Hamburg. Im Abendblatt-Interview fordert BDA-Chef Daniel Kinz mehr Experimente im Wohnungsbau, neue Grundrisse und schönere Fassaden.

Daniel Kinz ist seit 2016 Vorsitzender des Bundes Deutscher Architekten (BDA) in Hamburg. Sein Verband hat 2017 zu einem Perspektivwechsel im Wohnen aufgerufen und forderte eine Debatte über Standards, mehr Dichte, weniger Fläche, mehr Mitbestimmung.

Hamburger Abendblatt: Die Thesen des BDA zum Wohnen klangen wie eine Neuerfindung des städtischen Bauens. Sind diese Ideen im Alltag angekommen?

Daniel Kinz: Die Diskussion, wie Wohnraum gestaltet, entwickelt, geschnitten wird, nimmt an Fahrt auf – aber in der Umsetzung sind die Thesen noch nicht in Gänze angekommen. Das geht auch nicht von heute auf morgen.

Was hat sich denn so verändert, dass neue Standards nötig werden?

Kinz: Die Gesellschaft wandelt sich, die Bedürfnisse verändern sich. Jeder zweite Haushalt in Hamburg ist heute ein Sin­gle-Haushalt, nur noch in knapp 20 Prozent der Haushalte leben Kinder.

Aber bilden wir diesen Wandel ausreichend ab?

Kinz: Da habe ich meine Zweifel: Warum bauen wir nicht größere Wohnungen, in denen Alleinstehende zusammenwohnen können? Warum wagt niemand eine Wohnung mit acht ausreichend großen Zimmern, die sich ohne Probleme in zwei Wohnungen teilen ließe?

In den klassischen Grundrissen sehen wir standardmäßig das Elternschlafzimmer und zwei Kinderzimmer.

Kinz: In der Tat haben sich die Grundrisse kaum verändert. Wann, wenn nicht jetzt ist die Zeit, Neues zu planen? Die Konjunktur brummt, die Nachfrage ist hoch, der Markt ist da. Jetzt wäre die Zeit für Experimente. Genau das passiert aber nicht, weil die Bauträger und Entwickler auf das setzen, was sich immer gut vermarkten ließ.

Wer soll dann den Wandel vorantreiben?

Kinz: Der Gesetzgeber kann mit Konzeptausschreibungen oder Bebauungsplänen mehr vorschreiben – das passiert auch, gerade in Hamburg. Letzten Endes müssten es aber die Nutzer auch nachfragen. Warum kaufen die Menschen die immer gleichen Wohnungen und schimpfen dann darüber, dass alles so gleichförmig aussieht?

Vielleicht sind Deutsche konservativer?

Kinz: In Teilen ja, die Schweizer, Holländer oder Dänen sind sicher experimentierfreudiger. Auch die Österreicher – wir waren gerade mit dem BDA in Wien. Dort baut man Wohngebäude mit vielen Gemeinschaftsräumen – Küchen, Waschräume, Aufenthaltsräume, die für Singles sehr attraktiv sind. Aber auch ein Zwei-Personen-Haushalt braucht kein großes Wohnzimmer, wenn er im Falle eines Besuchs auf einen Gemeinschaftsraum zurückgreifen kann. Da können wir uns einiges abschauen. Die jüngere Generation würde hierzulande gern in anderen Konstellationen wohnen – es gibt nur kein Angebot. Die Notwendigkeiten aber ändern sich: Warum gibt es keine Wohntypen für Patchwork-Familien, in der man sich in der Woche mit den Kindern genauso wohl fühlt wie in der Woche ohne die Kinder?

Wollen die Menschen das wirklich?

Kinz: Das wird nicht die Mehrheit sein, 70 bis 80 Prozent leben in klassischen Konstellationen. Aber die innovativen Modelle faszinieren uns ja, weil sie Wohnung neu denken und gewandelte Bedürfnisse in den Blick nehmen. Manchmal muss sich das Denken grundsätzlich ändern: Laubengänge beispielsweise sind bei uns in Verruf geraten, weil sie immer nach Norden zu großen Straßen ausgerichtet sind. Wenn wir das nach Süden drehen, werden sie zu attraktiven Zonen, wo man zusammen sitzen kann.

Droht die Qualität angesichts der nötigen Quantitäten unter die Räder zu geraten?

Kinz: Die Gefahr ist eindeutig da. In den Auswertungen spielen nur die Zahlen, aber nicht die Qualitäten eine Rolle. Bezahlbarer Wohnraum mag kurzfristig das Wichtigste sein, greift mittelfristig aber zu kurz. Spätestens, wenn der Boom abflaut, werden wir feststellen, dass wir monotone Gebiete geschaffen haben.

Wie in Eidelstedt am Hörgensweg ...

Kinz: Zum Beispiel, aber nicht nur dort. Wir bauen derzeit sehr ähnliche, monotone Strukturen mit immer gleichen Wohnungstypen. Auch der Othmarschen-Park an der Autobahn 7 wird da häufig kritisiert – obwohl sich da manches durchaus sehen lassen kann.

Deshalb stehen auch die Architekten in der Kritik.

Kinz: Ja, das ist ein schnell gemachter und nicht immer fairer Vorwurf. Kürzlich hat Hans Kollhoff in der „Welt“ kritisiert, dass wir die Stadt, die wir lieben, nicht mehr bauen können. Ich bin etwas anderer Meinung: Wir dürfen die Stadt, die wir lieben, gar nicht mehr bauen. Unter der Voraussetzung, dass die Wohnungen bezahlbar sind, müssen wir Abstriche machen. Das Geld fließt in die Erfüllung diverser Auflagen, aber nicht mehr in einen differenzierten Städtebau, in eine Freianlagenplanung, in eine Fassadengestaltung, in eine Kleinteiligkeit. Wersparen muss, spart zuerst an der Bau­kultur.

Sie sprechen die Auflagen an bei Trittschallschutz, Schallschutz, Energieverordnungen. Da ist so viel Pflicht, dass für die Kür kein Geld mehr bleibt?

Kinz: Genau. Ich vergleiche das gern mit einem Setzkasten mit zwölf Feldern. Jeder Baustein kostet Geld, aber der Setzkasten ist schon voll, wenn wir nur die gesetzliche Auflagen erfüllen. Für jeden weiteren Stein – Städtebau, Architektur, Kleinteiligkeit, Fassadengestaltung oder auch individuelle Anpassungen, Bewohnerbeteiligung – ist dann kein Platz mehr. Deshalb benötigen wir einen flexibleren Rahmen.

Ob das die Leute erfreut, wenn sie hellhörige Wohnungen bekommen?

Kinz: Ich bin mir nicht sicher, dass es sie ärgert. Die Wohnungen der Gründerzeit sind besonders beliebt, obwohl man seine Nachbarn hört. Knarzende Dielenböden machen den Reiz aus. Dafür würden sie heute vor Gericht gezerrt. Warum diskutieren wir das nicht? Oder noch ein Beispiel: Heute werden alle Neubauten für Barrierefreiheit ausgelegt – das macht die Türen und Treppenhäuser größer und teurer, man verliert Wohnfläche und Effizienz.

Die Wohnungskäufer schielen aber eher auf den eigenen Vorteil – bei der Fassade oder der Grüngestaltung außen geht man eher Kompromisse ein, bei den Badezimmer-Armaturen oder dem Parkett innen nicht.

Kinz: Absolut richtig. Eine entscheidende Qualität von Architektur und Stadt besteht aber gerade in der Gestaltung des äußeren Raums. Die europäische gewachsene Stadt besteht aus Häusern, die sich sehr oft ähneln, die aber im Detail anders sind: Eine andere Farbgebung, andere Fassadendetails, andere Balkone. Das schafft Kleinteiligkeit und Körnigkeit. Heute sind unsere Häuser oft 30 Meter lang und dann kommt das nächste Haus – auf der Strecke von zwei solchen Häusern hat man in der Gründerzeit schon vier bis sechs unterschiedliche Häuser gebaut und eine andere Körnigkeit gewonnen.

Wie ließe sich das ändern?

Kinz: Interessant ist, dass private Bauherren oder Baugemeinschaften oft andere Prioritäten setzen. Wenn Menschen für sich selbst bauen, wägen sie anders ab – sie wollen beispielsweise einen begrünten Dachgarten. Bei einem Entwickler werden vor allem die Standards eingehalten. Wir wünschen uns als Architekten oft mehr Beinfreiheit, mehr Spielräume, um zu entscheiden, was in dem konkreten Projekt wichtig ist.

Das Thema Architektur und Städtebau wird zu einem Thema, das immer mehr Menschen bewegt. Woran liegt das?

Kinz: Architektur ist in – das zeigt nicht zuletzt die Elbphilharmonie. Über die sozialen Medien ist die Möglichkeit gewachsen, sich auszutauschen. Und die wachsende Stadt und die daraus resultierenden Fragestellungen wie Nachverdichtung bewegen die Menschen, wir rücken enger zusammen. Die Stadt verändert sich. Aber die meisten anderen Städte wie Berlin oder Wien sind viel dichter bebaut.

Der am dichtesten besiedelte Stadtteil der Stadt ist Hoheluft-West – zugleich gehört er zu den besonders attraktiven Vierteln ...

Kinz: Man geht genau dahin, weil es diese Dichte gibt, Gaststätten, Kneipen, Nachbarschaften. Wie demokratisch darf Architektur sein? Wir brauchen den Diskurs, wir brauchen die offene Debatte – wir brauchen aber auch Institutionen und Personen, die Entscheidungen fällen. Aber der Diskurs muss am Ende eine Entscheidung akzeptieren – auch wenn die anders ausfällt, als man es selber gerne hätte.

Im Sommer wird Hamburg mit dem Bauforum die Magistralenentwicklung diskutieren. Bieten sich hier Räume zur Neuent­deckung von Stadt?

Kinz: Hamburg versteht sich gern als eine schöne und lebenswerte Stadt. Viele Magistralen passen mit ihren ausgefransten und nicht gefassten Rändern kaum in dieses Bild. Das ist unbefriedigend und sollte Anspruch sein, Dinge anders zu gestalten. Hier schlummern beträchtliche Entwicklungspotenziale auch für die Bebauung. Zugleich sollte man auch die Grünräume und Freiflächen mitdenken – Hamburg ist eine grüne Stadt und muss es bleiben.

Wir stehen am Ende einer Ära, der Ära der autogerechten Stadt. Liegt darin nicht eine Chance für die Metropolen?

Kinz: Ja, auf jeden Fall. Die von uns geliebten Stadtteile entwickelten sich ja zu einer Zeit, als es das Auto noch nicht gab. Mit dem Auto hat sich viel verändert, nicht nur in diesen Vierteln, sondern in einer autogerechten Entwicklung der Stadt. Nun bekommt der Städtebau die Chance, Quartiere neu zu entwickeln. Brauchen wir zwangsläufig noch so viele Straßen, oder können wir Häuserzeilen dichter zusammenschieben? Zugleich sollten die Erwartungen aber nicht zu hoch werden: Wenn sich der Fahrradverkehrweiter so entwickelt, wird er auch ei-gene Brücken und breite Straßen benö­tigen.

Wird es den Städtebau verändern? Der dänische Städteplaner Jan Gehl hat kritisiert, dass das Auto die Sichtweise auf Stadt verändert hat, weil wir diese nur mit einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde aus der Windschutzscheibe wahrnehmen und nicht mehr im Fußgängertempo. Wenn die Häuser vorbeifliegen, spielen Fassaden keine Rolle mehr ...

Kinz: Ja, die Stadt wird sich verändern müssen, die Maßstäbe müssen wieder menschlicher werden. Die Frage ist nur, ob sie das tun. Derzeit streben wir ja nach seriellen, großen Bauten. Das ist nicht ungefährlich.