Hamburg. Dieter Lenzen hat die Uni aus dem Mittelmaß geführt – mit beispiellosen Methoden wie einem “Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“.
Das Jahr ist ereignisreich für Universitäts-Präsident Dieter Lenzen – nicht nur wegen des 100. Jubiläums von Hamburgs größter Hochschule. Im Januar kam eine ganze Phalanx von Wissenschaftsexperten zum mehrtägigen Besuch in die Stadt, um zu begutachten, ob die Einrichtung das begehrte Prädikat einer Exzellenz-Universität erhalten soll. Die mit Spannung erwartete Entscheidung fällt am 19. Juli. Der Tag ist dick angestrichen im Terminbuch des Universitätspräsidium.
Es wäre ein Ritterschlag – nicht nur für die Hochschule selbst, die lange Zeit den Ruf hatte, eher mittelmäßig zu sein. Sondern auch für Dieter Lenzen persönlich. Denn wenn es so kommt, wie an der Elbe alle hoffen, wäre die Hamburger Universität bereits die zweite, die der Erziehungswissenschaftler zur Exzellenz geführt hat – nach der Freien Universität Berlin, die unter Lenzens Leitung in die Riege der Elite-Hochschulen aufstieg.
Zwei Universitäten zum Aufstieg in die Exzellenz verholfen, mehr geht wohl kaum: Das wäre die Krönung für die Karriere des 71-Jährigen, die in Münster begann, wo er 1975 mit nur 28 Jahren jüngster Hochschullehrer in Deutschland wurde, und die ihn über Stationen in Berlin, Japan, den USA wieder Berlin schließlich nach Hamburg brachte.
Lenzen war lange Zeit ein Getriebener
Wie Lenzen tickt, illustriert eine Geschichte vom Anfang seiner Hamburger Zeit. Er war gerade mal einen Monat in der Hansestadt, da packte er im Sommer 2010 zwei Koffer, vollgestopft mit 500 Forschungsberichten aus den verschiedensten Bereichen seiner neuen Wirkungsstätte, und flog damit auf die Kanarischen Inseln. Es ging um den Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder – und die Frage, wie und womit Hamburg sich profilieren kann. Auf den Kanaren angekommen, breitete Lenzen die Forschungsberichte in seinem Hotelzimmer auf dem Fußboden aus, las viel und fragte sich: Wo sind die Schwerpunkte der Uni, wo ist sie stark? Wie lassen sich daraus Cluster bilden? In welche Richtung kann man weiterdenken? Im Exzellenzwettbewerb 2011 scheiterte Hamburg zwar, weil es nicht über eine Graduiertenschule verfügte, was sich als Bedingung herausstellte. Doch der Weg war eingeschlagen.
Lenzen drückt aufs Tempo, vielleicht war er auch lange Zeit ein Getriebener. Das hängt mit seiner Kindheit zusammen. Seine Eltern – der Vater hatte als Offizier noch in der Reichswehr gedient – waren schon relativ alt, als er geboren wurde, die Mutter bereits 42. Ihr Motiv, so erzählt er, sei immer gewesen: „Du musst dich beeilen, wir sterben bald.“ Das sorgte beim jungen Dieter für ein gewisses Grundtempo. Er lernte, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und seine Zeit nicht zu vertrödeln. Ein Jahr, nachdem er als Deutschlands jüngster Hochschullehrer berufen wurde, war er bereits Dekan seines Fachbereichs an der Universität Münster.
Er plant immer fünf bis zehn Schritte voraus
Von seinen Gastspielen an japanischen Universitäten brachte er seinen auffälligen Kleidungsstil mit. Zwar lässt er seine hochgeschlossenen seidenen Anzüge mit dem Stehkragen in Deutschland fertigen, aber der Schnitt erinnert an chinesische Volksführer. Er findet sie praktisch, weil man zu diesen Anzügen keine Krawatte zu tragen braucht. Aber diese Form der Kleidung schafft für ihn auch Präsenz. Sie signalisiert: Ich bin da, unverwechselbar. Man werde anders wahrgenommen. „Sie ist ein Statement“, so Lenzen.
Der auffällige Anzug mag auch Ausdruck einer gewissen Eitelkeit sein. Lenzen gilt Manchem als arrogant, abgehoben. Er wahrt meist Distanz. „Ich selbst finde mich eher schüchtern“, bekennt Lenzen dagegen überraschend. Als Jugendlicher ohnehin, aber auch später – bis zu seinem 40. Lebensjahr – sei er eigentlich immer schüchtern gewesen. Weil er oft das Gefühl hatte, er genüge nicht den Anforderungen. Er müsse eigentlich mehr liefern, als er könne. Das änderte sich auch nicht, als er bereits mit 28 Jahren Professor wurde – eher im Gegenteil. „Sie kommen da rein und wissen, was sie nicht wissen – das können die anderen ja nicht ermessen.“ Er war eben der jüngste, noch unerfahren im Kreis der älteren Kollegen. „Mit 28 können Sie nicht so viel gelesen haben wie ein 50-Jähriger, das ist ausgeschlossen. Da ist man eher demütig und zurückhaltend.“ Erst im Laufe seines Lebens sollte sich das ändern.
Trotzdem nennt ein Freund ihn einen „defensiven Pessimisten“, der eher das Risiko scheue. Denn Lenzen plant immer fünf bis zehn Schritte voraus und versucht, vorauszuahnen, was alles eintreten könnte, um schon mal von vornherein eine Verteidigungsstrategie dafür zu entwickeln. Er selbst sagt: „Ich bin extrem vorsichtig.“
Lenzen gründete „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“
Seine Schüchternheit weiß Lenzen heute besser zu überdecken als früher. Er ist bekannt für einen eher durchsetzungsstarken Führungsstil. Mitarbeiter berichten, es sei schwer, ihn von einer Idee abzubringen, auf die er sich einmal festgelegt habe. Kampferprobt ist Lenzen auch durch die Zeit als Universitätspräsident im streitbaren Berlin, wo seine Freie Universität lange Zeit gegenüber der Humboldt Universität abgeschrieben zu sein schien. Das machte er sich in Hamburg zunutze. In Erinnerung bleibt das Bild des Präsidenten, der – dieses Mal mit Krawatte – im Juni 2011 auf dem Pflaster des Rathausmarktes sitzt und zusammen mit Tausenden Studierenden gegen Kürzungen im Hochschuletat demonstriert. Man darf Lenzen unterstellen, dass das Bild bewusst inszeniert war. „Der Protest auf der Straße war kalkuliert“, gibt der Erziehungswissenschaftler zu.
Die Geschichte dahinter ist noch besser: Er hatte damals über eine Tochterfirma der Universität ein „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ gegründet – kurz BUM. Der Name war Programm. Das Büro war in einem Keller an der Feldbrunnenstraße untergebracht und stellte mithilfe von Spenden eine Kampagne auf die Beine, die sich gegen die Sparpolitik des SPD-Senats richtete. So wurden Demonstrationen und Diskussionen geplant, Flyer gedruckt, auf denen sich Prominente ihre Unterstützung erklärten („Tresen-Philosoph Dittsche: Keine Bildung? Keine Ahnung.“) „Es gab eine starke Solidarität der Hochschulen in einer gemeinsam als schlecht empfundenen Lage“, erinnert sich Lenzen. Er kann Provokation und Konfrontation gezielt einsetzen, um ans Ziel zu kommen. „Als Berliner FU-ler wissen Sie natürlich, was Sie machen müssen. Ich hatte erhebliche Kampferfahrungen, in Berlin ging es ja noch viel schärfer zu.“ Der Protest erregte Ärger, schuf an der Universität aber ein Zusammen-sind-wir-stark-Gefühl.
Ärger erregte auch sein Ausspruch – angesichts baufälliger Gebäude – von den „Ruinen, die sich hier Universität nennen“. Der Satz ist ihm, wenn man ihm glauben mag, auf der Pressekonferenz eher rausgerutscht. Doch die Schlagzeilen waren in der Welt. „Da war man sauer im Rathaus“, erinnert er sich noch heute. Gewirkt hat es dennoch: Beim Uni-Bau hat sich viel getan. Mit Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank (Grüne) kann der parteilose Präsident ohnehin viel besser als mit ihrer Vorgängerin Dorothee Stapelfeldt (SPD). „Wir sind einander vorurteilsfrei begegnet. Die Universität gab der neuen rot-grünen Regierung eine Chance und Katharina Fegebank hat sich für die Wissenschaft sehr ins Zeug gelegt“, so Lenzen.
Lenzen legte Wert darauf, die Volluniversität wieder herzustellen
Ist er ein Machtmensch? „Wenn man etwas verändern will, brauchen Sie dafür eine zugewiesene Macht“, sagt er. „Ich bin dafür geholt worden, etwas zu bewegen, also mache ich das.“ Sieht er sich als autoritär? „Ich kenne als mittlerweile über 70-Jähriger viele Dinge einfach besser als andere – das ist in meinem Alter kein Kunststück“, sagt er.
Nach dem Scheitern bei der Exzellenzinitiative 2011 legte sich Lenzen weiter ins Zeug. Der Wissenschaftsrat war begeistert von dem Nachhaltigkeitskonzept der Hochschule, Lenzen gründete ein Kompetenzzentrum Nachhaltige Universität. „Wir brauchten einen Think Tank, der das weiterentwickelt, sonst wären sind wir bei der nächsten Runde wieder nicht vorbereitet gewesen.“ Das erste Scheitern bot ihm und der Universität auch die Chance, sich in Ruhe aufzustellen: Die Verwaltung wurde reformiert. Geisteswissenschaftler Lenzen legte Wert darauf, die Volluniversität wieder herzustellen, nachdem kleinere Fächer wie Skandinavistik, Niederlandistik und Ägyptologie bereits abgewickelt worden waren. Er entrümpelte den Bereich der internationalen Partnerschaften und schmolz ihre Zahl von mehr als 400 auf 30 herunter, in denen dann „wirklich Musik“ war, machte aus sechs Fakultäten wieder acht.
Als besonders hilfreich erweisen sich die Begutachtungen der Uni durch den Wissenschaftsrat. „Sie haben Stärken und Schwächen gezeigt und die Universität veranlasst, sich über sich selbst klar zu werden“, sagt Lenzen. Ihm als Präsidenten spielte dabei in die Hände, dass er nicht selbst hergehen und alle Veränderungen veranlassen musste, sondern der Anschub von außen kam. „All diese Entwicklungen liefen parallel und als klar war, es gibt 2017 einen weiteren Exzellenzwettbewerb, waren wir so weit, uns hoffnungsfroh daran zu beteiligen.“
Der Preis eines Wanderarbeiters
Lenzen ist es gelungen, wenn auch nicht allein, Aufbruchstimmung an der Universität zu erzeugen. In letzter Zeit wirkt er auch selbst gelöst; vielleicht weil die Anerkennung für seine Hochschule in der Stadt gewachsen ist. Beim großen Festakt zum 100. Jubiläum im Mai verschenkte er auf der Bühne Socken und flachste mit der Moderatorin Julia Sen, mit der gemeinsam er auch durch das von ihm mit erdachte Talk-Format „Wahnsinn trifft Methode“ im Nachtasyl des Thalia Theaters führt. Das ist wohl ein Ventil für die Kreativität eines Mannes, der ursprünglich Philosophie studierte, bevor er für sich die Erziehungswissenschaft entdeckte, der die Sprache liebt, aber nun schon seit Jahren als Hochschulmanager tätig ist. Ein anderes Ventil ist das Schreiben. 2014 veröffentlichte Lenzen ein Buch mit Erzählungen. Der Titel: „Geliebt“. Er mag es, „gelegentlich eine andere Saite zu intonieren“.
Und er mag das Meer. Auf ihm war Lenzen lange Zeit leidenschaftlich unterwegs, mittlerweile hat er sein Motorboot verkauft. Dennoch hat die Nähe zum Wasser Hamburg für ihn interessant gemacht. Früher ist er oft mit seinen drei Söhnen fischen gegangen, am liebsten in Norwegen. Doch die Jungs sind längst erwachsen, der Jüngste ist zwischen 32. In Hamburg wohnt Lenzen an der Elbe. Von hier aus kann er gut aufs Wasser schauen und die Schiffe vorbeiziehen sehen. „Das habe ich mir gegönnt.“
Privat ist er allein in der Stadt. Als Lenzen 2010 nach Hamburg kam, ist seine Frau nicht mitgegangen. „Der Job hat mich meine Ehe gekostet“, sagt er und findet, das sei ein hoher Preis. Der Preis eines Wanderarbeiters.