einen jahre- oder jahrzehntelangen Vorlauf haben, zwangsläufig immer ein wenig hinterherhängt. So sehr, dass sich mancher Plan am Ende dann von allein erledigt. Die Spuren solcher Pläne, die irgendwann beerdigt wurden, sind an vielen Orten in der Stadt erkennbar, wenn auch nicht immer an der Oberfläche.
Klaus-Peter Sydow, der in der Interessengemeinschaft Altona aktiv ist, erinnert sich etwa, dass im Zuge des Umbaus der Großen Bergstraße vor ein paar Jahren neue Bebauungspläne vorgelegt wurden, die Anwohnern und Gewerbetreibenden erst mal Rätsel aufgaben. „Da war teilweise vermerkt, dass einige Stellen für geplante unterirdische Bahnanlagen frei gehalten werden müssten.“ Was dahinter steckte: „Ursprünglich war geplant, dass die U 4 über die Große Bergstraße bis nach Lurup fährt“, so Sydow. „Und so sind es am Ende alte Pläne, die Jahre später etwa eine neue Tiefgarage verhindern.“ Dass für irgendwann einmal geplante Bahnstrecken Flächen jahrzehntelang noch frei gehalten werden, kommt durchaus vor. Sicherheitshalber. Man weiß ja nie ...