Hamburg. 80-Jährige schleudert in Wellingsbütteler Geschäft. Rechtsmediziner: Unfallverursacher ungeeignet fürs Autofahren.
Es ist schon der dritte Unfall innerhalb kurzer Zeit, bei dem ein betagter Fahrer mit seinem Wagen in ein Hamburger Geschäft rast: Am Sonnabend verlor eine 80-Jährige in Wellingsbüttel die Kontrolle über ihren Wagen, der Opel geriet ins Schleudern und rauschte in ein Elektrofachgeschäft. Die Seniorin kam in ein Krankenhaus. Vor vier Wochen war ein 85-Jähriger mit seinem Mercedes in ein Kaufhaus im AEZ gefahren. Und erst am vergangenen Montag landete eine 83-Jährige beim Einparken in einem Laden an der Waitzstraße in Groß Flottbek.
In der schicken Einkaufsstraße war es der 20. Unfall dieser Art. Auch eine erst vor Monaten abgeschlossene aufwendige Umgestaltung mit dem Ziel, dass solche Einparkunfälle nicht mehr geschehen, hatte den erneuten Crash nicht verhindern können. Zuletzt hatte es im März an der Waitzstraße gekracht, als eine 81-Jährige mit ihrem Mercedes in einen Friseursalon fuhr.
Ungeeignet fürs Autofahren
Immer wieder wird über Senioren und ihre Fahrtüchtigkeit diskutiert. Die ungewöhnliche Häufung von Crashs, bei denen ältere Fahrer mit ihren Autos ausgerechnet an der Waitzstraße in den Geschäften landen, war für die Hamburger Rechtsmedizin Anlass, einzelne Unfälle genauer zu beleuchten. „Wir haben die Akten zu mehreren Fällen eingesehen und auch einzelne der betagten Unfallverursacher selber untersucht“, sagt Klaus Püschel, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am UKE. „Bei der Mehrzahl der Männer und Frauen stellte sich heraus, dass sie ungeeignet fürs Autofahren waren.“ Die Gründe dafür waren unterschiedlich: nachlassende Sehfähigkeit, andere körperliche Gebrechen wie Herzerkrankungen oder demenzielle Entwicklung.
Im Zuge des demografischen Wandels mit einem zunehmenden Anteil der hochbetagten Bevölkerung bekomme das Thema „Alter und Autofahren“ eine größere Bedeutung, erklärt der Rechtsmediziner. „Für ältere und alte Menschen bedeutet die Mobilität mit dem Auto eine enorme Lebensqualität. Man könnte beinah sagen, dass für manche Verkehrsteilnehmer im Herbst ihres Lebens ihr Führerschein wichtiger ist als der Trauschein.
Alle waren in ärztlicher Behandlung
Andererseits nehmen manche Menschen im hohen Alter nicht ausreichend wahr, dass ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten nachlassen.“ Bemerkenswert bei der Auswertung der Crashs an der Waitzstraße sei auch gewesen, so Püschel, „dass alle diese Senioren in qualifizierter ärztlicher Behandlung waren, die Mediziner aber offenbar die Probleme mit ihren Patienten nicht ausreichend besprochen haben“. Hier sieht der Rechtsmediziner eine Verantwortung der Ärzte. „Das wird auch regelmäßig in der Fachliteratur thematisiert. Die Mediziner erkennen frühzeitig, ob ihre Patienten noch fit genug sind. Ärzte gelten für viele Senioren als Autoritätspersonen.“
Eine Verantwortung haben nach Überzeugung Püschels auch die Angehörigen, „die sehenden Auges mitbekommen, wie ältere Menschen Probleme im Straßenverkehr entwickeln“. Generell gilt nach Erfahrung des Rechtsmediziners, dass es bei Senioren häufiger zu Unfällen beispielsweise in Parkhäusern, beim Abbiegen oder eben beim Einparken kommt, weil Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen mit dem Alter nachlassen. „Das führt dazu, dass diese Autofahrer Schwierigkeiten haben, schnell zu reagieren und Fehler zu korrigieren. Den Fuß schnell vom Gas zu nehmen, geht dann oft nicht mehr.“
Sie bringen großes Unglück über Familien
Dabei sind die Unfälle an der Waitzstraße mit Autos, die in den Geschäften landeten, noch verhältnismäßig glimpflich ausgegangen, meist mit Sachschaden. „Vergleichbare andere Unfälle haben schon Todesopfer gefordert“, sagt Püschel. „In Bremervörde beispielsweise rauschte eine betagte Frau mit ihrem Wagen in einen Eisladen und fuhr einen Mann und ein Kind tot.“ Und in Hamburg am Hauptbahnhof überfuhr ein Senior beim Ausparken seines Wagens einen Vierjährigen. Das Kind starb, weitere Menschen wurden schwer verletzt. Es erfasse ihn „immer wieder ein gewisses Schaudern“, so der Rechtsmediziner, „wenn ich mitbekomme, dass Menschen mit großer Lebensleistung im Zusammenhang mit altersbedingtem Abbau uneinsichtig werden und schwere Verkehrsunfälle verursachen und dabei unter Umständen den Tod eines anderen Menschen verschulden. Sie bringen dabei großes Unglück über die Familie des Opfers, rufen auch für sich selbst eine tief depressive Endstimmung hervor.“
Er setze sich für freiwillige Selbstkontrollen ein, bei denen alte Menschen bewusst selbstbestimmt Fahrunterricht nehmen, betont Püschel. „Und im Einzelfall muss man freiwillig den Führerschein abgeben, weil es nicht mehr geht.“ Er verweist auf unterschiedliche Initiativen, Alte bei der Entscheidung über die eigene Fahreignung zu unterstützen, zum Beispiel vom ADAC und durch Fahrschulen. Püschel: „Man kann auch durch gezieltes körperliches und mentales Training bei manchen die Verkehrseignung noch verbessern.“
Vor rasenden Rentnerinnen in Sicherheit bringen
Unterdessen gibt es aktuell in der von den Senioren-Unfällen arg betroffenen Waitzstraße nach dem Crash vom vergangenen Montag vor allem ein Thema: die Sperrung der Schrägparkplätze auf der Nordseite und die Überprüfung der Parksituation vor Ort. Von heute an wird das Einparken nach dem bisherigen Schema verboten. In der „Waitze“ sieht man Menschen über die Unfälle diskutieren und immer wieder Kopfschütteln. „Gerade waren die hier endlich fertig mit allem, nun müssen wir uns vor rasenden Rentnerinnen in Sicherheit bringen“, sagt ein Mann.
Der Sarkasmus ist nicht unberechtigt. Erst im Dezember war die neue „Waitze“ nach rund 18-monatigen Umbauarbeiten und Investitionen von rund zwei Millionen Euro eingeweiht worden. Crashs wie in der Vergangenheit sollten damit ausgeschlossen sein. Eine Verkäuferin sagt über den Unfall: „Es ist ein Wunder, dass es keine Verletzten oder sogar Tote gab. Darüber müssen wir alle froh und glücklich sein.“