Hamburg. Vor 100 Jahren wurde die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg gegründet. Wie Hamburger Ärzte Maßstäbe für ganz Deutschland setzten.
Wenn man Walter Plassmann (64) richtig versteht, geht es ihm ungefähr so wie dem Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Nicht, dass er der Bestseller-Figur des schwedischen Autors Jonas Jonasson irgendwie ähnelte. Aber Plassmanns „Unternehmen“ Kassenärztliche Vereinigung Hamburg wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Und es wirkt fast so, als wolle der Vorstandschef der Vertretung aller Praxisärzte die „Fete“ (Plassmann) im Sommer mit allen Honoratioren lieber schwänzen – und in die Zukunft entschwinden.
Denn die KV Hamburg, wie sie 1919 gegründet wurde und wie sie noch in den letzten Jahren erschien, wird Ende 2019 eine revolutionär andere sein. Das hat mit vielen Einsen und Nullen zu tun. Von Digitalisierung spricht ja jeder. Aber der KV kommt zugute, dass nur wenige Patienten überhaupt wissen, wozu sie überhaupt da ist. Das wird sich radikal ändern.
KV Hamburg bietet Dr. Google Paroli
Die KV Hamburg wandelt sich von einer Art Genossenschaft der niedergelassenen Ärzte, die mit den Krankenkassen Verträge schließt und Honorare verteilt sowie Ärzte in alle Stadtteile schickt und Notfallpraxen organisiert, zu einem Gesundheits-Tanker im Internet. Hier – und nicht bei Amazon, Dr. Google oder den privat gut organisierten Medizinern im Netz – sollen die Hamburger ihre Ärzte suchen und Termine machen.
Plassmann sagte dem Abendblatt: „Wir werden als KV Hamburg eine Online-Plattform aufsetzen, auf der Patienten die Termine von grundsätzlich allen Ärzten sehen oder mit ihnen abmachen können. Das sind dann nicht nur wie bei den Online-Sprechstunden von DrEd (jetzt Zava) oder Asklepios oder einigen Krankenkassen ausgewählte Ärzte, sondern grundsätzlich alle. Wir diskriminieren nicht. wir selektieren nicht. Wenn der Patient sich für 50 Euro an eine Internet-Praxis wendet, macht er das vielleicht einmal. Bei uns bekommt er diesen Service mit seiner Krankenkassenkarte.“
Deutschlands erste KV wurde in Hamburg gegründet
Bevor es eine KV gab, herrschten zwischen Ärzten und Krankenkassen „verworrene und regellose Honorarverhältnisse“. Eine kleine Gruppe Hamburger Ärzte um Dr. Julius Adam und Dr. Hugo Niemeyer wollte das mit ihrer „Vereinigung der Krankenkassenärzte Groß-Hamburgs“ vom 18. Juni 1919 beenden. Der einzelne Arzt war einer Krankenkasse ausgeliefert, wenn es um das Honorar für die Behandlung des Patienten ging.
Im Laufe des Jahres 1919 wurde ein „Hamburger Abkommen“ entwickelt, das wie heute die Zulassung von Praxen durch Ärzte und Krankenkassen gemeinsam regelte und möglich machte, dass Patienten den Arzt frei wählen dürfen. Unter den Hamburgern, vor allem den Kriegsheimkehrern grassierten damals die Grippe, Tuberkulose, Fleckfieber, Krätze und Syphilis.
Erst 1931 kam auch die Regierung von Reichskanzler Heinrich Brüning darauf, per Notverordnung in Deutschland Kassenärztliche Vereinigungen nach Hamburger Vorbild einzurichten. Mit der Machtübernahme der Nazis wurden die Selbstorganisationen der Ärzte faktisch aufgelöst. Schon 1933 wurden in Hamburg 68 Ärzte als „Nichtarier“ ausgeschlossen. Vor den Praxen jüdischer Mediziner standen SA-Leute mit dem Slogan: „Jüdischen Ärzten überlasset nicht deutsche Gesundheit.“ Von 1938 an durfte kein Jude mehr als Arzt praktizieren. KV-Gründer Dr. Adam wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Drei Monate später war er tot.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich in Hamburg ein ähnliches Bild wie nach dem Ersten. Grassierende Erkrankungen, Patientenakten vernichtet. Die britische Militärregierung konnte das Gesundheitssystem nur halbwegs aufrechterhalten, indem auch „belastete“ Mediziner wieder arbeiten durften.
Der Historiker Prof. Schmuhl spricht von einem „oberflächlichen Entnazifizierungsverfahren“. Die Briten übergaben Dr. Richard Fuchs die Leitung der KV, 1948 gab es freie Wahlen innerhalb der Ärzteschaft. Die KV bezog ihre Verwaltung an der Gurlittstraße 9 Ecke An der Alster 47. Im Jahr 1976 ging es in die Humboldtstraße nach Barmbek-Süd. Mancher in der KV spricht heute allerdings von „Uhlenhorst“. Klingt feiner.
In einem politischen Kompromiss wurden Deutschlands KVen 1955 Körperschaften öffentlichen Rechts, also keine Behörden, keine gewinnorientierten Unternehmen, aber weitgehend eigenständige Verwaltungen. Die KV-Ärzte bekamen eine Art Monopol auf die gesetzlich Versicherten, durften im Gegenzug aber nie mehr streiken. Erst diese Konstruktion führte für einige Jahrzehnte zu „traumhaften Honorarsteigerungen“ (KV-Chef Plassmann).
"Traumhafte Honorarsteigerungen" für Ärzte
Das war 1982 mit dem Gesundheitsstrukturgesetz vorbei, das die Honorare durch ein Budget für alle Ärzte deckelte. Heute bedeuten mehr Patienten für einen Arzt nur selten mehr Geld. Für Behandlungen gibt es Punkte. Doch was diese Punkte am Ende in Euro wert sind, weiß der Arzt oft erst viel später. Dabei gibt es Abschläge, Zuschläge und viele politische Querschläge. Um das Budget wird heftigst gerungen. Das führt dazu, dass manch niedergelassener Mediziner seine KV auch kritisch sieht. Sie ist Teil eines undurchschaubar gewordenen Systems.
Die KV Hamburg war es auch, die 1959 den „wahrscheinlich schnellsten Arzt der Bundesrepublik“ hatte. Dr. Peter Scheutzow machte buchstäblich deutschlandweit Schlagzeilen. Das Hamburger Abendblatt schilderte seinen dramatischen Alltag so: „An einem anderen Abend gegen zehn Uhr wurde Dr. Scheutzow zu einem jungen Mann in einer abgelegenen Siedlung gerufen, der aus Liebeskummer dreißig Tabletten geschluckt hatte. Sieben Minuten nach dem Anruf stand der Arzt am Krankenbett. Sieben weitere Minuten brauchte er, um ihn ins nächste Krankenhaus zu bringen. Zwei Minuten später konnten die Ärzte bereits den Magen auspumpen.“
Dr. Scheutzow war fast so bekannt wie später Dr. Sommer aus der „Bravo“, den es nur in feuchten Träumen von Magazinmachern gab. Dr. Scheutzow raste in seinem mit Funk ausgestatteten VW Käfer zunächst durch die Walddörfer und den Hamburger Norden. Andere Notärzte mussten aufs Polizeirevier, um sich ihre Patientenadressen abzuholen. Dr. Scheutzow hatte sprichwörtlich immer eine Hand am Funkgerät.
Erst ab 1968 fuhren dann die KV-Notärzte wie in Berlin mit Funktaxen durch die Stadt. 40 Jahre dauerte es dann, bis die KV-Fahrzeuge mit Satellitennavigation ausgestattet wurden, weitere zehn bis GPS, Navi und Internet die Patienteninformationen direkt zum mobilen Notarzt bringen, ihn steuern und die medizinische Versorgung zeitgemäßer machen.
Notfallpraxen der KV wurden ausgebaut
Wer heute 116 117 wählt, erhält rund um die Uhr eine Beratung, ob er in eine Praxis soll, ob ein Notarzt zu ihm muss, der ihn für eine telefonische Beratung auch zurückrufen kann, oder ob der Patient direkt ins Krankenhaus muss. Dieser 24-Stunden-Service macht auch Termine bei einem Facharzt für den nächsten Tag.
Die KV hat 1982 eine erste Notfallpraxis auf dem Parkdeck des Einkaufszentrums Farmsen eröffnet. Sie zog später zum Berner Heerweg 124. 1987 folgte die Notfallpraxis an der Stresemannstraße, 2017 die am AK Harburg, eine am Adolfstift Reinbek (zusammen mit der KV Schleswig-Holstein betrieben) und ab Herbst 2019 eine am UKE.
Was ist ein Kassenarzt?
Sind Kassenärzte denn nun Beauftragte der Kassen? Trotz vieler Leitlinien entscheidet der Arzt autonom, wie er einen Patienten behandelt. Bezahlt wird er von der Krankenkasse auf dem Umweg über die KV. Das löst im schlimmsten Fall eine vertrackte Situation aus. Im Betrugsfall. Erst der Bundesgerichtshof entschied den Fall eines Hamburger Arztes, der sich von einem Pharmaunternehmen (Ratiopharm) eine Art Bonus geben ließ, weil er eine Praxis-Software hatte, die bei bestimmten Krankheitsbildern zuerst das Medikament ebendieser Firma vorschlug.
Bestechung? Irgendwie ja, sagte das Landgericht. Aber Deutschlands oberste Richter am BGH fanden 2012 keinen Paragrafen, nach dem dieser Arzt hätte verurteilt werden können. Freispruch. Er ist kein Amtsträger und eben kein Beauftragter der Kassen. Die Berufsordnung verbietet dem Arzt zwar eine Vorteilsnahme. Doch erst ein neues Gesetz gegen Korruption kurz darauf regelte solche Fälle.
KV Hamburg setzt 1,3 Milliarden Euro um
Das „Bezahlen“ beim Arzt funktioniert über die Krankenkassenkarte. Sie gewährt eine Art Flatrate. Anders als in staatlichen Gesundheitssystemen oder rein privaten, wo deutlich mehr Leistungen begrenzt oder per Rechnung abgewickelt werden, wo nicht jeder Zugang zu neuester Medizintechnik und modernen Medikamenten hat, gelten hierzulande Vereinbarungen zwischen Kassen, Ärzten, Apothekern, Pharmafirmen. Sie gehen zurück auf das Jahr 1919 und wenige Hamburger Ärzte mit Dr. Julius Adam an der Spitze.
Er hat an Alster und Elbe heute gut 5000 „Nachfahren“ in 3300 Praxen, auch Psychotherapeuten sind darunter. Sie und die 400 Mitarbeiter der KV bewegen jedes Jahr rund 1,3 Milliarden Euro. Und was sagt der „Hundertjährige“, der noch viel vorhat? „Für eine so gute Idee wie die KV sind 100 Jahre absolut kein Alter.“ Davon ist KV-Chef Walter Plassmann fest überzeugt.